Cecilia
Meine ersten Kindheitsjahre waren sehr schön. Bis ich fünf Jahre alt war, lebte ich bei meinen Großeltern auf dem Land in einem schönen Haus mit einem tollen Garten. Mein Opa hatte mir sogar eine Schaukel gebaut. Es waren die Eltern meiner Mutter. Der selbstgebackene Kuchen und das schmackhaft gekochte Essen waren wunderbar. Das ganze Haus war jeden Tag von leckeren Gerüchen erfüllt. Mir lief immer das Wasser im Mund zusammen.
Warum lebte ich dort?
Oma erzählte mir, als ich geboren wurde, war meine Mutter noch sehr jung und viel zu unreif für ein Baby. Aus diesem Grund beschlossen sie und Mama, dass ich die ersten Jahre bei Oma und Opa wohnen sollte, und sobald meine Mutter eine Ausbildung oder einen Job gefunden hätte, sie mich zu sich holen würde. Meinen biologischen Vater kannte und kenne ich nicht. Als kleines Kind dachte ich darüber nicht nach, dafür fühlte ich mich viel zu wohl. Mir ging es gut, es fehlte mir an nichts. Mein Opa tobte mit mir im Garten herum, spielte mit mir im eigens errichteten Sandkasten und zeigte mir die Umgebung mit ganz viel Erklärungen über die Natur. Es war nie langweilig, er erklärte alles so interessant, dass ich aufmerksam seinen Worten lauschte. Auf den Gedanken, dass ich irgendwann zu meiner Mutter zurück sollte, kam ich nicht. Meine Oma achtete immer sehr darauf, dass ich sauber war und schöne Anziehsachen hatte. Bis mittags ging ich in den Kindergarten im Dorf. Es gefiel mir so gut, ich spielte mit vielen anderen Kindern, am liebsten malte und knetete ich. Zu Hause hatte ich alles dafür, Malhefte, Zeichenblöcke, Stifte, Knete in allen Variationen (Eismaschine, Pizzabäcker, sogar ein Zahnarztspiel aus Knete). Aber auch von anderen Spielen hatte ich genug. Puppen in allen Größen, Barbies, einen Puppenwagen, alles, was ein Kinderherz erfreut.
Wenn meine Oma Kuchen buk, durfte ich immer die Schüssel auslecken. Ich war beschmiert mit dem Teig bis an meine Ohren und Oma lachte mich dann aus: "Engelchen, jetzt aber waschen gehen", lachte sie in solchen Momenten. Ja, ich war ein sehr glückliches Kind. Wenn ich aus dem Kindergarten etwas Selbstgebasteltes mit heimbrachte, strahlte sie mich an und lobte mich, rief sofort meinen Opa: "Schau mal, was Cecilia Schönes für uns gemacht hat."
Er streichelte meinen Kopf: "Fein hast du das gemacht, Süße." Oma und Opa bewahrten alles von mir sorgsam auf. Lob war für mich das größte Geschenk.
Wenn einer von beiden Geburtstag hatte, durfte ich immer mitfahren, um ein Geschenk zu kaufen. Weihnachten war es genauso. Ich war aber stets so aufgeregt, dass ich es einmal vorher schon verraten hatte, was Oma von mir geschenkt bekam. Aber sie war mir nicht böse. Meine Großeltern haben gelacht.
Natürlich kam meine Mutter mich ab und an besuchen. Oft fanden diese Treffen jedoch nicht statt. Da ich mich aber so pudelwohl fühlte, war mir das eigentlich auch egal. Wirklichen Bezug hatte ich zu meiner Mama nicht. Wenn sie kam, war sie meistens schlecht gelaunt, sie sprach nicht viel mit mir und brachte mir nie ein kleines Geschenk mit. Ich meine keine Geschenke im großen Stil, um Gottes willen, nein. Aber mal eine Tafel Schokolade, ein Überraschungsei, ein Malbuch waren doch nicht teuer, und ein kleines Kind freut sich darüber. Tat sie aber nicht. Als ich noch klein war, fragte ich mich schon, warum sie mir nicht einmal einen Schokoriegel mitbrachte, aber nur am Rande. Wirkliche Gedanken machte ich mir darüber nicht.
Jeden Abend las mir meine Oma oder mein Opa eine Geschichte vor und so glitt ich glücklich und zufrieden ins Traumland.
Leider hörte ich neuerdings immer öfter Gespräche, in denen es darum ging, dass ich zurück zu meiner Mutter kommen sollte. Ich war noch klein, aber so viel bekam ich schon mit. Für mich war meine Mutter wie eine Fremde. Sie knuddelte mich nicht, spielte nicht mit mir und tat auch sonst nichts, was uns verbinden könnte. 'Ach quatsch, sie redeten bestimmt nur so. Sie würde mich nicht zu sich holen, weil es mir doch hier so gut ging.' Trotzdem ging mir der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf.
'Werde ich für immer hier bleiben? Oh bitte, bitte, hier möchte ich nie wieder weg. Es ist doch gut so. Mama kommt mich besuchen, ansonsten lebe ich bei Oma und Opa und das ist so schön.' Mehr brauchte ich nicht. Trotzdem fragte ich mich öfter, warum Mama immer so ernst war.
Ich liebte meine Großeltern so sehr und kannte nichts anderes. Meine Freundinnen im Kindergarten wollte ich nicht aufgeben. Nein, ich wollte für immer hier bleiben und beschloss, mir darüber keine weiteren Gedanken zu machen. Alles ist gut so, wie es ist, warum sollte das verändert werden?
