Schweitzer Fachinformationen
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König Ludwig II. saß auf Schloss Neuschwanstein in einem seiner thronähnlichen Sessel und blickte aus dem geöffneten Fenster. Der Himmel war bewölkt, die Stimmung des Monarchen arg getrübt durch Enttäuschung, Schwermut und körperliche Beschwerden. Er war vierzig Jahre alt und litt an Kopf-, Zahn- und Gliederschmerzen. Er hatte immer davon geträumt, der Menschheit mehr Pracht, mehr Schönheit, mehr Freude zu schenken, seinem Volke zu zeigen, dass nicht Zank und Krieg, sondern Musik und Anmut die Herzen glücklich machen. Doch seine Liebe zur Kunst und seine Neigung zur Schaffung wundervoller Bauwerke wurde ihm in letzter Zeit immer öfter vorgeworfen, man beschuldigte ihn, Gelder zu verschwenden, lieber Schlösser bauen zu lassen, als sich an Völkerschlachten zu beteiligen.
Durch ein lautes Klopfen wurde er aufgeschreckt. Er blickte auf die Standuhr. Es war gerade einmal kurz vor elf Uhr abends. Er hatte angeordnet, nicht gestört werden zu wollen. Ludwig sprang auf.
»Wer wagt es?«, rief er laut und erzürnt und spürte dabei die Falte zwischen seinen Augen. Zaghaft wurde die Türe zu seinem Gemach geöffnet, sein junger Kammerdiener Rutz kam in gebeugter Haltung herein, so wie es sich gehörte, schließlich war es keinem Bediensteten gestattet, dem König ins Antlitz zu blicken.
»Eure Majestät«, sagte Rutz mit zurückhaltender Stimme, »ich bringe den gewünschten französischen Wein!« Unter wiederholten Verbeugungen trug der Kammerdiener die silberne Karaffe mit den kunstvoll eingeprägten Schwänen zum Beistelltisch vor dem großen Fenster und stellte sie nebst einem glänzend polierten Kelch hin. »Ich ziehe mich zurück, Eure Majestät läuten, wenn wir das Souper servieren sollen.«
Ludwig starrte in die Luft. Natürlich, er hatte den Wein völlig vergessen. Rutz stand erst wenige Wochen in den Diensten des Königs, verschiedene Rituale waren ihm noch nicht vertraut. Dafür machte er seine Arbeit aber bereits sehr gut, befand der König.
»Ich möchte erst in ein paar Stunden speisen, entferne er sich und sorge er für ungestörte Ruhe!«
Sich hündisch verneigend, zog sich Rutz zurück, den Blick gewissenhaft auf den Boden gerichtet. Als er fort war, spürte Ludwig für wenige Sekunden Frieden. Er versuchte, ruhig zu atmen. Was war nur geschehen? Wo waren die Jahre hingegangen? Er fühlte sich träge, so träge. Schleppenden Fußes trottete er vor den mächtigen Spiegel, dessen Geheimnis nur er kannte. Er sah sich an. Es war ein schauerlicher Anblick. Seine Augen waren glasig, das Gesicht aufgedunsen, sein Körper ebenso. Der Bart wucherte wild, er ließ ihn selten zurechtschneiden. Ludwig war erstaunt, was für einen verwahrlosten Eindruck er machte - bis auf sein Haupthaar, das wie in jungen Jahren äußerst gepflegt, geschmeidig, glänzend und schön frisiert war. Er überlegte, warum er darauf solchen Wert legte. Vielleicht war, so schlussfolgerte er, seine Frisur das letzte Anzeichen seiner königlichen Erscheinung und Würde, was ihm im Übrigen mittlerweile gleichgültig war. Er traf außer seiner Dienerschaft und in seltenen Fällen Ministern keine Menschenseele. Und sowohl den Dienern als auch den Ministern misstraute er. Es ging ihm fürwahr schlecht, sein gesamtes gegenwärtiges Leben fand in der Flucht aus dem realen Dasein und in der Vermeidung aller weltlichen Wirklichkeiten mit ihren Anforderungen zugunsten einer imaginären und in den Augen des Königs besseren Welt statt. Gesellschaftliche Etikette und bürgerliche Vorstellungen waren ihm ein Gräuel. In seinem Kopf hörte er die imaginären Klänge von Parsifal.
»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Edelste im Land?«, fragte er sein Spiegelbild. Nun folgte einer der seltenen Momente, in denen er kichern musste, weil ihm bewusst war, dass ihn Außenstehende für einen Verrückten halten mussten, wenn er mit einem Spiegel sprach. Aber für ihn hatte das Zwiegespräch mit dem Spiegel deutlich höheren Realitätsgehalt als ein Pferderennen oder andere Ablenkungen, denen gewöhnliche Menschen frönen mochten. Er kniff die Augen zusammen, öffnete sie erst nach gefühlten drei Minuten wieder, als er den Eindruck hatte, das Gleichgewicht zu verlieren. Durch das lange Schließen der Augen sah er zunächst etwas verschwommen, dann deutlicher. Der gewünschte Effekt war eingetreten. Sein Spiegelbild zeigte nicht mehr den gebeugten, geplagten alten König mit dem wuchernden Bart, sondern den jungen, schönen König Ludwig, der er einst war. Funkelnde Augen, das Gesicht fein glatt rasiert, sein ausdrucksvoller Mund war von einer vornehmen Röte, seine Haltung edel und voller Tatendrang.
»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Edelste im Land?«, fragte er erneut.
