Schweitzer Fachinformationen
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Auf Professor Peter Ullrichs Schreibtisch lagen grob geknetete Figuren aus Ton. Sie hatten die Form von Föten. Besucher gingen automatisch davon aus, dass es sich um Geschenke eines Patienten handelte. Missglückte Versuche einer gequälten Seele aus der Beschäftigungs- oder Spieltherapie.
Der Professor ließ die Leute in dem Glauben. Aber er hatte die Figuren selbst geformt. Jedes Mal, wenn er sie ansah, erschrak er, und doch fand er sie vertraut. Vorsichtig berührte er eine gekrümmte, aufgeplatzte Gestalt. Sie kam ihm bestürzend lebendig vor. Etwas Böses ging von diesen Figuren aus. Er selbst hatte sie geschaffen, doch es kam ihm so vor, als hassten sie ihn. Wenn sie sich aus ihrer Erstarrung lösen könnten, würden sie mich angreifen, dachte er und zog den Finger unwillkürlich zurück. Er bewahrte längst nicht alle Figuren im Büro auf. Die schlimmsten Fratzen lagen zu Hause in der Tiefkühltruhe, neben den kopflosen Hechten und aufgeschnittenen Forellen.
Gern sah er seinen Fingern beim Kneten zu. Sie waren dann wie selbstständige, von ihm unabhängige kleine Wesen. Er registrierte lediglich ihr Tun, als sei das Ganze ein wissenschaftlicher Versuch. Eine interessante Testreihe: Was machen die Hände von Professor Ullrich, wenn er sie einfach sich selbst überlässt?
Seine Fingerkuppen kamen ihm empfindlicher vor als seine Lippen. Sein Tastsinn war so ausgeprägt, als habe er ewig lange in völliger Dunkelheit und Stille verbracht. Ganz auf Berührung angewiesen, um die Welt zu erfahren. Wie andere Zigaretten oder Lutschbonbons bei sich tragen, hatte er immer Knetgummi in der rechten Westentasche. Wenn er nichts knetete, hatte er etwas anderes zwischen den Fingern. Kronkorken. Büroklammern. Bleistifte. Papierkügelchen. Mit irgendetwas musste er immer spielen. Es war kein nervöses Herumfingern. Mehr ein meditativer Akt. Als könnte er Ruhe und Kraft aus den Dingen saugen. Als würde er sich mehr durch seine Fingerkuppen ernähren als durch Mund und Speiseröhre.
Seine Fingernägel waren stets gepflegt. Er reinigte sie mehrmals am Tag mit einer speziellen, nicht zu harten Nagelbürste unter klarem Wasser und feilte sie in eine ovale, fast spitz zulaufende Form. Bei dem Gedanken, eine Nagelschere zu verwenden, schauderte er. Er konnte auch anderen Menschen nicht dabei zusehen. Es war für ihn, als würden Gliedmaße abgeschnitten.
In seinem Arbeitszimmer hingen Vergrößerungen seiner Fingerabdrücke in Schwarz, Blau und Rot an der Wand. Als hätte Andy Warhol sich nicht mit dem Gesicht von Marilyn befasst, sondern mit den Daumenabdrücken von Professor Ullrich. Sie waren fußballgroß. Es hatte etwas von Kunst und zugleich etwas von einer Fahndungsakte an sich. Er drehte seinen Ledersessel und betrachtete die zerklüfteten Landschaften. Wie ausgetrocknete Flussbetten, verschlungen und labyrinthisch. So ähnlich stellte er sich Thara vor. Den Ort, von dem Vivien kam und über den sie mehr wusste als irgendein anderes Lebewesen im Jetzt.
Langsam griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Monitor ein. Da war sie: Vivien. Endlich schrieb sie wieder. Ihr Körper krümmte sich über das Papier, als müsse sie die Sätze aus sich herauspressen. Auf dem Bildschirm glich sie auf fatale Weise in Größe und Form den tönernen Figuren. Sie sah genauso gequält aus, nur hielt ihre Haut sie noch zusammen. Das Innere platzte nicht einfach aus ihr heraus.
