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Es war der Tag, an dem ich sie Trompete blasen sah. Da mag sie schon monatelang in unserer Klasse gewesen sein. Da kannte ich ihre langen Glieder und den schlenkrigen Gang und den kunstlosen, kurzen Haarschwanz in der Nackenspange schon auswendig, ebenso wie ihre dunkle, etwas rauhe Stimme und ihr leichtes Lispeln.
Das alles zum erstenmal gesehen und gehört am ersten Morgen, als sie bei uns erschien, anders möchte ich es nicht nennen. Sie saß in der letzten Bankreihe und zeigte keinen Eifer, mit uns bekannt zu werden. Eifer hat sie nie gezeigt. Sondern sie saß in ihrer Bank und sah genauso unsere Lehrerin an, uneifrig, eiferlos, wenn man sich darunter etwas vorstellen kann. Denn aufsässig war ihr Blick nicht. Doch mag er so gewirkt haben unter all den hingebenden Blicken, an die unsere Lehrerin uns gewöhnt hatte, weil sie, wie ich heute glaube, von nichts anderem lebte.
Nun, willkommen in unserer Gemeinschaft. Wie hieß denn die Neue? Sie erhob sich nicht. Sie nannte mit angerauhter Stimme, leicht lispelnd, ihren Namen: Christa T. War es möglich, hätte sie mit den Brauen gezuckt, als unsere Lehrerin sie duzte? In weniger als einer Minute würde sie in ihre Schranken gewiesen worden sein.
Wo kam sie denn her, die Neue? Ach, nicht aus dem bombardierten Ruhrgebiet, nicht aus dem zerstörten Berlin? Eichholz – du lieber Himmel! Bei Friedeberg. Zechow, Zantoch, Zanzin, Friedeberg, wir dreißig Einheimischen fuhren in Gedanken die Kleinbahnstrecke ab. Entrüstet, das versteht sich. Kraucht aus einem Dorfschullehrerhaus, keine fünfzig Kilometer von hier, und dann dieser Blick. Ja, wenn einer ein paar Dutzend rauchende Zechenschornsteine hinter sich hat, oder wenigstens den Schlesischen Bahnhof und den Kurfürstendamm ... Aber Kiefern und Ginster und Heidekraut, denselben Sommergeruch, den auch wir bis zum Überdruß und fürs Leben in der Nase hatten, breite Backenknochen und bräunliche Haut, und dieses Benehmen? Was sollte man davon halten?
Nichts. Nichts und gar nichts hielt ich davon, sondern ich sah gelangweilt aus dem Fenster, das sollte jeder merken, der von mir etwas wissen wollte. Ich sah, wie die Turnlehrerin mit den Fähnchenständern ihr ewiges Völkerballfeld markierte, das war mir immer noch lieber, als zuzusehen, wie diese Neue mit unserer Lehrerin umging. Wie sie die bei der Stange hielt. Wie sie aus dem Verhör, das in der Ordnung gewesen wäre, eine Unterhaltung machte und wie sie auch noch bestimmte, worüber man sprechen wollte. Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen: über den Wald. Das Spiel da unten wurde angepfiffen, aber ich drehte den Kopf und starrte die Neue an, die kein Schulfach nennen wollte, das sie am liebsten hatte, weil sie am liebsten in den Wald ging. So hörte sich die Stimme der Lehrerin an, wenn sie nachgibt, das hatten wir noch nicht.
Verrat lag in der Luft. Aber wer verriet, wer wurde verraten?
Nun, die Klasse werde, was sie ja immer tue, die Neue, Christa T., die Waldschwärmerin, freundschaftlich in ihrer Mitte aufnehmen.
Ich zog die Mundwinkel herab: Nein. Nicht freundschaftlich. Überhaupt nicht aufnehmen. Links liegenlassen.
