Schweitzer Fachinformationen
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Als sie anhielt, um den jungen Mann mitzunehmen, der an der Autobahnraststätte stand und seinen Daumen in den Wind hielt, konnte sie nicht ahnen, daß er ihren Wagen stehlen wollte. Und wenn er nur einen Schimmer von dem gehabt hätte, was ihm blühte, wäre er wohl niemals eingestiegen.
In der Dunkelheit konnte er die Farbe des Wagens nicht richtig ausmachen. Er war entweder dunkelblau oder schwarz. Ein Mercedes war es, das registrierte er, und mehr wollte er eigentlich nicht wissen. Er warf seine Gitarre auf den Rücksitz, ließ sich selbstgefällig in die Polster sinken und sagte: »N' abend. Ich dachte schon, ich käme heute nicht mehr weg.«
Die Wagentür fiel schwer ins Schloß. Ohne ein weiteres Wort startete sie durch. Sie fragte ihn nicht, wohin er wollte, und er fragte sie nicht nach ihrem Ziel.
Eine Weile schwiegen sie. Die Scheibenwischer schafften den Regen kaum. Die Schmalzmusik des Nachtprogramms ging ihm auf die Nerven. Am liebsten hätte er das Radio einfach abgedreht oder einen anderen Sender gesucht, doch er wollte nicht riskieren, gleich wieder rausgeschmissen zu werden.
»Darf ich rauchen?« fragte er.
Sie nickte stumm. Er fischte sich den Tabakbeutel aus dem Parka und begann, sich eine Zigarette zu drehen.
Sie griff vor sich auf die Ablage und bot ihm eine Filterzigarette an. »Danke,« sagte er, »die sind mir zu leicht. Ich drehe lieber selbst.«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und sah, wie seine Zunge das Papier befeuchtete. Für sein Alter hatte er einen merkwürdig korrekten Haarschnitt. Sie konzentrierte sich wieder auf die regennasse Fahrbahn und dachte an ihre Söhne und den monatlichen Kampf um den Gang zum Friseur.
Er riß ein Streichholz an und betrachtete für den Bruchteil einer Sekunde die Frau, die ihn mitgenommen hatte. Er schätzte sie auf gut vierzig. Sie hatte schulterlange dunkelblonde Haare und trug eine Brille. Er schlug die Beine übereinander und inhalierte den Rauch der Zigarette mit völliger Konzentration.
»Bitte schnallen Sie sich an,« sagte sie.
Tonlos kam er ihrem Wunsch nach.
Trotz des Regens fuhr die Frau hundertfünfzig bis hundertsechzig. Er fragte sich, ob sie es so eilig hatte oder ob sie ihm nur imponieren wollte. Die Autouhr zeigte kurz vor zehn.
Nachdem der junge Mann seine Zigarette aufgeraucht hatte, löste er den Sicherheitsgurt noch einmal, um sich von seinem nassen Parka zu befreien. Er legte ihn auf den Rücksitz und schnallte sich wieder an.
Ein auf der linken Spur langsam fahrender Opel zwang die Frau abzubremsen und runterzuschalten. Dabei rutschte ihr Kleid über die Knie und gab einen Blick auf ihre Oberschenkel frei. Ungeniert sah der junge Mann hin. Die Mädchen seiner, der Jeansgeneration hatten so etwas nicht mehr zu bieten: Röcke, die verrutschten und Beine, die in Nylons gezwängt waren.
Als sie merkte, was passiert war, glättete sie ihr Kleid mit einer flüchtigen Bewegung, steuerte den Wagen auf die rechte Spur und fuhr langsamer weiter.
Der junge Mann saß unbequem, weil da, wo andere Leute ihr Portemonnaie deponierten, ihn ein Klappmesser unangenehm drückte. Er sah keine Möglichkeit, es unauffällig aus der engen Hose zu ziehen und in den Parka zu stecken, also blieb er sitzen und nahm die Druckstelle in Kauf.
»Sie sind ganz schön naß geworden,« sagte sie.
»Hm. Ich stand auch schon ziemlich lange an der Raststätte. Wenn es regnet nimmt einen nicht gerne einer mit. Die Leute haben Angst, daß man ihnen die Autositze versaut.«
Sie fingerte eine Filterzigarette aus der Packung. Ihr Lippenstift färbte sofort auf dem Filter ab. Sie drückte den Zigarettenanzünder.
»Es ist ja auch nicht ganz ungefährlich, nachts fremde Leute in sein Auto zu lassen,« sagte sie. Der Zigarettenanzünder klickte. Sie zog ihn heraus. Die runde rote Glut beleuchtete nur die untere Partie ihres Gesichts. Sie hatte volle, kräftig geschwungene Lippen und ein ovales Kinn. Ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen, versuchte sie, den Anzünder wieder ins Loch zu schieben, doch sie ertastete die falsche Stelle und drückte den Zigarettenanzünder gegen das Armaturenbrett.
Er nahm ihr das Ding ab und steckte es richtig zurück. Dabei berührten sich ihre Finger. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück.
»Ich heiße Gisela,« sagte sie und ärgerte sich sofort. Was sollte dieser Schnösel mit ihrem Vornamen? Hoffentlich verstand er das nicht falsch. Vielleicht glaubte er, sich jetzt die Frechheit rausnehmen zu können, sie zu duzen.
»Ich heiß' Mick,« sagte er.
So tauft man seine Kinder nicht, dachte sie, das ist bestimmt nur sein Spitzname. Die Vertrauensseligkeiten fangen schon an. Der soll sich bloß nichts einbilden, nur weil ich ihn mitten in der Nacht mitnehme und ihm meinen Vornamen sage.
