Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Als das Haar nachgewachsen war, schauten sie mich an, als sähen sie mich zum ersten Mal. Alle, von der Onkologin und Psychologin über die Krankenschwestern und Laborantinnen bis hin zu den Pförtnern und der Chefin der Cafeteria. Und draußen, im Bus, beim Bäcker, in der Boutique? Da wollten sie mir alle schon gratulieren. Dabei war ich noch mittendrin in der Therapie. Die Bestrahlungen kamen noch, die Reha und die Nachsorge erst recht. Wie geht es dir?, fragten die Freundinnen besorgt. Andere erkundigten sich mit bemühtem Lächeln nach meinem Befinden. Sie meinten nicht mich, sondern meinen Krebs. Ich, die Bea, Beate Berthold, blieb verschwunden. Niemand schien mich zu vermissen.
»Richtig, sorelle di canceri. Krebsschwestern. Die wissen, um was es geht. Der Krebs kriecht in alles rein. In den Alltag, in die Gefühle. In den Körper und in die Seele. Darum musst du dieses Buch schreiben, Bea!«
Beate wollte wieder aufbegehren, ließ es dann aber.
»Gibt es da nicht ein Video von Michael Jackson, das, auf dem er sich immerzu verwandelt? Vom Sänger zum Panther und wieder zurück und so weiter?«
Michael Jackson? Beate sah Ijana verständnislos an. Wo kam der denn jetzt auf einmal her? Was hatte sie mit Michael Jackson zu tun? Ijana redete weiter.
»Also. Diese Verwandlung. Morphing. Krebsschwestern sehen die. Die anderen sehen nur Michael oder den Panther. Für die Veränderung, die langsam anfängt und immer schneller wird, haben die meisten kein Auge, oder sie kapieren es nicht. Das muss ihnen jemand erklären, und auch den Krebsschwestern, damit wir begreifen, was mit uns geschieht.«
»Es gibt den Panther.« Beate nickte nachdenklich. »Und es gibt Michael. Hin und her geht das. Aber Michael Panther? Den gibt es weder im Video noch im Leben. Die meisten können sehen, dass er sich verwandelt, aber Michael Panther, den werden sie niemals sehen. Warum? Weil es den eben nicht gibt. Davor und Danach, gleichzeitig? Das ist unmöglich. Michael Panther? Den kann es nicht geben. Und darum lässt er sich auch nicht beschreiben. Darum kann ich das Buch nicht schreiben. Es geht einfach nicht.«
Doch. Beate grübelte. Michael Panther gibt es. Wie es Beate Krebs gibt. Dieses Gleichzeitige habe ich gelebt. Als Bea Krebs. Beate Berthold stand nur in meinem Ausweis. Mit dem Namen lernte mich Chantal Schneider aus Wuppertal kennen. Meine Akademikerin, die Bescheid wusste, wie Märkte funktionieren, eine Wirtschaftswissenschaftlerin, in deren Bilanz Krebs nicht einmal als Fußnote auftauchte. Chantal. Fünf Jahre ist das her, da ging Bea Krebs mit der Diagnose in der Tasche tanzen. Jetzt erst recht, hatte ich mir gesagt und den Kleiderschrank umgestülpt. Mich geföhnt, geschminkt, aufgebrezelt. Auf High Heels und im Minirock lehnte ich an der Bar. Da stand auf einmal Chantal vor mir. Sie übersprang die Einladung zum Drink und bat mich zum Discofox. Sie streckte ihre Hand aus und ich griff zu. Chantal war hingerissen.Vielleicht sogar verliebt. Hals über Kopf. Alles auf Herz. Brust war Trumpf. Doppeltrumpf. Drei wilde Wochen folgten. Dann präsentierte der Krebs seine Quartalsrechnung und schrieb eine der beiden Brüste ab. Chantal seufzte, griff nach dem Rechenschieber, setzte die Chemotherapie in die Betriebsaufwendungen ein, addierte, multiplizierte, subtrahierte, dividierte und fälschte die Bilanz.
