Schweitzer Fachinformationen
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Als Martin am nächsten Morgen durch die kleinen Fensteröffnungen sah, blendete ihn die Frühlingssonne. Bald würde sie die ersten Blüten aus dem Boden hervorlocken und das Leben in der Stadt wieder in geschäftigere Bahnen lenken. Das Heulen des Windes, ein ständiger Begleiter in den vergangenen Monaten, war verstummt. Die Stille war fast unheimlich. Während Martin eine Weile über die niedrigen Dächer in Richtung Marienkirche schaute, stimmte eine Amsel ganz in der Nähe ihr Lied an. Das Gezwitscher stimmte ihn froh, gab ihm neue Hoffnung. Bei einem Blick auf den Kleiderhaufen sank seine Zuversicht jedoch gleich wieder. Er besaß gerade noch ein frisches Hemd. Auf der Hose zeichneten sich dunkle Blutflecken ab. Da Martin keine andere besaß, musste er sie wohl oder übel weiter tragen. Das würde die Arbeitssuche nicht gerade erleichtern.
Um eine Begegnung mit seiner Vermieterin zu vermeiden, schloss er die Kammertür betont leise hinter sich und schlich die Treppe hinunter. Als er auf halber Höhe war, lief Magda unten mit einem Korb Wäsche vorbei, gefolgt von ihrer Mutter. Martin stöhnte innerlich auf. Natürlich bemerkte ihn die Alte sofort. Mit gespielter Freundlichkeit erkundigte sie sich nach seinem Befinden.
"Gott zum Gruße, Herr Haffer. Geht es Eurem Kopf besser?"
"Gott zum Gruße. Habt Dank für Eure Sorge. Es geht mir wahrlich besser. Ich stehe in der Schuld Eurer Tochter. Ohne ihre Fürsorge stünde es schlecht um mich."
Martin biss sich auf die Zunge. Auch wenn der Dank ehrlich gemeint war, er hätte das Wort 'Schuld' nicht erwähnen sollen. Damit hatte er dem Weib ungewollt ein Stichwort gegeben, welches sie dankbar aufgriff.
"Wenn Ihr von Schuld sprecht, wäre da noch die Rechnung des Chirurgen zu begleichen. Wir waren so frei, ihm seinen Lohn vorzustrecken." Fragend schaute er sie an. "Das macht drei Schilling. Außerdem haben wir Eure Stube geheizt, da kommen noch einmal zwei Schilling dazu."
Widerwillig kramte Martin in seiner Tasche und drückte ihr das Geld in die Hand. Gierig ließ die Alte es in ihrer Schürze verschwinden.
Unverändert sah sie ihn fordernd an. "Könnt Ihr Euch die Kammer überhaupt noch leisten?"
Martins Laune sank weiter. Schroff fuhr er die Frau an. "Zerbrecht Euch nicht meinen Kopf! Bin ich Euch je etwas schuldig geblieben? Ich werde meine Verpflichtung schon erfüllen!"
Ihre Katzenfreundlichkeit widerte ihn an. "Ich meine ja nur, da der alte Klaas tot ist, bleibt die Schreibstube wohl für immer geschlossen. Sein Sohn hat sich ja nie dafür begeistert, mit eigenen Händen Geld zu verdienen. Eher gibt er das seiner Frau aus."
Mit diesem Satz verfiel die alte Müller in ein widerliches Lachen und warf den Kopf in den Nacken. Dabei öffnete sie ihren Mund, in dem einige Zähne fehlten und von anderen nur faulige Stumpen übrig geblieben waren. Martin drehte sich der Magen um. Gern hätte er das Gelächter mit einer Ohrfeige unterbrochen, doch noch brauchte er die Unterkunft. Er sah, wie Magda sich beschämt abwandte.
"Ich werde die Miete schon zahlen!"
Schlagartig verstummte die Frau. "Immerhin steht noch der Zins für die Tage Eurer Unpässlichkeit aus!"
Martin wollte keinen Streit. Erneut durchwühlte er die Tasche nach einem weiteren Geldstück. Nach langem Suchen fand er eines und drückte es der Alten in die Hand. Er bezahlte damit die Miete für eine erhebliche Zeit im Voraus. Das musste fürs Erste genügen. Verächtlich schob er die Frau zur Seite. Als er nach der Türklinke griff, richtete Magda verlegen das Wort an ihn.
"Verzeiht, Herr Haffer, werdet Ihr Euch ebenfalls in St. Nikolai einfinden?" Fragend blickte Martin sie an, er verstand nicht. "Die Universität trägt den Professor heute zu Grabe. Die Totenmesse wird am Nachmittag zur zweiten Stunde gelesen. Es wird bestimmt sehr feierlich. Der Rat, die Lehrer der Universität, alle werden ihm die letzte Ehre erweisen."
Martin überlegte einen Moment. Es war keine schlechte Idee, dem Begräbnis beizuwohnen. Ja, er würde hingehen, weniger aus Nächstenliebe als aus purer Neugier. Magdas Blick ruhte weiter auf ihm. Was wollte sie denn noch? Er brauchte ihr Mitleid nicht. Er brauchte niemandes Mitleid. Wortlos verließ er das Haus.
