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ES GEFÄLLT RUTH SELBST NICHT, aber seit einiger Zeit (oder schon etwas länger) kommen ihr Männer wie der Journalist, der ihr seit einer halben Stunde gegenübersitzt, jung vor. Er ist vermutlich Anfang, Mitte dreißig.
«Sie haben Ihre Karriere sehr konsequent verfolgt», sagt er und sieht sie mit einem professionell freundlich fragenden Blick an. «Sind Sie eine ehrgeizige Frau?»
Ursprünglich hat sich Ruth auf das Interview gefreut. Es geht ja um sie. Auf einmal interessiert sich eine breitere Öffentlichkeit für ihr Leben, und warum sollte sie das nicht genießen? Ihre Bedeutung ist gewachsen. Aber der gestrige Tag steckt ihr noch wie eine diffuse Niederlage in den Knochen. Sind Sie eine ehrgeizige Frau? Würde man einen Mann dasselbe fragen? Im Moment - so empfindet Ruth es - ist sie eine Frau, die von einem Hund gebissen worden ist und sich danach ziemlich dumm verhalten hat. Wahrscheinlich wäre das sogar eine persönliche Geschichte, wie Journalisten sie als Homestory gerne schreiben. Ihr Gegenüber hätte sicher nichts dagegen, wenn sie ihm die gestrige Episode schildern würde. Aber sie ist noch zu frisch. Vielleicht wird sie irgendwann mal zu einer Anekdote, die man Freunden auf einer Party mit einer Prise Selbstironie erzählt.
Trotz ihrer zwiespältigen Gefühle gegenüber dem Interview kann Ruth sich auf ihre langjährige rhetorische Erfahrung verlassen. Sie geht auf die Frage nach ihrem Ehrgeiz nicht ein, sondern knüpft an die Behauptung an, die ihr vorausgegangen ist.
«Ach, was heißt konsequent?», sagt sie in einem lockeren Tonfall, der ihre gedämpfte Stimmung übertünchen soll. «Es stimmt schon, dass ich immer in etwa wusste, wo ich hinwollte. Aber ein gestecktes Ziel auch zu erreichen, dazu gehören viel Glück, gute Gelegenheiten und offene Türen in dem Moment, da man davorsteht. Es lässt sich nicht alles vorausplanen, schon gar nicht, Mitglied des Deutschen Ethikrats zu werden. Es bleibt natürlich nicht aus, dass man an einer Hochschule auch in bildungspolitische Prozesse eingebunden ist und sich daraus, erst recht hier in Berlin, Kontakte in die Politik ergeben. Ich gehöre keiner Partei an, aber an meinen Veröffentlichungen lässt sich ja ablesen, wo im politischen Spektrum ich ungefähr stehe. Neue Mitglieder für den Ethikrat werden von der Bundesregierung und von den im Bundestag vertretenen Parteien nominiert. Offenbar traut man mir - übrigens über ein paar Parteigrenzen hinweg - die fachliche Kompetenz zu, den Abgeordneten bei schwierigen ethischen Abwägungen zu helfen und ihnen die unterschiedlichen Aspekte einer zu treffenden Entscheidung vor Augen zu führen. Ich betrachte das als große Ehre, für die ich sehr dankbar bin.»
All das stimmt, aber Ruth weiß, dass sie sich formelhaft ausdrückt. Mehr ist sie nicht bereit preiszugeben. Im Moment ist sie verletzlich. Der Journalist hat dunkel gewellte, nach hinten gekämmte Haare und höfliche Umgangsformen. Er sitzt dort, wo gestern Heinrich gesessen und über die Umweltproteste gesprochen hat. Auf dem Tisch zwischen ihnen liegt sein Telefon, mit dem er das Gespräch aufzeichnet. Sie hat dem zugestimmt.
«Die gegenwärtigen Herausforderungen sind enorm», nickt er. «Und nun ist auch noch der Krieg in der Ukraine hinzugekommen. Steht der Ethikrat da nicht auf verlorenem Posten? Oder ist er von der Dimension der zu treffenden Entscheidungen nicht schlicht überfordert?»
Sie nickt nachdenklich, sagt dann aber: «Noch ist der Krieg nur ein ferner Krisen-Booster. Lässt man ihn zunächst einmal außen vor, sind die grundsätzlichen Probleme, denen wir gegenüberstehen, ja nicht neu: der Klimawandel, der Zwang zum ökonomischen Wachstum, der massenhafte Konsum von nicht nachhaltigen Waren . Ich bin während meines Studiums in einen Bioladen gegangen und habe Sojafleisch und Algen ausprobiert. Es hat scheußlich geschmeckt, ich hatte keine Ahnung vom Kochen, schon gar nicht vom Zubereiten getrockneter Algen. Das ist mehr als dreißig Jahre her. Mittlerweile finden wir Algen-Snacks und Veggie-Burger in den Supermarktregalen. Was auch immer man von solchen Produkten halten mag, für mich ist das ein Fortschritt. Wir waren eine Minderheit. Meine Eltern dachten noch, Müsli zu essen wäre etwas für Öko-Spinner. Mittlerweile können wir uns vor sogenannten Frühstückscerealien gar nicht mehr retten . Wussten Sie», versucht sie ihren leicht plaudernden Tonfall beizubehalten, «dass der Ausdruck Cerealien auf die Antike zurückgeht? Die Göttin des Ackerbaus - bei den Griechen Demeter - hieß bei den Römern Ceres. Sie war für Obst und Getreide zuständig. Und die Feste ihr zu Ehren nannten sich Cerialien. Ich nehme an, die Werbebranche fand das Wort einfach nur schick. Aber seit sie es eingeführt haben, huldigen wir morgens beim Müsliessen einem weiblichen Fruchtbarkeitskult.»
