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KAPITEL 2
Der Mann hat sich bestens auf seine Mission vorbereitet. Er hat sein Auto, einen schwarzen VW-Polo, vier Mal umgeparkt, um mögliche Verfolger abzuschütteln. Darin hat er seine Habseligkeiten zurückgelassen. Im Wagen werden Ermittler später mehr als 20 Gramm Kokain finden, eine schwarze Schreckschusswaffe und einen silbernen Schlagring.[1] Er lässt sein Auto in der Nähe des Bahnhofs stehen und besteigt ein Taxi. Der Mann trägt auf seiner Mission eine schwarze Jogginghose mit seitlichen schwarzen Streifen, ein schwarzes Sweatshirt, eine schwarze Sonnenbrille, eine schwarze Mütze, eine schwarze Umhängetasche. Und eine scharfe Handgranate. Dem Taxi-Fahrer zahlt er 100 Euro in bar und weist ihn an, zum Friedhof der kleinen Provinzstadt Altbach zu fahren. Sein Fahrer soll vor der Aussegnungshalle auf ihn warten. Er brauche nur fünf bis zehn Minuten, dann könnten sie wieder zurück nach Göppingen fahren.
Der 9. Juni 2023 ist ein sonniger Tag in der schwäbischen Provinz. Am Friedhof Altbach möchte eine große Trauergemeinde einem der ihren die letzte Ehre erweisen. Die Menschen bereiten sich darauf vor, den Sarg eines jungen Kenianers von der Aussegnungshalle zur Grabstelle zu geleiten. Er war bei einem Zug-Unfall ums Leben gekommen. Hunderte warten, die Stimmung ist andächtig. Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Der Mann aus dem Taxi hat anderes im Sinn. Sein Plan ist brachial, er glaubt: todsicher. Die Handgranate vom Typ M75 ist ein jugoslawisches Modell, in ihr verbergen sich 3000 Stahlkugeln mit jeweils einem Durchmesser von zwei bis drei Millimetern. Nach der Zündung beschleunigen Stahlkugeln wie diese auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 528 Meter pro Sekunde und durchlöchern alles, was ihnen im Weg steht.
Etwas unterhalb der Aussegnungshalle hält sich der ganz in Schwarz gekleidete Attentäter im Schatten der Bäume versteckt. Kurz vor 12 Uhr wird der Sarg ins Freie getragen. Die Trauergesellschaft erweist ihren letzten Respekt, Familienangehörige verteilen Blumen. Währenddessen entsichert der Mann in Schwarz seine Bombe, holt aus und schleudert sie auf die Trauernden. Die Granate streift den Ast eines Baumes, wird abgelenkt, kommt 17 Meter vor der Aussegnungshalle auf dem Asphalt auf und detoniert.
Der Mann, der hier zum Attentäter wurde, gehört zu einer Gruppierung aus dem Raum Stuttgart-Zuffenhausen. Er hat es auf die Beerdigung abgesehen, weil sich viele Anhänger und Mitglieder einer konkurrierenden Bande unter den Trauergästen befinden. Sie stammen aus Stuttgart, Plochingen und Esslingen. Der Mordanschlag ist der Höhepunkt einer brutalen Fehde, die sich über Monate hinweg aufgebaut hat.
Moment mal. Banden? Handgranaten? In Baden-Württemberg? Das ist doch Mercedes-Country und Kehrwoche, Spa¨tzle und Seitenbacher-Mu¨sli. Facharbeiter, die beim Bosch schaffen und Einfamilienhaus-Idylle. Was ist da los im La¨ndle? Was hier geschieht, hat mit der klassischen Vorstellung von Jugendkriminalität nur noch am Rande zu tun. Die jungen Männer, die sich hier bekriegen, tragen nicht mehr nur Messer in der Jackentasche, sondern im Zweifel Handgranaten im Rucksack. Und all das am helllichten Tag, mitten in der schwäbischen Provinz.
Wer verstehen will, warum sich so etwas selbst in einem Bundesland abspielt, das traditionell für Stabilität, Wohlstand und Ordnung steht, muss bereit sein, neue Perspektiven einzunehmen. Denn hier entsteht eine andere Form von Gewalt: roh, medial aufgeladen, entgrenzt. Kein klar umrissenes Milieu, kein ideologisches Zentrum. Sondern ein toxisches Gemisch aus gekränkter Männlichkeit, Geltungssucht, Gruppendruck und subkulturellem Habitus. Das macht es für Polizei und Justiz so schwer.
Denn Kriminalisten arbeiten gerne mit bekannten Mustern. Da sind die libanesisch-kurdisch geprägten Clans in NRW und Berlin. Die weit verzweigte Mafia. Die markigen Rocker mit ihren Kutten. Doch diese neuen Täter, die sich gegenseitig mit Kriegswaffen wie Handgranaten bekämpfen, geben den Sicherheitsbehörden Rätsel auf.