»Ich stand fast vier Stunden im Regen.«
Sie wollte ihn fragen, ob ihm noch kalt sei, aber sie wußte nicht, ob sie sagen sollte: Ist Ihnen noch kalt? oder Ist Dir noch kalt? Sie entschied sich für eine neutrale Lösung.
»Soll ich die Heizlüftung einschalten?«
»Ja, tu das!« sagte er und streckte die Beine genüßlich aus.
Da haben wir's schon. Er duzt mich natürlich. Sie mußte ihn wieder loswerden, das war klar.
»Vielleicht wollen Sie an der nächsten Raststätte einen Kaffee?« Da könnte sie ihn einfach stehen lassen und alleine weiterfahren.
»Wenn's dir nichts ausmacht. Ich hätte nichts gegen einen kleinen Imbiß.«
Der duzt mich frech weiter. Sie ärgerte sich. Dann ging sie zum Gegenangriff über: »Warum fährst du nicht mit dem Auto? Hast du kein Geld für einen Wagen oder keinen Führerschein?«
Statt zu antworten drehte er sich schon wieder eine Zigarette.
»Man kann ja auch mit der Bahn fahren,« setzte sie nach.
»Es geht auch anders, aber so geht es auch,« antwortete er so gleichgültig wie möglich.
»So einfach ist das also,« sagte sie.
Er rauchte stumm weiter und ließ dabei achtlos die Asche auf die Polster fallen. Das blaue Hinweisschild mit Messer und Gabel wies auf den nächsten Rasthof in 10 Kilometern hin. Sie gab wieder mehr Gas und lenkte den Wagen auf die linke Spur. Sie wollte die nächsten zehn Kilometer so rasch wie möglich hinter sich bringen.
Warme Luft strömte von unten in den Wagen. Der Regen ließ nach, und sie stellte die Scheibenwischer langsamer ein. Der Wagen lief ruhig und gleichmäßig wie ein Uhrwerk. Durch die im hinteren Teil des Fahrzeugs angebrachten Stereoboxen hörte man die Zehn-Uhr-Nachrichten. Irgendein Minister hatte irgendeine bedeutende Reise in ein Land angetreten, dessen Name afrikanisch klang, und war dort freundlich empfangen worden. Rechte oder linke Terroristen hatten in Italien eine Post hochgejagt. Der Urlaubsreiseverkehr blockierte die Straßen nach Süden. In Bayern fand eine Vereidigung von 756 Bundeswehrrekruten ohne Zwischenfälle statt. Ein Hoch über der Biskaya versprach angeblich eine Wetterbesserung.
»Jeden Tag erzählen die im Wetterbericht was über die Biscaya, aber ich kenne keinen, der mal da war. Die meisten wissen nicht mal, wo die Biscaya liegt. Und dann such erst mal einen, der Biscaya schreiben kann!« feixte er.
Stimmt, dachte sie. Ich weiß auch nicht, wo die Biskaya ist, doch ich habe den Namen mindestens schon tausendmal im Wetterbericht gehört.
»Wo liegt denn diese Biskaya?« fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern.
»Weiß ich doch nicht. Bin ich denn ein Lexikon?«
Sie kicherte, und er prustete plötzlich los: »Vielleicht gibt's die Biskaya gar nicht! Vielleicht ist das nur eine Erfindung der Wetterfrösche, weil irgendwer oder -was für die falschen Prognosen herhalten muß.«
Bei diesen Sätzen krümmte er sich fast vor Lachen über seinen eigenen Witz. Sie stieg voll auf diese Geschichte ein: »Vielleicht kann man das Wetter auch gar nicht voraussagen und alles ist nur ein riesiger Bluff!«
»Von untalentierten Schauspielern und einem genialen Drehbuchautor, der täglich eine neue Story erfindet, und dem doch nichts mehr einfällt.« Ihr Busen hüpfte beim Lachen auf und ab.
»Ein riesiger Bluff, und alle Welt glaubt daran! Die Leute planen ihren Urlaub und vor allen Dingen ihr Wochenendvergnügen danach. Sie werden ständig reingelegt und glauben doch daran, weil - ja warum eigentlich?« fragte sie kichernd und wollte ihm damit den Ball zuwerfen, um die Geschichte weiter auszubauen.
Merkwürdig trocken und ernst sagte er: »Weil sie noch vor kurzem an den hundertjährigen Kalender geglaubt haben, und weil sie jeden Scheiß glauben, den ihnen einer erzählt, wenn er im Fernsehn auftritt.« Spielverderber, dachte sie. Oder meinte der das etwa von Anfang an ernst?
Es wurde ihr zu warm. Sie schaltete die Heizlüftung aus.
Er überlegte, was der Wagen bringen würde. Er hatte eine Menge Extras, schien auffällig gut gepflegt zu sein und war seiner Schätzung nach höchstens zwei Jahre alt. Er warf einen Blick auf den Kilometerstand. 48562. Na bitte, das war nichts für so einen Wagen und würde keinen Käufer stören. Die Kiste war also fast neuwertig. Wer einen neuen Mercedes bestellte kam auf eine Warteliste und mußte lange Geduld haben. Das hieß, dieser Wagen würde den Neuwert bringen. Bliebe nur noch das Problem mit den Fahrzeugpapieren.
»Da wären wir,« sagte sie und lenkte den Wagen mit fast hundert Sachen auf den Parkplatz der Raststätte. Sie bremste ihn gekonnt aus.
Respekt, dachte Mick. Respekt. Er nahm den Parka vom Rücksitz und stieg aus. Entweder verreiste sie ohne Mantel, oder sie liebte es, naß zu werden.
Sie nahm nur ein Handtäschchen aus dem Auto. Es fiel ihr nicht auf, daß Mick den...
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