Sie atmete schwer. Wenn sie über Thara redete oder schrieb, wurde sie oft asthmatisch. Dann durchzogen rote Äderchen das Weiße in ihren Augen. Ihr Blutdruck stieg auf 180 zu 220, der Puls raste. Professor Ullrich hatte ihn oft gemessen. Besonders nachts, um sie wecken zu können, wenn sie wieder in Thara war. Doch meist war sie dann verwirrt und ängstlich, und ihre Berichte gaben nicht viel her. Inzwischen verzichtete er ganz auf solche Messungen. Was sagten sie schon aus? Körperreaktionen, mehr nicht.
Er switchte auf Bildausschnitt. Am liebsten würde er direkt mitlesen, was sie schrieb, aber ihre vorgebeugte Schulter verbarg den Text. Ihre Haare glänzten kupferfarben, reflektierten das zu helle Neonlicht. Vivien veränderte ihre Haarfarbe alle paar Tage, so als suche sie noch nach der richtigen. Mit Tönungen oder Henna konnte er ihr immer eine Freude machen. Er hatte sie schon mit grünen, blauen und blonden Haaren gesehen, aber Rot war ihre absolute Lieblingsfarbe. Sie probierte eine Schattierung nach der anderen aus.
Die Sprechanlage auf seinem Schreibtisch knisterte und piepste. Frau Dr.Sabrina Schumann wollte ihn sprechen, dringend. Er grollte. Alles war immer dringend. Wahrscheinlich wollte nur irgendein Krankenhausfuzzi die Belegdaten diskutieren. Wie sehr er diese Typen mit ihrem Halbwissen und ihrer Macht hasste! Statt sich seinen Patienten zu widmen, musste er mit diesen Trotteln Smalltalk halten, damit die Mittel nicht gekürzt wurden. Wie viele Stunden seines Lebens hatte er damit verbracht? Würden die auch nur erahnen, welch bedeutende Forschungen sie mit ihrem Geschwätz unterbrachen, sie würden sich vor Angst und Scham die Pulsadern öffnen.
Das alles sagte er natürlich nicht. Er hatte sich im Griff, war freundlich wie immer. Doch Sabrina Schumann erkannte seinen Unmut. Sie hatte gelernt, bei ihm auf die Zwischentöne zu lauschen.
«Bitte», sagte sie, «hier ist Vivien Schneiders Vater. Er will sie ...»
Professor Ullrich reagierte, als habe die Sintflut die Wände seines Büros eingedrückt. Er sprang zum Fenster, riss es auf und wählte den kürzesten Weg zum Verwaltungsgebäude. Quer durch den Garten.
Schwester Inge beobachtete ihn. Sie stieß Marga Vollmers, die dicke Putzfrau, an. Sie nickten einander zu. Der hatte sie nicht alle, das war sonnenklar. Inge regte sich noch auf über ihn, für Marga stand längst fest, dass er sein Büro bald gegen ein Zimmer in der Geschlossenen eintauschen würde, wenn er so weitermachte.
Peter Ullrich war ein kleiner, drahtiger Mann. Hinter seinem Schreibtisch wirkte er feingliedrig und vergeistigt. Gar nicht wie Mitte fünfzig, eher wie jemand, der ohne ersichtlichen Grund aufgehört hat zu altern. Er konnte zwischen fünfunddreißig und sechzig sein. Wie er jetzt mit vorgerecktem Kopf über die Wiese jagte, hatte er nichts Akademisches mehr an sich. Er trug das Hemd offen über der Hose. Nur die letzten Knöpfe waren geschlossen. Er trug Hemden wie andere Menschen Kittel. So lief er im Sommer wie im Winter herum. Er fror nie. Krawatten waren ihm ein Gräuel. Er fühlte sich schon, als sollte er erdrosselt werden, wenn er auf Wunsch der Klinikleitung bei einer Fachkonferenz nur den obersten Knopf am Hemd schließen musste.
