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Vernichtung oder Verwandlung
Die Wissenschaft hat festgestellt, dass nichts spurlos verschwinden kann. Die Natur kennt keine Vernichtung, nur Verwandlung. Alles, was Wissenschaft mich lehrte und noch lehrt, stärkt meinen Glauben an eine Fortdauer unserer gegenwärtigen Existenz über den Tod hinaus.
WERNHER VON BRAUN
Träume begleiten uns unser Leben lang und kommentieren jedes problematische Verhalten, um uns hilfreiche Angebote zur Veränderung zu unterbreiten. Daher enthalten sie meistens wichtige Aussagen zu den essenziellen Fragen des Lebens und Sterbens. Die endgültigen Abschiede, die wir nur schwer akzeptieren können, werden von unseren Träumen auf sehr unterschiedliche Art begleitet. Wir haben uns leider angewöhnt, den Tod zu verdrängen oder in Angst vor ihm zu leben. Manchmal führt es schon zu Irritationen, wenn man nur über den Tod sprechen will. Ignoranz gegenüber dem Tod ist aber gleichzeitig Ignoranz gegenüber dem Leben, denn beide gehören untrennbar zusammen.
Sogyal Rinpoche schreibt in seinem Buch "Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben": "Alle großen spirituellen Traditionen der Welt, das Christentum selbstverständlich eingeschlossen, haben uns erklärt, dass der Tod nicht das Ende ist. Alle haben die Vision eines wie auch immer gearteten Lebens danach, das unserem jetzigen Leben erst seine Bedeutung verleiht. Aber trotz dieser Lehren ist die moderne Zivilisation in weiten Teilen eine spirituelle Wüste - die Mehrheit glaubt, dieses Leben sei alles. Ohne einen wirklichen, authentischen Glauben an ein Leben danach führen die meisten Menschen ein Leben ohne jeden letzten Sinn." 7
Ich habe dieses Zitat bewusst an den Anfang meiner Ausführungen gestellt, weil meine Arbeit mit Träumen und besonders die mit Träumen von Menschen, die bewusst ihrem Tod entgegensehen, mich immer wieder mit dem Phänomen konfrontiert, dass das Unbewusste auch Zugang zu Ressourcen und Quellen hat, die ans Jenseitige anknüpfen. Niemand kann beweisen, dass es ein Leben nach dem Tode gibt, dennoch gibt es unzählige ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass beim Sterben etwas geschieht, was sich unserem bisherigen Kenntnisstand entzieht. Ich werde später näher darauf eingehen.
Der Tod ist ein endgültiger Abschied. Wenn wir aber die Schöpfung, wenn wir Gott als untrennbare Einheit, als ein Ganzes begreifen, dann kann nichts hinzugefügt oder weggenommen werden. Wer oder was sich hier verabschiedet, muss woanders wieder ankommen. Es ist, wie die bekannte Sterbeforscherin Elisabeth Kübler Ross sagt, das Sterben hier ein Geborenwerden woanders und umgekehrt.
In Arthur Schopenhauers Werk "Parerga und Paralipomena" gibt es einen Text mit der Überschrift: Zur Lehre der Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens durch den Tod. Darin heißt es: ".dem individuellen Dasein liegt ein ganz anderes, dessen Äußerung es ist, unter. Dieses kennt keine Zeit, also auch weder Fortdauer noch Untergang." 8 Und eine Seite weiter schreibt Schopenhauer: "Der Mensch ist etwas anderes als ein belebtes Nichts. Wer da meint, sein Dasein sei auf sein jetziges Leben beschränkt, hält sich für ein belebtes Nichts." 9
Schopenhauer hat sich auch überraschend deutlich zu dem Phänomen der Träume bekannt: "Die Träume für bloßes Gedankenspiel, bloße Phantasiebilder ausgeben zu wollen, zeugt von Mangel an Besinnung oder an Redlichkeit. . Unsere Darstellungsfähigkeit im Traum übertrifft die unserer Einbildungskraft himmelweit." 10
Solche Aussagen eines präzise denkenden Philosophen machen Mut in der Auseinandersetzung mit den ewigen Skeptikern und Zweiflern.
Mir haben die Träume von Bekannten oder Klienten, die sich mit dem Tod auseinandersetzen, immer wieder gezeigt, dass das Thema "Veränderung", bzw. "Verwandlung", uns ein Leben lang begleitet, und inzwischen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass nicht nur das Leben einer permanenten Veränderung unterzogen wird, sondern dass auch der Tod eine Veränderung im Sinne einer Transformation ist.
Ich habe in den fünfundzwanzig Jahren, in denen ich bewusst mit meinen Träumen arbeite, immer wieder erstaunt feststellen können, wie konstruktiv und hilfreich sie auf ein aktuelles Problem antworten.
Micha Ullmann, der israelische Künstler, der das Mahnmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung durch die Nazis auf dem Bebelplatz in Berlin entworfen hat, traf einmal folgende Äußerung: "Gräbt man ein Loch, erweitert man den Himmel." Vielleicht war die Aussage anders gemeint, aber besser kann man kaum ausdrücken, wie das "Ausgraben" unbewusster Anteile zur Erweiterung von Bewusstsein und klaren Erkenntnissen führen kann.