Der Journalist nickt, undurchsichtig lächelnd. Es ist nicht klar, ob er das unfreiwillig Komische daran sieht.
«In unserer gesellschaftlichen Realität gehören Fruchtbarkeitskulte ja einer sehr fernen Vergangenheit an. Es gibt viele Frauen, die heute sagen, dass sie es nicht verantworten können, Kinder in diese Welt zu setzen. Haben diese Frauen recht? Was würden Sie ihnen als Ethikerin raten?»
Wahrscheinlich geht er davon aus, dass sie eine Tochter hat. In ihrem Wikipedia-Eintrag und den verschiedenen, im Netz kursierenden Kurzbiografien über sie heißt es: Ruth Lember lebt mit ihrem Mann und einer Tochter in Berlin. Dass Jenny nicht ihre biologische Tochter ist, steht nirgendwo.
«Nein, ich glaube nicht, dass der Zustand der Welt dagegenspricht, Kinder zu bekommen. Ich verstehe junge Frauen sehr gut, die der Gedanke, Mutter zu werden, ängstigt. Soll ich ehrlich sein?», eine Floskel, die gar nichts bedeutet, schon gar nicht Ehrlichkeit, «Wir - das ist allerdings, soweit ich weiß, eine sehr westdeutsche Erfahrung - haben begeistert bei Nina Hagen mitgesungen: Wir waren nicht wild darauf, so schnell wie möglich Mütter zu werden. Leider haben sich - im Gegensatz zu den Supermarktregalen - die Rollenbilder in den vergangenen Jahrzehnten nicht so sehr verändert. Junge Frauen müssen sich heute selbst definieren, müssen herausfinden, was sie wollen, und das ist schwieriger denn je. Die Lockdowns haben sehr deutlich gezeigt, dass es am Ende vor allem sie sind, die die Folgen einer Entscheidung für ein Kind zu tragen haben. Dennoch denke ich, wenn sie sich aus freien Stücken dazu entschließen, dann sollten sie sich durch den Zustand der Welt, der zweifellos bedrohlich ist, nicht davon abhalten lassen, Kinder zu bekommen.»
Es war zu Beginn nicht leicht, erinnert sich Ruth, von Jenny akzeptiert zu werden. Wie nannte man das eigentlich? Zweitmutter? Erziehungsberechtigte? Patchworkmama? Ziehmutter war dem Sinn nach nicht ganz korrekt, und Stiefmutter klang schrecklich, ganz nach märchenhafter Boshaftigkeit. Der Sprache fehlte hier offensichtlich noch ein angemessener Ausdruck.
Als Bens zweite Ehefrau hatte Ruth den Wunsch, ja, den Ehrgeiz, Jennys Liebe zu gewinnen. Sie versuchte, sich nicht entmutigen zu lassen, wenn Jenny ihr im Streit wieder einmal entgegenhielt, dass sie schließlich nicht ihre richtige Mutter sei. Vielleicht wäre es mit einem leiblichen Kind einfacher gewesen. Aber woher soll sie das wissen? Es hatte nicht an ihr gelegen, dass sie keines bekommen hatte. Aber es ist ihr lieber, dem Journalisten gegenüber auf Nina Hagen zu verweisen, als ihm von André zu erzählen .
Mit den Jahren wurde es besser. Wenn sie schon nicht Jennys Mutter sein konnte, so hatte Ruth sich umso mehr Mühe gegeben, für sie so etwas wie eine gute Freundin oder Helferin oder Trösterin zu sein. Sie wollte von ihr als Vertrauensperson akzeptiert werden, ohne sie mit Geschenken zu bestechen. Erstaunlicherweise entspannte sich ihr Verhältnis in Jennys Pubertät. Jenny fing an, in Ruth eine interessante und aufgeschlossene Gesprächspartnerin zu entdecken. Sie haben nämlich, wie sich herausstellte, dieselbe intellektuelle Ader. Das war schön und überraschend. Die Gene konnten es in dem Fall ja nicht sein.
«Betrachten Sie sich als Feministin?»
«Mich interessiert die Analyse von gesellschaftlichen Strukturen, ihre historische Einordnung, ihre Herleitung aus der abendländischen Philosophie, aus unserer Kultur. Die Rechte von Frauen sind ein eminent wichtiges, aber nicht das einzige Thema. Die Ethik ist eines der faszinierendsten Felder der Geistesgeschichte überhaupt. Es hat Zeiten ohne Technik gegeben, ohne Naturwissenschaften, ohne Städte, ohne Ackerbau, ...
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