Es war ein heller Sommersonntagnachmittag gewesen, wie geschaffen für ein Mittagsschläfchen zu zweit. Ich starrte aufs Kopfkissen. War dieses Büschel Haare von mir? Chantal holte ihr Rasiermesser. Sagte kein Wort. Sie fand, ich sähe gut aus mit Glatze. Sehr gut sogar. Die Perücke von der Krankenkasse packte ich gar nicht erst aus. Stolz trug ich meinen nackten Schädel. Und doch. Obwohl unsere gemeinsamen Wochenenden wie aus der Zeit gefallen schienen, lebte der Krebs zwischen uns. Zu spät war ich bereit, seine Gegenwart auch in der Beziehung mit Chantal zuzulassen. Ich hörte das Ticken der Uhr, doch die Zeiger bewegten sich nicht mehr. Wann waren sie stehen geblieben? Auf dem Pilgerweg von einer Chemotherapie zur nächsten fielen immer mehr Türen zu, krachend, ohne Rücksicht darauf, ob vielleicht eine freundliche Hand eingequetscht wurde, ein Bein brach oder ein Rechenschieber zerbarst. Von einem Tag auf den anderen saß ich in einem Schacht, dessen Boden immer tiefer sank. Niemand konnte mehr zu mir. Auch nicht Chantal. Die trieb den Krebs von den Betriebsaufwendungen quer durch die Bücher, versuchte es bei Aktiva und Passiva, rechnete hin und her. Sie begriff nicht, dass er nicht berechenbar war. Mit unbekannten Größen konnte sie nicht umgehen. Um die Bilanz zu retten, ging sie ihrer Wege, ehe der Bankrott drohte. Noch in meinem Schacht gefangen, beschloss ich, Chantal zu suchen. Bald.
»Porca miseria!«
Beate erschrak.
»Sag bloß, Bea, du schreibst nur immer das, was es wirklich gibt, was fassbar ist. Aber du bist doch Autorin. Michael Panther soll es nicht geben? Faule Ausrede! Egoistin! Sind denn Schwestern etwa nicht füreinander da? Nicht zu fassen. Da sitzt du und hast die Möglichkeit, mit deiner Gabe, deinem Talent, nenn es, wie du willst, jedenfalls könntest du deinen Schwestern helfen. Und was tust du? Zickst.« Ijana beugte sich vor. Ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden. »Hast du tatsächlich alles vergessen, Bea? Weißt du wirklich nicht mehr, wie es ist, zu sitzen wie unter einer Käseglocke, den Chemogestank deiner eigenen Haut in der Nase? Und weißt du auch nicht mehr, wie es ist, wenn du an keine herankommst, wenn niemand dich hört, auch wenn du mit den Fäusten gegen die Wand trommelst, um Hilfe schreist? Wenn du heulst und deine Tränen können dieses Leid nicht aufweichen? Das kann doch nicht wahr sein. Du vergisst das doch nicht.«
In Beates Schläfen pochte es. »So? Findest du?«, presste sie hervor. »Redest du eigentlich mit mir? Oder mit der Schriftstellerin? Du meinst, eine Geschichte zu sehen und sagst, schreib das auf. Ganz einfach, ja? So einfach ist das aber nicht, meine Liebe. Mein Thema heißt Sex. Fantasie ist mein Job. Biografisches überlasse ich Wikipedia. Betroffenheitsliteratur soll ich produzieren? Ich dachte, du kennst mich. Vergiss es, du Kasper.«
»Ich? Ein Kasper?«, murmelte Ijana. »Ausgerechnet du wirfst mir das vor?« Sie räusperte sich, setzte an und schwieg dann doch eine Weile. »Eeeeh«, sagte sie endlich. »Du bist eine Hexe. Eine kleine. Aber eine Hexe.« Ijana kramte in ihrer Handtasche und zog die Sonnenbrille heraus. Umständlich putzte sie die Gläser.
Beate konnte über sich selbst nur den Kopf schütteln. In ihrem Eifer, Ijana eine Retourkutsche zu verpassen, war sie ausgerechnet auf den Kasper verfallen.
