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Meine Mutter war nicht in Übereinstimmung mit dem Leben, das sie führen mußte. Ihr Jugendbild, das ich kannte, war nicht in Übereinstimmung mit der Mutter, die ich kannte, das war der Grund, daß ich das Bild liebte, aber zugleich mit dem geschärften Gefühl für Unpassendes, das Kinder in sich selbst betrügenden Familien entwickeln, diese Liebe wie etwas Verbotenes verbarg. Manchmal, zu Großmutters Geburtstag, saß meine Mutter an dem ausgezogenen Tisch gerade unter ihrem Bild, dann setzte ich mich ihr genau gegenüber und verglich sie mit sich selbst. Das Ergebnis fiel jedesmal anders aus, aber ich wußte nicht, was die stärkere oder schwächere Angleichung an ihr Bild bewirkte. Ich weiß nur, daß ich lachte, wenn sie fröhlich war, und daß ich mich vor allen Fährnissen sicher fühlte, wenn sie sich über meine Angewohnheit, die Decke von den Streuselkuchenstücken abzuheben und zuallerletzt zu essen, lustig machen konnte, anstatt sie mir wie manchmal zu verbieten. Mein Bruder Bodo und ich gerieten aus dem Häuschen, wenn sie »Am Brunnen vor dem Tore« sang und »Ein Wandersmann mit dem Stab in der Hand, kehrt wieder heim aus dem fremden Land«. Tante Lissy konnte sich anstrengen, wie sie wollte, sie hatte nun mal nicht diese Stimme und überhaupt diesen Hang zur Musik, wenn sie auch meinen Vater meist vergeblich bat, das Hamburger Hafenkonzert oder das Wunschkonzert abzustellen und ihr die Kleine Nachtmusik zu gönnen, mein Vater war der Ansicht, davon könne überhaupt kein Mensch etwas haben, und wer es dennoch behauptete, stelle sich an. »Sah ein Knab ein Röslein stehn«, sang meine Mutter, aber manchmal kam sie auch erst gar nicht zu den Geburtstagsfeiern. Geh du doch mal runter zu ihr, Herbert, auf dich hört sie noch am meisten, und was hat sie denn überhaupt, daß sie da unten sitzt und weint? Weiß ich's denn, sagte mein Vater, er wußte es also nicht, Charlotte hatte also wieder mal ihre Tour, sie machte wieder mal aus der Mücke einen Elefanten, sie nahm wieder mal alles zu tragisch, denn schließlich wird man doch noch mal ein Wort sagen dürfen, schließlich kann man doch nicht alles gleich auf die Goldwaage legen, wo kämen wir denn da hin. Uns so den Geburtstag zu versauen; und überhaupt, schon wegen der Kinder!
Daß mein Vater wußte, wie man eine Auster aus der Schale schlürft und wie man sich an diese geschmacklose, glibbrige, aber nahrhafte Speise gewöhnt, verdankte er seinem Aufenthalt als Gefangener in Marseille, wo die Leute zuerst »Bosch« zu ihnen sagten und mit Steinen warfen, wenn man sie durch die Straßen trieb, woraus man sehen konnte, wie verhetzt die Franzosen waren. Merkwürdigerweise wog diese Kenntnis, wog sein zweimaliger Fluchtversuch aus der Gefangenschaft, der mit Hungerkarzer geahndet wurde, wog die Tatsache, daß er als Achtzehnjähriger »vor Verdun gelegen« hatte, wo sie die Engel im Himmel singen hörten – wog alles dies nicht so schwer wie das Pfund von Tüchtigkeit, das meine Mutter, die meinen Vater noch nicht kannte, in der Zwischenzeit zu Hause in der Käsefabrik Ardolf als erste Buchhalterin hatte sammeln können. Jedermann billigte meinem Vater zu, daß er sich erst habe ausleben müssen, nachdem