»Oh König, im Innersten, da seid es Ihr. Doch draußen, da lauert Missgunst und Gier.«
»Ich weiß«, bekannte er. »Doch ich kann nicht mehr hinaus in die Welt. Menschen sind mir in zunehmendem Maß zuwider, ich lebe lieber hier in meiner eigenen Wirklichkeit, suche kleine Freuden durch den gesteigerten Verzehr edler Speisen und trinke über die Maßen Alkohol. Leider stellt sich selten der gewünschte Rausch ein, vielmehr verstärken die geistreichen Getränke meine Melancholie und die düsteren Gedanken.«
»Wie wäre es wieder einmal mit einem erfrischenden Bad im Bergsee? Klares Quellwasser vertreibt Trübsinn.«
»Ich bin im Augenblick voller Apathie, finde kaum Schlaf, und meine Gewohnheiten bezüglich Tag und Nacht haben sich genau umgekehrt. Ich gehe in den frühen Morgenstunden zu Bett, schlafe bis in den Nachmittag - sofern ich einschlafen kann -, stehe dann auf, nehme heiße Bäder, kleide mich an und pflege am zeitigen Abend zu frühstücken. Im Anschluss tüftle ich an Bauplänen, lasse mir in besonderen Momenten Musik vorspielen oder Literatur vortragen.«
»Wie ergeht es Eurem Bruder?«, erkundigte sich der junge Ludwig im Spiegel.
Mit dieser Frage hatte der König nicht gerechnet. Wie ein Blitz durchzuckte es seinen Körper.
»Ich liebe meinen Bruder Otto«, hauchte er sehr leise. »Er war noch nie ein einfacher Mensch, und nach einem schrecklichen Kriegserlebnis wurde er traumatisiert. Seither ist er in einem geistig dramatischen Zustand und in einer entsprechenden medizinischen Einrichtung untergebracht.«
»Habt Ihr Angst, selbst geisteskrank zu werden?«
»In manchen Augenblicken habe ich diese Angst, ja. Du kennst mich besser als jeder andere, du weißt, ich bin kapriziös und eigenwillig, jedoch habe ich niemals Anzeichen von Geisteskrankheit aufgewiesen.«
Das Spiegelbild blickte sein Gegenüber gütig an.
»Eure Minister«, warnte es, »würden Eurer Majestät liebend gern eine psychische Störung unterstellen. Ein kranker König kann nicht regieren und auch keine Staatsgelder mehr für Schlösser ausgeben. Gewiss munkeln auch Stammtische in den Wirtshäusern, es könne etwas nicht stimmen mit ihrem bausüchtigen König, der gerne mutterseelenallein in der Oper sitzt und sich Werke von Richard Wagner vorspielen lässt.«
Ludwig war schlau und hatte ein ausgeprägtes Gespür, so ahnte er längst, was die Menschen über ihn mutmaßen mochten und wusste, dass sein Spiegelbild die Wahrheit sprach.
»Ist meine Zeit vorbei?«, fragte der König heiser.
»Ihr wisst, dass ich nicht prophezeien kann, Eure Majestät.«
»Natürlich, bitte verzeiht. Ich bedanke mich für die Unterhaltung.«
»Stets zu Diensten«, sprach das Spiegelbild, verschwamm im nächsten Moment und wich dem realen Bild des gealterten Ludwig. Dieser atmete schwer und wusste, dass es nach ihm gewiss nicht besser werde. Würde er nicht mehr sein, er, der den Frieden und die Schönheiten für alle Menschen begehrte und keinesfalls Twist und Kampf, würde sein Nachfolger den alten menschlichen Drang nach Macht, Griff zu den Waffen, auch unter Brüdern, Gemetzel, Zerstörung, Tod, all dem, was ihm sein Leben lang zuwider war, was er stets verhindern wollte, neuen Raum geben? Er hatte Tränen in den Augen.
Vor den Toren krähte ein Rabenpaar im Kastanienbaum. Ludwig stand auf, ging zum Fenster und richtete die Augen zum Himmel.
»Dies ist ein schlimmes Vorzeichen«, sagte er. »In den Häusern Wittelsbach und Habsburg bedeuten Krähen und Raben Unheil.«
Er brauchte nun etwas, das ihn aufheiterte, so schleppte er sich zum Bücherregal und nahm das von ihm hochgeschätzte Werk Phantasien über die Kunst von Wilhelm Heinrich Wackenroder heraus, ein Buch, aus dem er beinahe auswendig zitieren konnte. Er schlug es auf und las die Worte des Romantikers Wackenroder: Wohl dem, der, wann der irdische Boden untreu unter seinen Füßen wankt, mit heitern Sinnen auf luftige Töne sich retten kann«, ruft der weltflüchtige Musiker aus. Die Klänge der Musik machen unabhängig von der Welt.
Ludwig schloss die Augen. Er dachte an Schwäne, an Seen, an stolze Rösser, an erhabene Bauwerke und Statuen anmutiger Menschen. Dann las er weiter: Die Musik hat das Schönste der Naturtöne gesammelt und veredelt, sie hat sich Instrumente gebaut, aus Metall und Holz, und der Mensch kann nun willkürlich eine Schar von singenden Geistern erregen, sooft er will; die Kunst beherrscht das große, wunderbare Gebiet. Die wollüstige Phantasie hofft, einst einen noch höheren überirdischen Gesang der Sphären anzutreffen, gegen den alle hiesige Kunst roh und unbeholfen ist. Der König seufzte, erhob sich, ging hinüber zum Beistelltisch, griff sich ein paar Weintrauben, schenkte sich aus der großen silbernen Karaffe seinen Kelch voll und leerte ihn in einem Zug.
Diesen Vorgang wiederholte er zwei weitere Male, wobei er beim dritten Leeren des...
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