1986 erlitt ich einen Herzinfarkt, ohne dass ich vorher irgendwelche Symptome oder Warnsignale erkannt hätte. Nach einem Tennisspiel war ich zusammengebrochen. Ein Freund brachte mich nach Hause. In der Nacht wurden die Schmerzen so stark, dass ich einwilligte, einen Notarzt zu rufen. Meine Frau setzte sich an mein Bett, und ich war bereit zu sterben. Die Einweisung ins Krankenhaus rettete mein Leben. Danach hielt ich mich zur Rehabilitation in der Klinik "Lauterbacher Mühle "auf. Mein Wunsch war es, genau in diese Klinik zu kommen, weil ich wusste, dass dort die Therapeutin und Traumforscherin Ortrud Grön die Träume ihrer Klienten als Grundlage für ihre Therapie nutzte. Ich hatte auf der Intensivstation ein umfangreiches Traumtagebuch geführt und alle mir erreichbaren Bücher von C.G. Jung gelesen. Während meines Aufenthaltes in der Klinik erhielt ich durch den ersten Traum, den ich mit ihr erarbeitete, eine klare Antwort. Der Traum signalisierte mir unmissverständlich: "Es wird alles gut!" Das Bild, das der Traum mir schenkte, war ein Autounfall. Ich wurde aus dem Auto geschleudert, landete aber sanft neben der Straße, wie in einer Hängematte auf dem Bürgersteig. Seitdem sind fast dreißig Jahre vergangen - und ich bin bei bester Gesundheit.
Für mich wurde diese Krise zu einer Weichenstellung. Die Prioritäten in meinem Leben wurden andere. Das Streben nach beruflichem Erfolg stand nicht mehr an erster Stelle. Die Träume, die ich in der Therapie bearbeitete, öffneten meine Augen für das verborgene Potenzial an geistiger Entwicklung und Reifung. Das Dunkel des Unbewussten wandelte sich von einer Schreckens- zu einer Schatzkammer, die darauf gewartet hatte, entdeckt und geöffnet zu werden.
Doch das Schicksal hielt für meine Frau und mich eine weitere belastende Herausforderung bereit. Unsere Tochter erkrankte an Krebs. Alle eingeleiteten Maßnahmen kamen zu spät, denn Metastasen waren in ihrem Körper schon weit verbreitet. So kam es, dass unsere Tochter den Kampf gegen den Krebs verlor. Sie war damals erst dreißig Jahre alt und hatte mit ihrem Partner für dasselbe Jahr die Hochzeit geplant. In all den letzten Wochen, in denen sie nie resignierte, blieb sie immer dem Leben zugewandt.
Es gehört wohl zu den schmerzlichsten und brutalsten Einschnitten im Leben der Eltern, wenn ihr Kind stirbt. Es entstehen Wunden, die nur schwer, wenn überhaupt, verheilen. Dennoch erlebten wir es als großen Segen, alle am Sterbebett versammelt gewesen zu sein: Mutter, Vater, Bruder und der Lebenspartner, und wir waren ergriffen von der Würde, mit der sich ereignete, was unser aller Erfahrung übersteigt. Diese Stunden werden uns als etwas Unaussprechliches und Kostbares im Gedächtnis bleiben.
Da Vergänglichkeit des Lebens für uns gleichbedeutend ist mit Schmerz, wollen wir an dem, was uns wichtig ist, festhalten, obwohl alles einer ständigen Veränderung unterworfen ist. Leben zu lernen, heißt aber auch, dass man lernen muss, loslassen zu können. Unser Festhalten ist nicht nur vergeblich, sondern es beschert uns auch, im Angesicht des Unabwendbaren, genau die Verzweiflung, die den Schmerz noch größer macht.
Diese Erfahrungen mit dem Sterben und dem Tod unserer Tochter erlebe ich inzwischen als Auftrag, mich mit dem Thema der "Träume des Abschieds" intensiver zu beschäftigen. Ich verbinde das mit der Hoffnung, dass es Menschen gibt, die Trost und Kraft erhalten, wenn sie sehen, wie weise und liebevoll uns das Unbewusste auf den Schritt hinaus aus diesem Leben vorbereitet.
Die letzten Träume unserer Tochter schienen sie auf etwas einstimmen zu wollen, was nicht ein Ende, wohl aber eine Verwandlung meinte. Für mich ergab sich daraus die Überzeugung, dass es etwas in uns geben muss, das keinen Tod kennt, sondern nur Transformation.
Manchmal konfrontiert uns das Unbewusste aber auch mit Schreckensträumen, die noch lange nachwirkende Ängste schüren. Das kann immer dann geschehen, wenn sich das Bewusstsein zu weit vom eigentlichen Wesenskern entfernt hat, der immer auch die geistige, die spirituelle Dimension unseres Daseins einschließt. Dann schrillt in diesen Angst machenden Bildern die Alarmglocke, um uns wachzurütteln. Es sind unsere ungeliebten, ungelebten und verdrängten Anteile, die C.G. Jung die Schatten nennt, jene Anteile, die wir nicht wahrhaben wollen, die sich dann Zutritt in unsere Traumwelt und Psyche verschaffen. Erst wenn wir uns diesen Anteilen mit Achtsamkeit und spürendem Erkennen widmen, können wir sie in unsere Persönlichkeit integrieren. Aber auch alle diese Träume haben den Sinn und die Aufgabe, konstruktive Korrekturen an unserem Verhalten, unseren Einstellungen und unseren Gefühlen anzustoßen.
Für ein sinnvolles und bewusstes Leben kommt es darauf an, sich den inneren Gegensätzen zu stellen und zu erkennen, welche Persönlichkeitsanteile abgespalten wurden, damit sie akzeptiert und wieder integriert werden können.
Am Ende des Lebens das Gefühl zu verspüren, sinnvoll gehandelt, entschieden und gelebt zu haben, hat auf den...