er endlich der langjährigen Gefangenschaft ledig war, nur meine Mutter machte dazu ein undurchdringliches Gesicht, aber das alles lag vor ihrer Zeit, lag vor der Geburtstagsfeier einer ihrer Kolleginnen, Mieze Riekmann, ein ulkiges Huhn, ziemlich falsch, nebenbei bemerkt, und flott, das konnte man wohl sagen, aber unverheiratet. Der alte Ardolf hat sich später von ihr trennen müssen, sie schielte nach seinem Sohn, dem jungen Ardolf, und schielte ist noch zu wenig gesagt. Aber jedenfalls gab es bei ihren Geburtstagen genug zu trinken, und mein Vater war der Tischherr meiner Mutter, Mieze Riekmann und mein Vater hatten einen gemeinsamen Freund von der Ruderriege, den Gustel Scholz, das war eine Nummer, mit dem konnte man Pferde stehlen gehen, und das haben wir ja auch getan, wir von der Ruderriege waren stadtbekannt, damals. Euer Vater auch, sagte meine Mutter, auf einmal war sie stolz, er war ein Bonvivant, und angezogen – immer tipptopp! Aber er trank natürlich über den Durst, und da wollte ich mich klammheimlich davonmachen, aber da kannte ich euren Vater schlecht. Ich werde doch meine Tischdame nach Hause bringen, werd ich doch wohl! hat er gerufen, immer Lebemann, euer Vater, immer Mann von Welt, und er hat mich nach Hause gebracht, fragt bloß nicht, wie! Wir lachten, daß uns die Tränen kamen, wie war doch die Mutter lustig, wie hatte doch mit den Eltern alles so lustig angefangen, was war doch diese Mieze Riekmann für eine nette Person, mochte sie intrigant sein, na schön, und flott, bittesehr, mochte sie nach dem jungen Herrn Ardolf geschielt haben – gab es überhaupt irgendein Vergehen, das durch die gemeinsame Einladung von Fräulein Charlotte Janowsky und Herrn Bruno Uhlmann an jenem bedeutsamen Geburtstagsabend nicht mehr als wettgemacht war? Ja, sagte mein Vater, Bier und verschiedene Schnäpse, und nicht viel im Magen, das vertrug man eben nicht. Meine Mutter hat ihn auf die Steinbalustrade ihres Vorgärtchens abgesetzt, Küstriner Straße, ich kenn das Haus, ich kenne die Balustrade. Meine Mutter ist wie der Blitz in ihre Tür geschlüpft, wie der Blitz die Treppen hinaufgerannt, leise, aber immer noch wie der Blitz in ihr Zimmer geschlichen und hat zum Fenster hinausgesehen: Bis heute weiß kein Mensch, wie der stinkbesoffene Kerl: Mein Vater, wir konnten uns totlachen! – wie der also von der Balustrade weggekommen ist. Und wißt ihr, wo ich übernachtet habe? Wir wußten es, wir schrieen es im Chor, aber wir konnten es immer wieder hören: Im Stadtpark! Zwanzig Meter neben dem Ententeich, Betrunkene haben ihren Schutzengel, ein Parkwächter hat ihn früh wachgerüttelt und den unübertroffenen Ausspruch getan: Ich dachte, Sie wären ne Leiche! Ich dachte … Wir erstickten fast. Ne Leiche! Zwanzig Meter weiter, dann wärt ihr beide … So spielt der Zufall, erst Verdun, dann diese gefährliche Arbeit an den Überlandleitungen bei Marseille, und schließlich der Ententeich in unserem Stadtpark, immer zu unseren Gunsten, wie es sein muß, ein guter Mensch geht nicht unter. Aber am nächsten Morgen hat er mich angerufen, und er hat zu mir gesagt: Wissen Sie, Fräulein Charlotte, wo ich heute übernachtet habe? – Nee, sagte meine Mutter, eure Großmutter, diesen versoffenen Kerl?
