Alina umklammerte die Schultüte mit beiden Händen und kam Schritt für Schritt die drei Stufen herunter. Ich verkniff mir ein Grinsen. Ich hatte sie noch kein einziges Mal so sorgsam mit etwas umgehen sehen. Selbst wenn sie die alte Kristallschüssel meiner Oma auf den Tisch stellen sollte und ich ihr einschärfte, dass das gute Teil auf keinen Fall kaputtgehen durfte, war meine kleine Tochter nicht halb so vorsichtig.
»Wo ist denn dein Bruder?«
Sie hob die Schultern, wobei die Schultüte in ihren Armen ein Stückchen nach unten rutschte. Sie erschrak und drückte die blaue Tüte mit den roten Piraten noch enger an sich. Ich streichelte ihr kurz über die langen schwarzen Haare - eindeutig meine Gene - und lief zur Haustür. »Max!«, rief ich die Treppe hinauf. »Maximilian. Allerhöchste Eisenbahn.«
»Geht das jeden Morgen so?«, fragte Sebastian und kam mit offener Krawatte aus der Küche. Er band sich den Schlips vor dem Spiegel im Flur.
Ich betrachtete ihn und lächelte. Nächsten Winter würden es fünfzehn Jahre sein. Wo war die Zeit geblieben? Wir waren keine dreißig mehr. Sebastian hatte graue Schläfen, obwohl er eigentlich dunkelblond war, und mein Schneewittchen-Schwarz, wie er es nannte, brauchte inzwischen auch ein wenig »Colorationsnachhilfe« von Tina, der Friseurin meines Vertrauens. Aber trotz der offensichtlichen Veränderungen waren die letzten Jahre nur so an mir vorbeigerauscht. An manches erinnerte ich mich, als sei es gestern gewesen. Mein Blick fiel auf Sebastians breite Schultern. Und an manches würde ich gerne denken, als wäre es wirklich gestern gewesen. Und wenn ich dann nachrechnete, wie lange es tatsächlich schon her war .
»Max!« Ich schrie nun fast die Treppe hinauf und seufzte. »Wie soll das erst werden, wenn er in der Pubertät ist und Haargel und Mädchen für sich entdeckt?«
»O Gott.« Sebastian lachte und ging zurück in die Küche. »Vielleicht bleibe ich doch in Frankfurt«, hörte ich ihn sagen, während er mit den Schubladen klapperte.
Seine Worte versetzten mir einen Stich. »Das ist nicht witzig«, sagte ich, während ich ihm folgte.
Er stand vor der Kochinsel, in der einen Hand die Rolle Alufolie, in der anderen die Schere. »Natürlich nicht. Entschuldige.«
Ich lehnte mich an den Türrahmen. »Ich dachte, wir wollen beide, dass du hier in Heidelberg arbeitest und nicht mehr pendeln musst. Jeden Tag Frankfurt und zurück ist zu weit, um deine Kinder aufwachsen zu sehen. Ich dachte, darauf hätten wir uns geeinigt.«
Er lächelte mich an. »Haben wir doch auch, Isa. Ich habe gekündigt, heute ist mein letzter Tag.« Er drehte sich zum Ofen und öffnete ihn. Darin stand der Kuchen, den ich gestern noch für seinen Abschied im Büro gebacken hatte.
»Manchmal gibst du mir das Gefühl, dass du das gar nicht richtig willst.«
»Dein Kuchen riecht fantastisch. Niemand wird die Brötchen vom Caterer wollen.« Er zwinkerte mir zu, aber meine eisige Miene ließ ihn ernst werden. Er kam um die Kücheninsel herum und zog mich an sich. »Ich liebe dich, Isa. Und du hast recht. Es ist das Beste für uns, wenn ich mehr Zeit hier in Heidelberg verbringe.«
Sebastian roch so gut. Schon immer hatte ich seinen Duft geliebt. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter. Ich wusste, dass er mich liebte. Aber ich wusste auch, dass er nicht gesagt hatte, dass er den neuen Job in Heidelberg ebenfalls wollte.
»Mama!«, rief Alina von draußen. »Ich komm zur spät zur Schule!«
Sebastian lachte. »Das wird sie schon in wenigen Wochen nicht mehr sagen. Dann wird sie lieber im Bett bleiben wollen.«
»Denk dran, dass du noch ein paar Fotos von ihr mit der Schultüte machst, wenn du heute schon nicht dabei sein kannst.«
Er schob mich von sich und sah mir in die Augen. »Es ist ein wichtiges Meeting. Ich will mich von der Firma im Guten trennen, man weiß nie .«
Ich runzelte die Stirn. ». ob man wieder zu ihr zurückkehren will?«
»Nein, ob man noch einmal auf ihre Empfehlung angewiesen ist. Das Unternehmen ist ein großer Player in meiner Branche. Ich will nicht, dass man mich dort negativ in Erinnerung behält.«
»Hauptsache, du willst dich trennen.«
»Mama!« Alinas Stimme klang ungeduldig.
»Fotos«, schärfte ich Sebastian ein und nickte mit dem Kopf in Richtung Flur. Er zog sein iPhone aus der Anzughose und ging an mir vorbei.
»Wir haben noch Zeit, Maus!«, rief ich in den Vorgarten hinaus und ging die Treppe in den ersten Stock hinauf. »Max?!«
Mein Sohn war nicht im Bad, aber ich sah von der Tür aus, dass er sich die Zähne bereits geputzt hatte. Die Wasserlache unter seinem Zahnputzbecher ließ keinen Zweifel daran aufkommen.
