Schweitzer Fachinformationen
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Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd. Frühere Leute erinnerten sich leichter: eine Vermutung, eine höchstens halbrichtige Behauptung. Ein erneuter Versuch, dich zu verschanzen. Allmählich, über Monate hin, stellte sich das Dilemma heraus: sprachlos bleiben oder in der dritten Person leben, das scheint zur Wahl zu stehen. Das eine unmöglich, unheimlich das andere. Und wie gewöhnlich wird sich ergeben, was dir weniger unerträglich ist, durch das, was du machst. Was du heute, an diesem trüben 3. November des Jahres 1972, beginnst, indem du, Packen provisorisch beschriebenen Papiers beiseite legend, einen neuen Bogen einspannst, noch einmal mit der Kapitelzahl I anfängst. Wie so oft in den letzten eineinhalb Jahren, in denen du lernen mußtest: die Schwierigkeiten haben noch gar nicht angefangen. Wer sich unterfangen hätte, sie dir der Wahrheit nach anzukündigen, den hättest du, wie immer, links liegenlassen. Als könnte ein Fremder, einer, der außen steht, dir die Rede abschneiden.
Im Kreuzverhör mit dir selbst zeigt sich der wirkliche Grund der Sprachstörung: Zwischen dem Selbstgespräch und der Anrede findet eine bestürzende Lautverschiebung statt, eine fatale Veränderung der grammatischen Bezüge. Ich, du, sie, in Gedanken ineinanderschwimmend, sollen im ausgesprochenen Satz einander entfremdet werden. Der Brust-Ton, den die Sprache anzustreben scheint, verdorrt unter der erlernten Technik der Stimmbänder. Sprach-Ekel. Ihm gegenüber der fast unzähmbare Hang zum Gebetsmühlengeklapper: in der gleichen Person.
Zwischenbescheide geben, Behauptungen scheuen, Wahrnehmungen an die Stelle der Schwüre setzen, ein Verfahren, dem Riß, der durch die Zeit geht, die Achtung zu zollen, die er verdient.
In die Erinnerung drängt sich die Gegenwart ein, und der heutige Tag ist schon der letzte Tag der Vergangenheit. So würden wir uns unaufhaltsam fremd werden ohne unser Gedächtnis an das, was wir getan haben, an das, was uns zugestoßen ist. Ohne unser Gedächtnis an uns selbst.
Und die Stimme, die es unternimmt, davon zu sprechen.
Damals, im Sommer 1971, gab es den Vorschlag, doch endlich nach L., heute G., zu fahren, und du stimmtest zu.
Obwohl du dir wiederholtest, daß es nicht nötig wäre. Aber sie sollten ihren Willen haben. Der Tourismus in alte Heimaten blühte. Zurückkehrende rühmten die fast durchweg freundliche Aufnahme durch die neuen Einwohner der Stadt und nannten Straßenverhältnisse, Verpflegung und Unterkunft »gut«, »passabel«, »ordentlich«, was du dir alles ungerührt anhören konntest. Was die Topographie betreffe, sagtest du, auch um den Anschein wirklichen Interesses zu erwecken, könntest du dich ganz auf dein Gedächtnis verlassen: Häuser, Straßen, Kirchen, Parks, Plätze – die ganze Anlage dieser im übrigen kaum bemerkenswerten Stadt war vollständig und für immer in ihm aufgehoben. Eine Besichtigung brauchtest du nicht. Trotzdem, sagte H. Da fingst du an, die Reise gewissenhaft vorzubereiten. Der visafreie Reiseverkehr war zwar noch nicht eingeführt, aber schon damals wurden die Bestimmungen lax gehandhabt, so daß der nichtssagende Vermerk »Stadtbesichtigung«, in die dreifach auszufertigenden Antragsformulare unter der Rubrik »Begründung« eingetragen, anstandslos durchging. Zutreffende Angaben wie »Arbeitsreise« oder »Gedächtnisüberprüfung« hätten Befremden erregt. (Besichtigung der sogenannten Vaterstadt!) Die neuen Paßfotos fandet ihr – im Gegensatz zu den Angestellten der Volkspolizeimeldestelle – euch unähnlich, eigentlich abscheulich, weil sie dem Bild, das ihr von euch hattet, um den entscheidenden nächsten Altersschritt voraus waren. Lenka war, wie immer, gut getroffen, nach eurer Meinung. Sie selbst verdrehte die Augen, um sich zu ihren Fotos nicht äußern zu müssen.
Während die Anträge auf Ausreise und bei der Industrie-und Handelsbank die Gesuche um Geldumtausch liefen, bestellte Bruder Lutz in der Stadt, die in deinen Formularen zweisprachig, unter verschiedenen Namen auftauchte, als »Geburtsort« L. und als »Reiseziel« G., vorsichtshalber telegrafisch Hotelzimmer, denn ihr kennt in deiner Heimatstadt keine Menschenseele, bei der ihr hättet übernachten können. Fristgerecht konntet ihr sowohl die Anlagen zum Personalausweis als auch die dreimal dreihundert Zloty in Empfang nehmen, und du verrietest dich erst am Vorabend des geplanten Reisetages, als Bruder Lutz anrief und mitteilte, er habe es nicht geschafft, seine Papiere abzuholen: Da machte es dir nicht das geringste aus, eine ganze Woche später zu fahren.
Es war dann also Sonnabend, der 10. Juli 1971, der heißeste Tag dieses Monats, der seinerseits der heißeste Monat des Jahres war. Lenka, noch nicht fünfzehn und an Auslandsreisen gewöhnt, erklärte auf Befragen höflich, ja, sie sei neugierig, es interessiere sie, doch, ja. H., sowenig ausgeschlafen wie du selbst, setzte sich ans Steuer. An der verabredeten Stelle beim Bahnhof Schönefeld stand Bruder Lutz. Er bekam den Platz neben H., du saßest hinter ihm, Lenkas Kopf auf deinem Schoß, die, eine Gewohnheit aus Kleinkindertagen, bis zur Grenze schlief.
