Schweitzer Fachinformationen
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1.
Eine Woche später
Es war dunkel geworden, bevor es hell wurde.
Den ganzen Tag über hatte ein nasser, dichter Nebel über der ganzen Stadt gehangen. Er war in seine Haare gekrochen, seine Jacke, seinen Kopf. Dort, wo es sowieso schon grau war und nie wieder hell werden würde. Dort, wo die Schuld wohnte. Seit mehr als einem Jahr.
Tammo Berg saß in seinem Wohnzimmer in dem alten Ledersessel, in dem schon sein Vater gesessen hatte, und sah aus dem Fenster. In den Altbauwohnungen im Haus gegenüber brannte Licht. In seiner eigenen Wohnung nicht. Wozu auch? Die Bilder von Lenny, die im Regal standen, von Weihnachten, von ihren Urlauben in Schweden, von seinem vierten Geburtstag, seinem letzten, sah er auch so. Wenn er die Augen schloss, wenn er sie öffnete, wenn er im Dunkeln saß. So wie jetzt.
Der Herbst war in diesem Jahr spät gekommen. Bis Ende September war es so warm gewesen, dass man auf dem Balkon zu Abend hätte essen können. Die Leute hatten auf den Stühlen der Bistros, die auf den Fußgängerwegen standen, bis spät in die Nacht gesessen, etwas getrunken und gelacht.
Letztes Jahr war der Herbst früher gekommen. Es war kalt gewesen an diesem verregneten Montagmorgen, Anfang Oktober, der ihm alles genommen hatte. Die Blätter hatten wie eine braun-rötliche, nasse Decke auf dem Weg gelegen. Und dort, wo der Wagen des Mannes hätte halten sollen. Wo er nicht gehalten hatte - trotz des Stopp-Schildes. Dort, wo alles innerhalb von Sekunden vorbei gewesen war.
Der Mann hatte auf sein Handy geschaut. Nicht auf die Straße. Er hatte das Schild nicht gesehen. Und auch nicht den Wagen, in dem Tammo mit Lenny gesessen hatte, der nicht angeschnallt gewesen war.
Die Klingel der Wohnungstür riss ihn aus seinen Erinnerungen. Doch er rührte sich nicht.
Es klingelte erneut. »Tammo, mach auf. Ich weiß, du bist da. Also komm, mach schon auf!«
Jens, sein Chef. Tammo fragte sich, wie er ins Treppenhaus gekommen war. Hatte die Neue aus dem Zweiten wieder die Tür offen stehen lassen?
Es klingelte noch einmal. Dann ein energisches Klopfen. Tammo überlegte, die Audioprozessoren seiner Hörprothesen abzunehmen, um es nicht mehr hören zu müssen. Kein Klopfen, kein Atemgeräusch, keine Vögel draußen, kein Leben drinnen. Einfach alles abstellen.
Er wusste, was Jens ihm sagen wollte. Das, was er jedes Mal sagte, wenn er herkam. Er solle zurückkommen. Er wäre der Beste. Sein Stuhl würde leer bleiben, bis er wiederkäme.
So leer wie Lennys Bett, dachte Tammo.
Es war seine Schuld. Er hatte es eilig gehabt an diesem Morgen. Lena hatte sich schlecht gefühlt und war nicht aus dem Bett gekommen. Irgendein Infekt, hatte sie gemeint. Tammo hatte angeboten, Lenny in den Kindergarten zu fahren, obwohl er wusste, dass er dann vermutlich zu spät kommen würde. Dabei sollte er ausgerechnet an diesem Tag auf alle Fälle pünktlich sein, um das Schießtraining zu absolvieren, das er schon vor Wochen hätte machen müssen. Jens hatte ihn immer wieder darauf hingewiesen.
Es klopfte erneut. Diesmal stärker.
Tammo holte tief Luft und stand auf. Langsam ging er zur Haustür, drehte den Schlüsselbund zweimal nach links und öffnete sie.
Jens lächelte ihn erleichtert an. Wasser tropfte ihm von seinen Haaren ins Gesicht, über seine Brillengläser. »Hey!«
»Hallo.«
»Ich dachte schon, du hast wieder deine Empfänger abgenommen«, meinte Jens und zwinkerte Tammo zu. Er war der Einzige, der Tammos Audioprozessoren, die Teil seiner Cochlea-Implantate waren, welche sich hinter seinen Ohren unter der Haut befanden, so nannte: Empfänger.
Jens ging einen Schritt auf ihn zu, nahm ihn kurz zur Begrüßung in den Arm, klopfte ihm auf den Rücken, so, wie sie es immer machten.
Die gleiche Umarmung, das gleiche Klopfen, und doch war es anders. Es fühlte sich seit Lennys Tod wie ein Aufmuntern an, als wollte Jens ihm sagen: Du schaffst das! Nicht aufgeben! Aber vielleicht bildete Tammo sich das auch nur ein.
Er nahm seine freie Hand und erwiderte die Begrüßung.
»Hast du einen Moment? Ich wollte dir etwas zeigen«, fragte Jens.
Tammo machte einen Schritt zur Seite. »Komm rein!«
Jens trat in den dunklen Flur und blieb stehen. Wasser tropfte ihm von der Hose auf den Boden und hinterließ kleine Pfützen. Offenbar hatte er keinen Parkplatz direkt vorm Haus gefunden.
»Wollen wir nicht . das Licht anmachen?«, fragte er, während er die pitschnassen Schuhe abstreifte.
