Schweitzer Fachinformationen
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«Wenn ich mir das Meer so anschaue, glaube ich kaum, dass ich darin baden werde. Hat sicher nur zehn Grad.»
«Was für ein Quatsch! Die Kälte spürst du doch gar nicht. Der Rettungsring um deine Hüften isoliert und hält dich warm.»
«Genau! Du hast es bereits als Kind am längsten von uns dreien im Wasser ausgehalten.»
«Bitte? Wollt ihr etwa andeuten, ich sei fett gewesen?»
«Gewesen?»
Instinktiv rutsche ich in meinem Fahrersitz ein wenig tiefer. Gut, dass wir in zwanzig Minuten endlich Westerland erreichen! Die Stimmung hier im Wagen ist mittlerweile dermaßen explosiv, es fehlt nur noch ein winziger Funke, und einer von uns geht in die Luft. Möglich, dass ich das sein werde. Auch wenn ich nach Kräften versuche, mich zu beherrschen: Ich habe die Kiefer fest aufeinandergepresst und seit Niebüll nichts mehr gesagt. Doch ein dünner Schweißfilm hat sich wie Sprühkleber auf meine Stirn gelegt und lässt vermutlich erahnen, wie es in meinem Innersten aussieht.
Was war das nur für eine Schnapsidee, mit meiner Mutter und ihren zwei Schwestern nach Sylt zu fahren! Diese ständigen Streitereien hält ja kein Mensch aus! Können die drei nicht mal schweigend aufs Meer schauen? Wenigstens für fünf Minuten? Ich reiße mich schließlich auch zusammen, obwohl mir im Grunde meines Herzens der Sinn danach steht, alle gemeinsam auf dem Hindenburgdamm auszusetzen.
«Eine verdammte Bummelbahn ist das.» Tante Annegret trommelt ungeduldig mit ihren Schaufelhänden gegen die Scheibe. «Kann das Biest nicht schneller fahren? Nur weil wir Rentner sind, haben wir ja nicht ewig Zeit.»
«Ganz im Gegenteil.» Tante Christiane ist ausnahmsweise mal derselben Meinung. «Denkt nur an den lieben Ralf. Gerade noch weilte er unter uns und plötzlich -» Im Rückspiegel sehe ich, wie sie sich mit der flachen Hand über die Kehle fährt. «Mausetot.»
Erschrocken schaue ich zu meiner Mutter. Sie sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz, hat den Blick starr nach vorn gerichtet und atmet geräuschvoll ein und ebenso hörbar wieder aus. Ihre Lippen bewegen sich, als formuliere sie stumm an einer Antwort, doch sie schweigt.
Im Rückspiegel werfe ich meiner Tante einen vorwurfsvollen Blick zu. Muss sie so pietätlos daherreden? Papa ist gerade mal ein halbes Jahr tot. Nicht einmal Mama und ich reden in diesem Tonfall über ihn.
Aber da ich ahne, dass eine Zurechtweisung zu nichts führen würde, außer vermutlich, eine erneute Diskussion heraufzubeschwören, halte ich meinen Mund.
Ich rutsche ein Stückchen tiefer im Sitz, schließe die Augen und versuche, mich zu entspannen. Sonst treibt mich dieses Dreiergespann vor Ablauf des Tages in den Wahnsinn.
Wenn ich wenigstens eine Kleinigkeit im Magen hätte. Seit heute Morgen um sechs Uhr der Wecker geklingelt hat, war keine Sekunde Zeit, etwas zu essen. Nicht mal einen Apfel oder sonst irgendeinen Snack habe ich geschafft zu mir zu nehmen. Aber vielleicht besteht am Bahnhof die Möglichkeit, auf die Schnelle ein belegtes Brötchen zu kaufen.
Ich öffne die Augen, weil mir plötzlich etwas einfällt. Bevor wir ankommen, sollte ich am besten schon mal unser Ziel ins Navi eingeben: Austernfischerweg 7 in Rantum. Dort steht das Haus meines Vaters, das jetzt mein Haus sein soll. Noch immer ist mir der Gedanke fremd, und die Adresse nur ein unbekannter Ort auf der Landkarte. Bis vor kurzem habe ich ja nicht einmal gewusst, dass mein Vater auf Sylt ein Haus besaß. Niemals ist davon die Rede gewesen. Aber wirklich viel wurde in meiner Familie ohnehin nicht geredet, zumindest nicht in den letzten Jahren. Seit Papa . also seit dieser Sache war der Kontakt zwischen mir und meinen Eltern alles andere als gut. Von daher kam es mehr als überraschend, dass mein Vater mich in seinem Nachlass explizit bedacht hat. Ausgerechnet mich! Nicht mal im Entferntesten habe ich damit gerechnet, weil wir uns im Grunde nie besonders nahestanden.
Meine Mutter hat mir nach der Testamentseröffnung erklärt, dass das Haus ursprünglich ihren Eltern, also meinen Großeltern gehört hat. Nach ihrem Tod haben sie es zu gleichen Teilen ihren drei Töchtern vermacht. Wohl, um die Mädchen auf diese Art für immer zusammenzuschweißen. Doch das genaue Gegenteil trat ein: Alle wollten lieber Bargeld in den Fingern halten, darum bot sich mein Vater als Käufer an und zahlte meine Tanten aus.
Nachdenklich beobachte ich die vorbeiziehende Landschaft: plattes Land, Wattenmeer, sicher nett für den Urlaub mit Kindern.
«Well .», kündigt Tante Christiane, die vor Jahren in die USA ausgewandert ist, ihren nächsten Satz an. Natürlich spricht sie akzentfrei Deutsch, nutzt aber jede Gelegenheit, ihren Aussagen ein wenig kosmopolitisches Flair einzuhauchen. «Well, ich weiß gar nicht, ob ich es ertrage, das Haus zu betreten.» Im Rückspiegel kann ich sehen, wie sie schmerzhaft das Gesicht verzieht. «All die Erinnerungen an unsere Kindheit. Es war so eine unbeschwerte Zeit.»