Eines Abends stellte ich diese Frage ängstlich beim Abendessen: "Oma . muss ich von euch weg?"
Erschrocken sah sie mich an: "Warum fragst du das denn, Mäuschen?" Schulterzuckend saß ich am Tisch, konnte es zusammenhängend noch nicht so erklären: "Wenn Mama mich einfach mitnimmt?"
Mit ernster Miene zog sie mich auf ihren Schoß, nahm mich fest in ihre Arme.
"Ach Engelchen, für immer kannst du nicht hier bleiben. Irgendwann wird die Mama dich zu sich holen wollen. Du bist ja ihr Kind und sie liebt dich. Schau, Oma und Opa werden immer älter und wenn du dann in die Schule gehen musst, ist es schon besser, wenn du bei Mama bist."
"Habt ihr mich denn nicht mehr lieb?", fragte ich zögerlich.
"Aber natürlich, wir lieben dich mehr als alles andere, das darfst du nicht vergessen. Aber Kinder gehören eben auch zu ihren Eltern, in deinem Fall zu deiner Mama."
"Ich bin ganz lieb, Oma. Ich werde euch immer helfen, wenn ich ein bisschen größer bin. Bitte, lasst mich bei euch bleiben", bettelte ich mit Tränen in den Augen.
"Mäuschen, noch ist es doch noch gar nicht so weit. Wer weiß, wie alles kommt. Wollen wir uns deshalb jetzt schon verrückt machen? Du bist doch noch hier und weiter denken wir erst mal nicht, o. k.? Magst du noch eine heiße Schokolade? Und noch eine Geschichte?"
Oma wollte mich ablenken und ich tat so, als hätte sie es geschafft. Aber dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los. Keinen einzigen Tag. Ich war nur noch traurig und hoffte, der Tag, an dem Mama mich holte, würde nie kommen und sie wollte mich gar nicht bei sich haben. Vielleicht war es ja sogar so. Sie wollte mich gar nicht und ließ mich einfach hier. Dieser Gedanke tröstete mich etwas.
Mein Opa oder meine Oma brachten mich jeden Tag in den Kindergarten und holten mich mittags wieder ab. Den ganzen Weg nach Hause plapperte ich drauflos und erzählte alles, was ich erlebt und getan hatte. Ich war immer lieb, aber sehr mitteilungsbedürftig und etwas wild. Toben und plappern beherrschte ich am besten. Wenn ich heute darüber nachdenke, frage ich mich, wo ist dieses glückliche Kind geblieben? Die Antwort ist ganz klar - bei Oma und Opa. Dort ließ ich meine sorglose und glückliche Kindheit zurück.
An diesem Tag holte mich mein Opa vom Kindergarten ab. Ich lief in seine Arme, er knuddelte mich wie immer. Auf dem Heimweg erzählte er mir: "Deine Mama ist bei uns."
Ich nickte mit dem Kopf. Für mich war es nach wie vor nichts Besonderes. Mein Opa war sehr ruhig auf dem Heimweg, doch ich plapperte und plapperte. Zu Hause angekommen, hörte ich die zwei Frauen streiten.
"Lass Cecilia doch noch hier. Sie ist doch so glücklich."
"Ja, aber sie soll zu mir kommen und mich besuchen. Wir werden dann doch sehen, ob sie vielleicht sogar zu mir möchte." Diese Worte verstand ich ganz genau, raste in die Küche, warf mich in Omas Arme und schrie: "Nein, ich will hier nicht weg, ich will hier bleiben."
Vorsichtig kam Mama auf mich zu: "Cecilia, ich möchte dich nur zu einem Besuch mitnehmen. Schau mal, ich habe einen Mann kennengelernt, der ist sehr nett und würde dich auch gern kennenlernen."
Ich verstand nur Bahnhof, nämlich gar nichts. Nur eins wusste ich und das ganz genau - niemals will ich hier von dem für mich schönsten Ort und von den liebsten Großeltern der Welt weg.
"Nein!", schrie ich.
"Doch!", blaffte Mama gleich zurück, ich zuckte vor Schreck zusammen. "Du gehörst nun mal zu mir. Dass du hier gewohnt hast, war eine Notlösung, aber jetzt solltest du zu mir, ich bin deine Mama."
Sie nahm mich nicht in den Arm, versuchte mir nicht alles ruhig zu erklären. Es war eher so, sie bestimmte das und ich hatte mich zu fügen. Fertig. Dass sie mich aus allem rausreißen wollte, kam ihr bestimmt nicht in den Sinn.
An diesem Tag nahm sie mich für den ganzen Nachmittag mit zu sich nach Hause. Widerwillig ging ich selbstverständlich mit. Ich hatte keine andere Wahl. Wir mussten mit der Bahn in die Stadt fahren, dann war es nur noch ein Fußweg und wir waren da. Ein riesiger Wohnblock stand vor mir, rundherum überall standen diese riesigen Vierecke. Gebäude an Gebäude. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Himmel, wie viele Menschen leben denn hier? In der dritten Etage schloss Mama eine Tür auf und schob mich hinein. Hier stank es komisch, beschreiben konnte ich den Geruch nicht. Irgendwie alt und moderig, nicht so wie bei Oma nach frischer Wäsche und Kuchen, sauber und lecker eben. Als ich ins Wohnzimmer geschoben wurde, sah ich, wonach es noch roch - nach Zigarettenqualm. Der Freund meiner Mama...