Schwer zu sagen, warum sie mir trotzdem Nachrichten über die Neue zutrugen. Na wenn schon, sagte ich nach jedem Satz, aber zuerst hatte ich den Satz gehört. Daß sie ein Jahr älter war als wir, denn sie kam von einer Mittelschule und mußte eine Klasse wiederholen. Daß sie in der Stadt »in Pension« wohne und nur übers Wochenende nach Hause fahre. Na wenn schon. Daß man sie zu Hause Krischan nenne. Krischan? Sieht ihr genau ähnlich: Krischan.
So habe ich sie dann meistens genannt.
Sie bewarb sich übrigens nicht um Aufnahme. Nicht um freundliche, nicht um widerwillige. Um gar keine. Wir interessierten sie nicht »übermäßig«, das Wort war gerade unter uns aufgekommen. Übermäßig höflich ist sie ja nicht, wie? Ich sah in die Luft und sagte: Na und? Verfluchter Hochmut von dieser Neuen. Die spinnt ja. Die Wahrheit war: Sie brauchte uns nicht. Sie kam und ging, mehr ließ sich über sie nicht sagen.
Da habe ich schon das meiste über sie gewußt. Und wenn nicht das meiste, so doch genug, wie sich dann zeigte.
Die Fliegeralarme wurden länger, die Fahnenappelle düsterer und schwächlicher, wir merkten nichts, und darüber wurde es wieder November. Ein grauer Tag jedenfalls, also wohl November. Ein Monat ohne die mindeste Weisheit, auch uns fiel nichts zu. Wir zogen in kleinen Rudeln durch die Stadt, die Entwarnung hatte uns überrascht, zu spät, um zur Schule zurück, zu früh, um schon nach Hause zu gehen. Schularbeiten kamen seit langem nicht in Frage, Sonne schien auch keine; was suchten wir bloß zwischen all den Soldaten und Kriegerwitwen und Luftwaffenhelfern? Und dann noch am Stadtpark, wo die Rehwiese eingezäunt war wie immer, aber Rehe gab es keine, und Schlittschuh laufen sollten wir hier auch nicht mehr.
Wer hatte das gesagt? Keiner. Was sahen wir uns denn so an?
Keine Ursache. Wer nie ausschläft, sieht Gespenster oder hört welche.
Blieb der Film am Nachmittag, »Die goldene Stadt«, nicht jugendfrei wie gewöhnlich. Da muß man die Sybille bitten, daß sie sich die Haare hochsteckt und Hackenschuhe von ihrer Mutter anzieht, daß sie sich ihre roten Lippen noch röter malt, damit sie zur Not aussieht wie achtzehn und wir alle hinter ihr an der Platzanweiserin vorbeikommen. Sie wollte gute Worte, wir gaben sie ihr, wir scharwenzelten um sie herum, aber auf Christa T., die Neue, die bei uns war, weil sie ebensogut bei uns sein konnte wie anderswo, auf sie achtete keiner.
Da fing sie zu blasen an, oder zu rufen, es gibt das richtige Wort dafür nicht. Daran hab ich sie erinnert oder erinnern wollen in meinem letzten Brief, aber sie las keine Briefe mehr, sie starb. Lang ist sie ja immer gewesen, auch dünn, bis auf die letzten Jahre, nach den Kindern. So ging sie vor uns her, stakste erhobenen Hauptes auf der Rinnsteinkante entlang, hielt sich plötzlich eine zusammengedrehte Zeitung vor den Mund und stieß ihren Ruf aus: Hooohaahooo, so ungefähr. Sie blies ihre Trompete, und die Feldwebel und Unteroffiziere vom Wehrbezirkskommando hatten gerade Pause und sahen sich kopfschüttelnd nach ihr um. Na, die aber auch, hat der Mensch Töne? Da siehst du nun, wie sie sein kann, sagte eine zu mir.