Ich schob seine Zimmertür auf und traute meinen Augen nicht. Er lag angezogen auf dem Bett und schlief. Ich stieg über ein paar Actionfiguren hinweg, ging zu ihm und rüttelte an seiner Schulter. Das Kissen verrutschte, und ich sah schwarzes Plastik aufblitzen. »Max, aufwachen.«
Er blinzelte mich an. Seine dunkelblonden Haare waren verwuschelt, seine Augen von Schlaf verklebt. »Ich zieh mir nur schnell Socken an«, sagte er, als habe er gar nicht mitbekommen, dass er noch einmal eingeschlafen war. Er beugte sich zum Boden und hob das Sockenpaar auf, das dort tatsächlich schon bereitlag.
Ich zog die Playstation Portable unter seinem Kissen hervor und hielt sie ihm vors Gesicht. »Hab ich dir nicht gestern gesagt, dass du sofort schlafen sollst?«
Er senkte den Kopf. »Ja«, sagte er leise.
»Und hast du mir nicht versprochen, dass du es auch tun wirst?«
»Ja.« Seine Stimme klang jetzt noch leiser.
»Max«, sagte ich halb enttäuscht, halb verärgert. »Du hast mich angelogen.«
»Nein, ich wollte ja auch sofort schlafen, aber dann konnte ich nicht und wollte mich nur müde spielen und .«
»Das ist mir egal. Manchmal braucht es ein Weilchen, bis man einschläft. Das ist kein Grund, ein Versprechen zu brechen. Ich werde die hier«, ich hob die Playstation ein Stückchen höher, »jetzt konfiszieren. Du kriegst sie erst am Wochenende wieder.«
»Was?«
»Keine Widerrede. Und jetzt beeil dich. Es ist der erste Schultag deiner Schwester. Wir müssen los.«
Kurz darauf marschierte er beleidigt voran und verabschiedete sich auch nicht von seinem Vater. Alina hingegen sagte überschwänglich Tschüss, und ich stellte mich schon mal darauf ein, gleich mit einer ganzen Reihe von Fragen gelöchert zu werden.
Als ich selbst ins Auto einstieg, spürte ich Sebastians Blick auf meinem Hintern. Ich drehte mich noch einmal um, und da stand er direkt vor mir, küsste mich und lächelte. »Du siehst toll aus.«
Ich lachte. »Du auch.«
Jenny gähnte und ließ den Kopf nach vorn fallen. Sie stützte sich auf ihren Händen ab, die roten Locken kringelten sich um ihre Finger. Ich stellte die Kaffeetasse vor sie hin und setzte mich neben sie. Mein Stuhl schrappte über das Kopfsteinpflaster.
Jenny verzog das Gesicht. »Ist das laut .« Sie nahm einen großen Schluck Milchkaffee und wischte sich den Schaum mit dem Ärmel ihrer Bluse vom Mund.
»Ja, es ist schrecklich, dass in dieser Stadt überall so romantisches Kopfsteinpflaster liegt«, sagte ich spöttisch. »Du benimmst dich, als hättest du einen Kater.«
»Ich bin seit drei Uhr wach.«
»Ach, komm. Du liebst deinen Job«, sagte ich.
Jenny gähnte wieder und blinzelte in die Sonne.
»Wenn du dich jetzt noch über das schöne Sommerwetter beschwerst, obwohl wir morgen schon September haben, dann schütte ich dir meinen Kaffee in den Schoß«, drohte ich scherzhaft.
»Du bist aber gut drauf«, stellte Jenny fest.
Ich hob die Schultern. »Morgen arbeite ich endlich wieder.«
»Stimmt. Die Tierärztin kehrt zurück zum lieben Vieh.«
»Zu Klein- und Haustieren«, verbesserte ich. »Seit acht Jahren habe ich jetzt nicht mehr gearbeitet.«
»Dass du das überlebt hast«, sagte Jenny und zog an einer ihrer Locken, die immer länger wurde. »Ich muss zu Tina.«
Ich schlürfte Milchkaffee und schüttelte den Kopf über meine alte Freundin. Wir kannten uns seit dem Studium. Damals hatte ich manchmal gedacht, dass Jenny mit der Zeit schon aufhören würde, um sich selbst zu kreisen, spätestens wenn sie Kinder haben würde . Aber sie hatte nie Kinder gewollt und war auch heute mit dreiundvierzig noch genauso egozentrisch wie als Dreizehnjährige - nur, dass sie inzwischen mehr Erfahrung hatte.
Jetzt sah sie mich an. »Mach dir keinen Kopf. Im schlimmsten Fall stirbt ja bloß ein Wellensittich, wenn du zu sehr aus der Übung bist.«
Ich legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Ja, ja. Kein Job auf der Welt ist so wichtig wie deiner.«
Sie hob die Schultern und schüttete den restlichen Kaffee in sich hinein. Dann sah sie erst in die leere Tasse und dann zu mir. »Die nächste Runde geht auf mich.«
»Ich hab noch.«
Sie nahm meine Tasse und trank sie aus. »Nein, stimmt nicht«, sagte sie, fixierte den Barista drinnen im Café und hob die Hand.
»Jenny, hier ist Selbstbedienung.«
»Das sehen wir noch«, sagte sie ungerührt, starrte den Barista an und hielt die Hand weiter in die Luft. »Weißt du, Isa. Manchmal muss man sich im Leben bedienen lassen. Und manchmal muss man sich selbst bedienen und sich einfach nehmen, was einem gefällt.«
Ich lächelte und nickte. »Ich hab mir den Job genommen, obwohl ich nicht arbeiten müsste.«
Jenny schnaubte. »Halbtags. Du hättest ruhig richtig zugreifen können. Sich einfach mal vom Leben nehmen, was man wirklich will. Wofür hast du denn sonst studiert und promoviert, Frau Doktor...