Neben ihr rollt Annegret mit den Augen. «Für dich vielleicht. Du bekamst ja auch grundsätzlich, was du dir in den Kopf gesetzt hattest. Und warst trotzdem nie zufrieden.» Ihre raue Stimme bekommt einen spöttischen Unterton. «Du fandest unsere Familienurlaube auf Sylt doch sterbenslangweilig. Wolltest lieber nach Frankreich oder Italien. Ferien in Deutschland zu machen war dir peinlich. Wir waren dir peinlich. Ganz besonders ich, die kleine Schwester.» Sie senkt den Kopf und seufzt. «Also, wenn einer das Haus und überhaupt die Urlaube auf Sylt geliebt hat, war ich es.»
«Blödsinn», meldet sich auf einmal meine Mutter zu Wort. Sie starrt noch immer bewegungslos nach vorn aus dem Fenster. «Wenn es jemanden schmerzt, dieses Haus zu betreten, dann ja wohl mich. Schließlich ist es mein Mann, der gestorben ist.»
Urplötzlich herrscht verschämtes Schweigen auf der Rückbank.
Überrascht blicke ich zum Beifahrersitz. Es ist das erste Mal seit Papas Tod, dass Mama von Kummer spricht. Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.
Nachdenklich betrachte ich ihr Profil. Erstaunlich, wie wenig sie sich verändert hat. Ihre Haut ist mit 65 Jahren noch immer feinporig und rosig, die Gesichtszüge ebenmäßig, und das schmale, aristokratische Näschen lässt sie wie eine in Würde gealterte Filmdiva aussehen. Beneidenswert, denn meine Augenringe sind schon jetzt so dunkel wie der Schlick des Wattenmeers um uns herum. Immerhin habe ich Papas Sommersprossen geerbt. Auch wenn sie mich manchmal ein wenig zu jugendlich wirken lassen und ich sie darum zu geschäftlichen Meetings gerne überschminke, mag ich ihr tanzendes Aussehen. Von Mama habe ich die dunkelbraunen Augen und die welligen Haare. Ihre sind inzwischen kinnlang und von einem feinen Netz aus grauen Fäden durchwebt.
Ich schaue wieder nach vorn, weil der Zug seine Fahrt verlangsamt. Die Besiedelung nimmt zu. In der Ferne blickt man auf Hochhäuser, wir tuckern an dem vollbesetzten Parkplatz eines Supermarktes vorbei. Warum war ich eigentlich noch nie hier?
Seit ich bei der Testamentseröffnung von dem Haus auf Sylt erfahren habe, ahne ich, dass es dazu eine Geschichte gibt. Warum sonst sollte mein Vater es auf mich überschrieben haben? Und wie steht Mama dazu? Bislang habe ich mich nicht getraut, sie darauf anzusprechen.
Wenn ich jetzt allerdings höre, für welchen Zündstoff das Haus unter den Geschwistern sorgt, bereue ich es, meine Tanten mit ins Boot geholt zu haben. Das war vollkommen anders geplant!
Unglücklich betrachte ich die beiden im Rückspiegel. Sie haben haargenau dieselbe Körperhaltung eingenommen. Nur starrt die eine nach links, die andere nach rechts. Unverkennbar Schwestern, auch wenn alle drei sich äußerlich wenig ähneln. Tante Christiane ist die Älteste, sieht aber mit ihren 68 Jahren beinahe am jüngsten aus. Dafür scheint sie einiges zu tun: Ihre Hände sind gepflegt, die Nägel sorgfältig manikürt, mit weiß lackierten Spitzen. Auch ihre Figur ist topp in Schuss. Ich schätze, sie trägt Kleidergröße 36 und kauft ihre Outfits in angesagten und teuren Designerboutiquen. Allerdings lassen ihre faltenfreie Stirn, der glatte Hals und die feste Wangenpartie darauf schließen, dass der Natur etwas auf die Sprünge geholfen wurde.
Tante Annegret hingegen ist zwar mit 62 rechnerisch die Jüngste des Trios, aber Alkohol und Zigaretten scheinen in ihrem Leben eine tragende Rolle gespielt zu haben, und der eine oder andere Joint kam höchstwahrscheinlich auch noch hinzu. Ihre Haut sieht zerknittert wie eine alte Zeitung aus und ist von fahler Blässe. Kleidungstechnisch mag Annegret es bequem. Sie bevorzugt Jogginganzüge und weite Pullover, kaschiert ihre ausladenden Hüften damit aber weniger, als sie es vermutlich beabsichtigt. Ihre Haare wurden vor längerer Zeit blondiert, der zentimeterdicke Ansatz deutet jedoch darauf hin, dass sie es mit der Nachfärbung nicht eilig hat.
Es ist seltsam, mit den dreien auf so engem Raum zusammen zu sein. Außer einer kurzen Begegnung vor etwa dreißig Jahren - damals war ich gerade mal fünf - sind mir meine Tanten fremd. Und Mama . sie hat mich in der Vergangenheit oft enttäuscht. Seitdem meide ich den Kontakt.
Endlich erreichen wir den Bahnhof von Westerland. Und auf einmal herrscht draußen Hochbetrieb. Unser Verladezug war bis auf den letzten Platz besetzt, doch es geht vergleichsweise schnell, dass ich den Wagen starten und von der Rampe herunterfahren kann. Einige der Fahrzeuge werden bereits winkend erwartet, andere, wie wir, suchen den zügigsten Weg hinaus aus dem...
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