Da sah ich’s nun. Grinste dazu wie alle, wußte aber, daß ich nicht grinsen sollte. Denn anders als alle erlebte ich diese Szene nicht zum erstenmal. Ich suchte, wann sie schon einmal so vor mir hergegangen sein konnte, und fand, daß es kein Vorbild für diesen Vorgang gab. Ich hatte es einfach gewußt. Nicht, daß ich mit der Trompete gerechnet hätte, da müßte ich lügen. Aber was man nicht weiß, kann man nicht sehen, das ist bekannt, und ich sah sie. Sehe sie bis heute, aber heute erst recht. Kann auch besser abschätzen, wie lange es dauert und was es kostet, dieses dümmliche Grinsen endlich aus dem Gesicht zu kriegen, kann lächeln über meine Ungeduld von damals. Nie, ach niemals wieder wollte ich so am Rand eines Stadtparks stehen, vor der eingezäunten Rehwiese, an einem sonnenlosen Tag, und den Ruf stieß ein anderer aus, der das alles wegwischte und für einen Sekundenbruchteil den Himmel anhob. Ich fühlte, wie er auf meine Schultern zurückfiel.
Wie bringt man sie dazu, sich nach mir umzudrehen? Das war die Frage. Friedeberg. Ich interessierte mich ja für die Gegend um Friedeberg. Für ein Dorf mit Namen Eichholz. Für ein Dorfschullehrerhaus mit tief herabgezogenem bemoostem Dach ... Das alles kenne ich so wenig wie damals. Wenn wir Ausflüge machten, sind wir kaum über Beyersdorf und Altensorge hinausgekommen, oder zweimal die zwei Stunden Fahrt nach Berlin, Zoologischer Garten. Da stand das Schloß noch; dann ließen wir es lieber sein, so weit wegzufahren, wer hätte auch das Herz dazu gehabt, mitten im Krieg! Christa T. fuhr übrigens trotzdem, im Sommer vierundvierzig, mit einer Freundin, auf die ich eifersüchtig war und die ihr abends im Musikzimmer ihrer verlassenen Berliner Wohnung Beethoven vorgespielt hat, bei Kerzenlicht, bis der Alarm kam. Da löschten sie die Kerzen und stellten sich ans Fenster. Nein, man konnte ihre Art nicht billigen, es drauf ankommen zu lassen, auf ein Unglück, auf einen Tod, auf eine Freundschaft. Und das Schloß konnte sie zu jener Zeit sowieso nicht mehr sehen, die Ruine vielleicht noch, das grüne Kupferdach. Mehr habe ich allerdings auch nicht davon im Gedächtnis.
Ich gebe nicht vor, mich zu erinnern, was sie mir damals erzählt haben mag. Bloß daß die Wälder in der Friedeberger Gegend dunkler sein müssen als anderswo und daß es mehr Vögel gab, offenbar. Oder daß es mehr werden, wenn man jeden einzelnen mit Namen kennt, was weiß ich. Das wäre aber auch alles.
Was sie mich wissen ließ, auf ausdrückliches Befragen, ich habe es vergessen. Nach ihrem Tod erst hat sie Antwort gegeben, wider Erwarten gründlich haben mich ihre Papiere belehrt, über die Gewißheiten und Ungewißheiten ihrer Kindheit. Auch darüber, daß es nicht schaden kann, bestimmter Erscheinungen, der wichtigsten vielleicht, als Kind ein für allemal gewiß zu werden. So daß, wenn man aus diesem Land weggeht, siebzehnjährig zum Beispiel, vieles schon gesehen ist, und für immer. Womit man ja rechnen muß, wenn man nur noch einmal so lange zu leben hat.
Nichts davon damals zu mir.
Immerhin, sie ließ mich einiges wissen. Sie erteilte Auskünfte, jedermann konnte sehen, wer die Fragen stellte und wer die Antworten gab. Wir weckten schon Neid, wir galten schon als tabu, da hatten wir noch kein vertrauliches...
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