Vor der Tür zum Verwaltungsgebäude stoppte er abrupt und walkte sein Gesicht. Die Bartstoppeln erinnerten ihn daran, dass er letzte Nacht nicht zu Hause verbracht, sondern über Viviens Aufzeichnungen gesessen hatte. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er machte sich gerade und versuchte zu lächeln. Dann erst trat er ein.
Die Verwaltungsdirektorin begrüßte er mit einem kurzen Nicken. Sie federte von ihrem Stuhl hoch, überprüfte mit einem raschen Blick in den Spiegel den Sitz ihrer neuen Frisur und strich den knapp sitzenden Rock ihres hellgrauen Kostüms glatt. Eigentlich hatte sie Größe 42. Doch sie versuchte, sich in 38 hineinzuhungern. Der Rock hatte 40 und saß spack. Seit Professor Ullrich ihr einmal ein Kompliment über ihre Beine gemacht hatte, war sie nie wieder im Hosenanzug in die Klinik gegangen. Sie trug nur noch Röcke oder Kleider und trainierte ihre Beine auf dem Fahrrad.
Der Professor bemerkte nicht einmal, dass die grauen Strähnchen frisch getönt waren. Er taxierte Viviens Vater.
Richard Schneider hatte einen vorstehenden, kantigen Unterkiefer. Professor Ullrich dachte sofort an den Gebrauch von Steroiden. Allerdings passte der Rest des Körpers nicht dazu. Er wirkte durchaus muskulös, aber keineswegs aufgebläht.
Schneider hatte blassblaue, leicht getrübte Augen, und den misstrauischen Blick kannte Professor Ullrich von Vivien. Der ganze Mann strahlte etwas Gehetztes aus. Sein Anzug war leicht zerknittert. Er trug sein Handy am Gürtel wie eine schussbereite Waffe. Sein Händedruck war lasch. Kraftlos hielt er die Hand hin wie ein totes, feuchtes Stück Fleisch. Professor Ullrich packte extra energisch zu; Schneider sollte gleich merken, mit wem er es zu tun hatte. Der Mann war aufgewühlt und unsicher. Eine explosive Mischung aus Tatendrang und schlechtem Gewissen. Als Professor Ullrich seine Hand zurückzog, glaubte er das Nikotin zu spüren, das zwischen Schneiders Zeige- und Mittelfinger die Haut gelb gefärbt hatte. Er holte sein Stofftaschentuch hervor und wischte sich die Finger ab.
Frau Dr.Sabrina Schumann straffte sich - Brust raus, Bauch rein -, warf die Haare zurück und versuchte zu vermitteln, bevor der Streit begann. «Herr Schneider möchte seine Tochter sehen und, wenn es geht, übers Wochenende mit nach Hause nehmen.» Sie versuchte ein verbindliches Lächeln. Keiner der Männer reagierte darauf, so künstlich wirkte es. Sie fuhr fort, als könne sie mit ihrem Redefluss die drohende Katastrophe aufhalten: «Herr Schneider ist in unsere Nähe gezogen, damit er den Kontakt zu Vivien in Zukunft besser halten kann. Wie wir alle wissen, war er in der letzten Zeit beruflich und familiär in einer angespannten Lage und konnte sich leider nicht so intensiv um seine Tochter kümmern, wie es aus therapeutischer Sicht vielleicht nötig gewesen wäre.»
Richard Schneider kaute schuldbewusst auf der Unterlippe und starrte seine Schuhspitzen an. Das Leder war brüchig und hatte ein paar feine Risse, die ihm jetzt erst auffielen. Die Schuhe waren nicht schmutzig, sie sahen alt aus....
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