Tammo ging vor ins Wohnzimmer und drückte auf den Schalter an der Wand. Dann ging er weiter, durch den großen Raum und setzte sich wieder zurück in seinen Ledersessel.
Jens öffnete den Reißverschluss seines nassen Parka, zog eine Mappe raus und legte sie auf den Couchtisch neben das kleine schwarze Notizbuch, auf dem sich der Staub sammelte. Sein Notizbuch, ohne das er früher nie aus der Wohnung gegangen war. In dem er immer alles festgehalten hatte, als Zeichnungen und Notizen: feine schwarze Linien auf beigem Papier.
Jens zog seinen Parka aus, hängte ihn über die Türklinke, trocknete seine Brille an seinem Sweatshirt, setzte sich und sah ihn nachdenklich an.
Einen kurzen Moment erinnerte Tammo die Situation an die Zeit, als sie noch zusammengearbeitet hatten.
Er hatte unzählige Verhöre mit Menschen geführt, die nicht sprechen wollten. Das waren die Situationen, in denen er geholt wurde. Er sah, was andere nicht erkannten. Das war der Grund, warum Jens ihn brauchte: Er brachte Schweigende zum Reden.
Jetzt war er es, der nicht reden wollte. Warum auch? Was gab es schon zu reden? Nichts.
»Wir haben ein Problem«, erklärte Jens nun und beugte sich vor. »Vielleicht hast du es schon gelesen. In einem Waldstück am Stadtrand wurde eine Frauenleiche entdeckt. Eine weitere Frau aus der Umgebung wird vermisst. Aber das ist noch nicht alles. Ich glaube, dass es eine Verbindung zu einem alten Fall gibt.« Er hatte seine Ellenbogen auf den Knien abgestützt und sah Tammo erwartungsvoll an.
Er war offenbar davon ausgegangen, dass Tammo darauf anspringen würde. So hatte er es sich bestimmt auf dem Weg vom Revier hierher vorgestellt. Während er sich ganz sicher im Auto einen Burger reingestopft hatte, weil er es wieder den ganzen Tag nicht geschafft hatte, irgendetwas zu essen.
Mit dem Ärmel seines Sweatshirts fuhr Jens sich über das Gesicht.
Tammo blickte ihn ausdruckslos an. Was wollte er? Einen depressiven Mann, der um seinen toten Sohn trauerte, mit einem neuen Fall ablenken?
Darauf konnte auch nur Jens kommen. Er war einfach noch nie gut in solchen Sachen gewesen, in Gefühlsdingen. Möglicherweise war das auch der Grund dafür, dass er mit Ende vierzig noch Single war. Vielleicht war es ganz gut, dass er es bisher nicht geschafft hatte, dass eine Frau länger als ein paar Nächte bei ihm geblieben war. Diesen Verlust konnte er abends locker mit ein paar Bier wegtrinken, dachte Tammo.
Sein eigener Verlust ließ sich nicht wegtrinken. Er hatte es mehrfach versucht.
Jens wartete noch einen Augenblick, dann stand er auf. »Okay, ich glaube, das war keine gute Idee. Ich dachte, ich .«
»Warum ist es nur ein Problem?«, fragte Tammo, während er aus dem Fenster sah.
Jens hielt kurz in der Bewegung inne, dann setzte er sich wieder. »Wie .?«
»Eine Tote, eine Vermisste und eine Verbindung zu einem alten Fall«, zählte Tammo auf und sah Jens jetzt flüchtig an.
»Ach, so. Ja, also, der Fundort der Toten und der Wohnort der Vermissten liegen nur ein paar Kilometer voneinander entfernt. Und es gibt noch etwas. Sie sehen sich verdammt ähnlich. Sarah ist es zuerst aufgefallen. Sie hat ja einen Blick für so was. Aber jetzt kommt es: Sie sehen Sabine Wendlich ähnlich«, Jens machte eine Pause, »unserer Vermissten. Rissen ist zwar ganz am anderen Ende der Stadt, aber es kann trotzdem sein, dass es da eine Verbindung gibt.«
Unsere Vermisste, dachte Tammo.
Seine Vermisste hatte einen anderen Namen. Lena. Er sah auf seine Hand und den Ring. Wie lange war es jetzt her, dass sie gegangen war? Zwölf Wochen? Oder mehr? Tammo schloss die Augen.
Es hatte an dem Tag geregnet, so wie jetzt, und er hatte nichts getan, nur aus dem Fenster gesehen, bis er irgendwann gehört hatte, wie die Tür ins Schloss fiel.
Er sah Lena vor sich, wie sie ihn angesehen hatte. Dieser andere Blick. Sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten - ihn, sein Schweigen, seine Schuld.
Es war damals alles so schnell gegangen, vor ein paar Jahren. Die neue Wohnung, Lenas Übelkeit, der Schwangerschaftstest, Lennys Geburt.
Der Unfall.
Jens nahm die Mappe und schlug sie vor sich auf dem Couchtisch auf. »Die Tote lebte in Kiel. Merle Jansen, 28 Jahre alt, vor drei Wochen von ihren Eltern als vermisst gemeldet worden. Sie hat zwar nicht mehr bei ihnen gewohnt, kam aber regelmäßig sonntags zum Brunch nach Hause. So 'ne Art Tradition. Als sie nicht erschien und auch nicht mehr ans Telefon ging,...
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