Jedoch hat Bruno Uhlmann am Tage seiner Hochzeit mit Fräulein Janowsky aufgehört, sich auszuleben, er hatte es hinter sich, und ihr, sowieso, war niemand zu nahe getreten, sie war nun sechsundzwanzig und er achtundzwanzig, und sie gründeten ihr erstes Geschäft im Fröhlichschen Haus Ecke Küstriner Straße, und hausten in einem einzigen Zimmer hinter dem Laden, und einer finsteren Küche, und als ich nach drei Jahren geboren wurde, in diesem strengen Winter mitten in der Wirtschaftskrise, von dem die Sagen überdauert haben, fror in meinem Fläschchen die Milch, und meines Vaters Kundschaft hatte mehr Schulden als Geld. So haben wir angefangen, und das war kein Zuckerlecken, und manches Mal haben wir die Zähne zusammenbeißen müssen, das könnt ihr glauben.
Auf dem Bild mit dem großen Hut sah meine Mutter so aus, als sei dieses Foto vor dem Zähnezusammenbeißen aufgenommen worden, und das war es ja vielleicht. Ich weiß nicht, wann das Gesicht, das ich kannte, sich über dieses frühe Gesicht gelegt hat, ich versuche, den Faden ihres Lebens in die Hand zu nehmen, und finde nicht den Umschlagpunkt, kann das Ende des Jugendgesichts nicht finden. Eines ist merkwürdig: In ihrer Verlobungszeit waren sie ja in Dievenow, sie gönnten sich jene Ostsee-Reise, von der noch oft geredet wurde als von einem unerhörten Luxus, sie brachten ja ein Foto mit, bräunlich getönt, das weiß ich, das auch in dem dicken braunen Fotoalbum klebte, sie hatten sich so aufgestellt, daß man alle luxuriösen Vorzüge dieser Reise auf einmal sah: Das Meer, den Strand und ihren Strandkorb, ich sehe sie deutlich, meine Großmutter in einem geblümten Kleid und mit einem Ausdruck von Stolz und Zufriedenheit, den sie einfach nicht unterdrücken konnte, mein Vater am Ende seiner Auslebeperiode in dem Aufzug, den meine Mutter uns oft beschrieben hat, Kreissäge, helles Jackett und Stöckchen, und im etwas verwunderten Gesicht den Kneifer, aber ich kann mich anstrengen, wie ich will, meine Mutter, die natürlich auf dem Foto war, sehe ich nicht. Mir ist, als hätte sie im Strandkorb gesessen, in einem weißen Kleid – ja, das ist fast sicher. Aber hatte sie die Haare schon kurz geschnitten? Lachte sie? Oder borge ich mir jetzt ihren Ausdruck von jenem anderen Bild, da sie mich vor sich hinhält, mich, wenige Tage alt. Da hat sie die Haare kurz geschnitten, da lacht sie.
Damals hat sie vielleicht den Laden noch nicht gehaßt – sie liebte rigorose Sätze und konnte sie gebrauchen; sie sagte: Wie ich diesen Laden hasse, das kann ich überhaupt keinem Menschen sagen! Mitten im Krieg, mitten in der Zeit größter Schweigsamkeit – eines Schweigens, das ich erst viel später in mir spürte, dann allerdings als einen Mangel, ja, als einen Makel, der nicht wieder gutzumachen war – an einem Herbstabend, zehn Minuten nach 19 Uhr, zehn Minuten nach Ladenschluß also, nahm meine Mutter das große Schlüsselbund mit allen Laden- und Kassenschlüsseln und warf es dem Wachtmeister vor die Füße, der unseren Laden zehn Minuten zu lange geöffnet fand und dies als unsaubere Konkurrenz bemängeln wollte. Sie warf ihm den Schlüssel hin, ich höre ihn noch auf den Terrazzofliesen klirren, sie schrie, dann solle er sie doch einsperren, solle er doch, dann hätte doch wenigstens diese Schufterei ein Ende, dann könne sie sich doch...
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