«Wir erleben hier ein neues Phänomen, das in keines der gängigen Raster passt», sagt Andreas Stenger, Präsident des Landeskriminalamts von Baden-Württemberg.[2] «Die Gruppen sind keine klassischen Banden, weil es nur einen losen Zusammenschluss gibt, keine dauerhaften festen Strukturen. Sie sind auch keine Clans, es fehlt das gemeinsame Abstammungsverhältnis. Organisierte Kriminalität ist zumeist auf ein klares wirtschaftliches Ziel ausgerichtet, das konnten wir ebenfalls nicht feststellen.»
Shariar K., der Attentäter aus dem Taxi, verfehlt an diesem Tag sein Ziel. Weil die Granate den Ast streifte, stirbt keiner. Die große Tragödie bleibt aus. Doch 15 Menschen werden durch die Stahlkugeln und Splitter zum Teil schwer verletzt. In mehreren Fällen verpassen die Geschosse große Blutgefäße und Arterien nur um Millimeter.[3] Viele der Opfer werden ihr Leben lang durch den Anschlag gezeichnet sein, körperlich und psychisch.
Der Ta¨ter, Sohn kurdischer Eltern aus dem Iran, flüchtet nach der Tat panisch zu seinem abfahrbereiten Taxi, wird aber von einem Mob wütender Trauergäste wieder aus dem Wagen gezerrt und schlimm zugerichtet. Im Katharinenhospital Stuttgart versetzen ihn die Ärzte in ein künstliches Koma. Noch heute leidet er an Wortfindungsstörungen und einem verlangsamten Denkvermögen.[4]
Die Auseinandersetzung begann wahrscheinlich mit einem verwackelten Handy-Video, das sich über die Messengerdienste verbreitete. Allerdings konnte auch das LKA den Ursprung des Konflikts bis heute nicht zweifelsfrei identifizieren. In jenem Video wird ein Anführer einer der Gruppierungen beleidigt. Danach drehte sich die Spirale weiter, kreiste seitdem um toxische Männlichkeit und verletzte Ehre, um Rachegedanken und Respekt - und wenn dieser verletzt wird, gehen die Gruppen rücksichtlos vor.
Die Mitglieder sind ausschließlich junge Männer im Alter von 18 bis 28 Jahren, fast alle haben eine eigene Zuwanderungsgeschichte oder einen familiären Migrationshintergrund. Viele sind in prekären Strukturen aufgewachsen und haben keine gute Perspektive auf dem Arbeitsmarkt.
«Wir stellen eine gewisse Vorherrschaft von Anhängern mit türkisch-kurdischem Hintergrund fest, aber grundsätzlich gilt: Die Gruppen sind multiethnisch - und polykriminell», sagt der LKA-Präsident. «Der einende Faktor ist das Quartier, die Straßenecke, das Hochhaus, in dem die Mitglieder aufgewachsen sind.» Andreas Stenger hat für diese Art der Gewalt einen neuen Begriff geprägt: «Wir bezeichnen diesen Konflikt als subkulturelle Gewaltkriminalität.»
Es gibt die multiethnischen Gruppen, bei denen die Eltern oft nur gebrochen Deutsch sprechen. Aber daneben beschreiben Kriminalisten auch ein anderes Phänomen am äußersten rechten Rand, das aber ganz ähnlich funktioniert. Deutsche Jugendliche, die sich in Gruppen zusammentun und Versatzstücke aus verschiedenen rechtsextremen Strömungen aufnehmen: Es entsteht eine Subkultur aus Fremdenfeindlichkeit, NS-Folklore, Rechtsrock und Kampfsport - aber wenig, das auf eine systematische und in sich kohärente Weltanschauung hindeutet.
Und noch etwas anderes fällt den Ermittlern auf: Die Auseinandersetzungen der Gruppierungen finden nicht mehr (nur) in Hinterhöfen oder Industriebrachen statt, sondern vor aller Augen, auch am hellichten Tag. In den Fußgängerzonen, mitten in belebten Shisha-Bars. Auf dem Friedhof. Gleichzeitig sind Bühnen wie Instagram und TikTok entstanden, die in Konflikten wie diesem wie Brandbeschleuniger wirken.
LKA-Chef Stenger sagt: «Die digitalen Kanäle spielen eine große Rolle in diesem Konflikt. Rapmusik ebenfalls.» In den Videos der Rapper finden sich versteckte Anspielungen auf die Stuttgarter Banden. Ermittler erkennen einige der Statisten aus ihren Ermittlungen. Sie sagen: Die Rapper und die Gangster, das ist ein...
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