Ijana hatte sich als Physiotherapeutin selbstständig gemacht, als knapp in der Karenzzeit der Tagegeldversicherung die Diagnose eintraf. Ihre Behandlung von Ijanas Schilddrüse kostete rund eine halbe Million Euro. Fremde hatten für sie gespendet. Das Gewissen verbot es ihr, die finanziellen Hilfen ohne Gegenleistung anzunehmen. Schon während der Chemotherapie drängte die emotionale Schuld Ijana aus ihrem Bett. Lachen ist die beste Medizin, war ihr eingefallen. Für mich, und für Kinder erst recht. Als sei das Gift nichts anderes als ein harmloses Grippemittel, schminkte sie sich die Blässe von den Wangen, malte sich lachende Lippen und strahlende Augen. Mit einer frischen Batterie in ihrer Blinknase meldete sie sich zum Dienst auf der Kinderstation der Onkologie. Ihre Freundinnen konnten Ijanas Aktivität kaum fassen. Schonen sollte sie sich, auf sich achten. Sie überhörte die Ermahnungen. . Italien kämpft um jedes Leben, sagte ihre innere Stimme, sogar dann, wenn es noch nicht geboren ist. Die Gesellschaft zahlt auch für dich. Also gib etwas zurück. Sei nützlich. Man soll nicht umsonst in dich investiert haben.
Mit lautem Klingeln bog eine Radwandergruppe auf die Piazza ein, umkreiste den Springbrunnen vor der Kapelle wie ein Schwarm Papageien. Als die Räder abgestellt und gesichert waren, schloss sich die Tür von Sant’Agata hinter den Touristen. Einer, wahrscheinlich der Bewacher der Räder, blieb auf dem Beckenrand sitzen. Er zog sich Schuhe und Socken aus und hielt dann seine Füße unter den Strahl des Springbrunnens.
»Machst du eigentlich jetzt Vollzeit Clownerie?«, erkundigte sich Beate. »Oder baust du deine Praxis wieder auf?«
Ijana griff nach der Wasserflasche und schenkte nach. »Du auch?«
»Ja, gerne. Dieser Durst immer. Gut, dass ich kein Bier mag. Sonst hätte ich spätestens am Mittag einen kleben.«
Ijana lachte. »Wie viele Ausdrücke es gibt für Rausch. Aber Wasser ist schon besser. Wasser und Espresso. Sonst kriege ich auch nichts mehr geschafft heute.«
Beate ließ nicht locker. »Wie viel arbeitest du denn nun wirklich?«
Ijana zuckte mit den Schultern. »Nicht so viel. Zehn Stunden pro Woche. Vielleicht fünfzehn. Ein bisschen Büro, piccolo, piccolo. Zwei Stunden am Tag, dann aber Schluss. Kontakte warmhalten, man weiß nie, wann die gebraucht werden. Kollegen, Amt, du weißt schon. Das ist Arbeit. Und dann Pulcinella im Krankenhaus, sechs Stunden, höchstens.«
Wie aufs Stichwort raste ein Rettungswagen die Straße entlang. Während sich der Klang des Martinshorns im Alltagslärm verlor, rechnete Beate zusammen und kam auf fast vierzig Stunden. Dabei hatte Ijana manches gar nicht erwähnt, nicht die Fahrten, nicht die Nachbearbeitung und das, was sonst noch so anfallen mochte. Das brauchte alles mindestens so viel Zeit wie die Kontaktpflege, deren Dauer Ijana vorsichtshalber verschwiegen hatte.
»Das ist ja schon doch einiges. Und wie steht es mit deiner Nachsorge? Wie viele Termine hast du denn da pro Woche?«
Nachlässig fuhr sich Ijana...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Adobe-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Adobe-DRM wird hier ein „harter” Kopierschutz verwendet. Wenn die notwendigen Voraussetzungen nicht vorliegen, können Sie das E-Book leider nicht öffnen. Daher müssen Sie bereits vor dem Download Ihre Lese-Hardware vorbereiten.Bitte beachten Sie: Wir empfehlen Ihnen unbedingt nach Installation der Lese-Software diese mit Ihrer persönlichen Adobe-ID zu autorisieren!
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.