Frühere Entwürfe fingen anders an: mit der Flucht – als das Kind fast sechzehn war – oder mit dem Versuch, die Arbeit des Gedächtnisses zu beschreiben, als Krebsgang, als mühsame rückwärts gerichtete Bewegung, als Fallen in einen Zeitschacht, auf dessen Grund das Kind in aller Unschuld auf einer Steinstufe sitzt und zum erstenmal in seinem Leben in Gedanken zu sich selbst ICH sagt. Ja: am häufigsten hast du damit angefangen, diesen Augenblick zu beschreiben, der, wie du dich durch Nachfragen überzeugen konntest, so selten erinnert wird. Du aber hast eine wenn auch abgegriffene Original-Erinnerung zu bieten, denn es ist mehr als unwahrscheinlich, daß ein Außenstehender dem Kind zugesehen und ihm später berichtet haben soll, wie es da vor seines Vaters Ladentür saß und in Gedanken das neue Wort ausprobierte, ICH ICH ICH ICH ICH, jedesmal mit einem lustvollen Schrecken, von dem es niemandem sprechen durfte. Das war ihm gleich gewiß.
Nein. Kein fremder Zeuge, der so viele unserer Erinnerungen an die frühe Kindheit, die wir für echt halten, in Wirklichkeit überliefert hat. Die Szene ist legitimiert. Die Steinstufe (es gibt sie ja, du wirst sie nach sechsunddreißig Jahren wiederfinden, niedriger als erwartet: Aber wer wüßte heutzutage nicht, daß Kindheitsstätten die Angewohnheit haben zu schrumpfen?). Das unregelmäßige Ziegelsteinpflaster, das zu des Vaters Ladentür führt, Pfad im grundlosen Sand des Sonnenplatzes. Das Spätnachmittagslicht, das von rechts her in die Straße einfällt und von den gelblichen Fassaden der Pflesserschen Häuser zurückprallt. Die steifgliedrige Puppe Lieselotte mit ihren goldblonden Zöpfen und ihrem ewigen rotseidenen Volantkleid. Der Geruch des Haares dieser Puppe, nach all den Jahren, der sich so deutlich und unvorteilhaft von dem Geruch der echten, kurzen, dunkelbraunen Haare der viel älteren Puppe Charlotte unterschied, die von der Mutter auf das Kind gekommen war, den Namen der Mutter trug und am meisten geliebt wurde. Das Kind selbst aber, das nun zu erscheinen hätte? Kein Bild. Hier würde die Fälschung beginnen. Das Gedächtnis hat in diesem Kind gehockt und hat es überdauert. Du müßtest es aus einem Foto ausschneiden und in das Erinnerungsbild einkleben, das dadurch verdorben wäre. Collagen herstellen kann deine Absicht nicht sein.
Vor dem ersten Satz wäre hinter den Kulissen alles entschieden. Das Kind würde die Regieanweisungen ausführen: man hat es ans Gehorchen gewöhnt. Sooft du es brauchtest – die ersten Anläufe werden immer verpatzt –, würde es sich auf die Steinstufe niederhocken, die Puppe in den Arm nehmen, würde, verabredungsgemäß, in vorgeformter innerer Rede darüber staunen, daß es zum Glück als die echte Tochter seiner Eltern, des Kaufmanns Bruno Jordan und seiner Ehefrau Charlotte, und nicht etwa als Tochter des unheimlichen Kaufmanns Rambow von der Wepritzer Chaussee auf die Welt gekommen ist. (Kaufmann Rambow, der den Zuckerpreis von achtunddreißig Pfennig für das Pfund um halbe oder ganze Pfennige unterbot, um die Jordansche Konkurrenz am Sonnenplatz auszustechen: Das Kind weiß nicht, wie seine Beklemmung vor Kaufmann Rambow entstanden ist.) Aus dem Wohnzimmerfenster hätte die Mutter nun das Kind zum Abendbrot zu rufen, wobei sein Name, der hier gelten soll, zum erstenmal genannt wird: Nelly! (Und so, nebenbei, auch der Taufakt vollzogen wäre, ohne Hinweis auf die langwierigen Mühen bei der Suche nach passenden Namen.)
Nelly hat nun hineinzugehen, langsamer als gewöhnlich, denn ein Kind, das zum erstenmal in seinem Leben einen Schauder gespürt hat, als es ICH dachte, wird von der Stimme der Mutter nicht mehr gezogen wie von einer festen Schnur. Das Kind geht am Eckschaufenster des väterlichen Ladens vorbei, das mit Kathreiner-Malzkaffee-Päckchen und Knorr’s Suppenwürsten dekoriert sein mag und das heute (du weißt es seit jenem Julisonnabend des Jahres 71) zu einer Garageneinfahrt erweitert ist, in der vormittags um zehn, als ihr ankamt, ein Mann in grünem Arbeitshemd mit aufgekrempelten Ärmeln sein Auto wusch. Ihr zogt den Schluß, daß alle die Menschen, die jetzt am Sonnenplatz wohnen – auch jene aus den neugebauten Häusern –, im Genossenschaftsladen unten an der Wepritzer Chaussee kaufen, ehemals Kaufmann Rambow. (Wepritz heißt Weprice, wie es vermutlich auch früher geheißen hat, denn selbst in deiner Schulzeit wurde zugegeben, daß Ortsnamensendungen auf -itz und -ow auf slawische Siedlungsgründungen hindeuten.) Das Kind, Nelly, biegt um die Ecke,...
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