* * *
Greifswald kam ihm mit einem Mal fremd vor. Das lag nicht an der milden Luft, erfüllt mit den Gerüchen des Frühlings. Es schien ihm vielmehr, als habe die Stadt mit der schrecklichen Tat ihre Unschuld verloren, auch wenn ihre Bürger dieselben geblieben waren.
Wie Martin es sich beim Ankleiden vorgenommen hatte, begab er sich zunächst auf den Weg zur Schreibstube. An einer Bude auf dem Markt kaufte er bei einem Bäcker einen Wecken, den er nachdenklich kaute. Wie sollte er Klaas' Sohn entgegentreten? Wie sein spätes Verlangen rechtfertigen? Die anderen Kopisten hatten ihren Lohn sicherlich bereits abgeholt. Schon von Ferne erkannte er vor dem Haus eine Menschentraube. Einige Bürger hinterließen ein Vermächtnis, um sich den Aufenthalt im Paradies durch eine barmherzige Geste zu verdienen. Viele Kaufleute ließen Messen lesen oder vermachten einem der Klöster Land außerhalb der Stadtmauern. Wie er von dem geschwätzigen Bäcker ungefragt erfahren hatte, hatte Klaas die Verteilung seines Hausstandes an die Armen angeordnet. Einem Lauffeuer gleich schien sich die Nachricht durch die Gassen verbreitet zu haben. Vor dem Haus erkannte Martin nicht nur Gesichter der Bewohner des Armenviertels, sondern auch die von Bürgern. Er blieb stehen und beobachtete das Geschehen ein Weilchen. Hin und wieder kam es zu Handgemengen um wertlose Gegenstände. Martin empfand diese Szenen als abstoßend und jeder, der sich daran beteiligte, war ihm zutiefst zuwider. Einen Moment glaubte er, die Enge der Stadt, in der alle einander kannten und übereinander tratschten, würde ihn ersticken. Vielleicht war es die beste Lösung, Greifswald einfach zu verlassen. In Rostock gab es auch eine Universität. Wenn er wirklich soviel Talent besaß, wie Heiden behauptet hatte, fand er dort sicherlich Arbeit.
In der Erwartung, ihre grenzenlose Raffgier würde seine Vermieterin ebenfalls hertreiben, ließ er seinen Blick über das Volk gleiten. Die Alte schien die günstige Gelegenheit allerdings ungenutzt verstreichen zu lassen. Mühsam gelang es Martin, sich unter Einsatz seiner Ellenbogen durch die Menge bis in den Flur des Hauses zu kämpfen. Vor seinen Augen eröffnete sich ein wüstes Durcheinander. Geschirr, Töpfe und Wäsche wurden von Helfern nach draußen gereicht, wo um jedes neue Stück ein heftiger Kampf entbrannte. Zwei Frauen, deren eingefallene Wangen mit schmutzigen Streifen überzogen waren, stritten erbittert um ein Stück Tuch, bis es schließlich entzwei riss. Martin bemerkte einen schalen Geschmack im Mund. So hatte sich der alte Mann die Umsetzung seines letzten Willens sicherlich nicht vorgestellt. Sachen, die Klaas sicherlich etwas bedeutet hatten, gingen zu Bruch oder landeten im Dreck. Immer wieder schubsten Packer ihn zur Seite, bis Martin endlich Klaas' Sohn gegenüber stand. Mit einer knappen Verbeugung erklärte er ihm sein Anliegen.
"Gott zum Gruße, mein Herr! Mein Name ist Martin Haffer. Ich war Kopist bei Eurem Vater. Seit etwa fünfzehn Jahren habe ich hier in der Stube für ihn gearbeitet. Stets war er mit meiner Arbeit zufrieden. Ich bin gekommen, weil mir mein Lohn für die letzten Tage vor Eures Vaters Tod fehlt. Es waren fünf Seiten, die mir noch nicht bezahlt wurden."
Der Sohn des alten Klaas sah ihn schief an. Die Hochzeit hatte ihm gut getan. Von dem schlanken, jungen Mann von einst sah man nichts mehr. Das Haar wurde an der Stirn bereits schütter. Die langen fettigen Strähnen reichten ihm bis zur Schulter. Sein Bauch hing wie ein lebloser Sack am Körper. Anstrengung hatte das feiste Gesicht gerötet, Schweiß perlte auf seiner Stirn, obwohl er beim Ausräumen offensichtlich nicht selbst Hand anlegte.
"Hier gibt es nichts mehr zu holen. Am Todestag habe ich einen Kopisten angewiesen, allen ihren Lohn auszuzahlen. Wenn du nicht da warst, ist das dein Pech. Die Gelegenheit, dein Geld zu erhalten, hast du verpasst!" Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. "Am Ende hast du deinen Lohn schon erhalten und willst mich betrügen? Der Kopist, der sich um alles gekümmert hat, ist schon aus der Stadt, wollte sich in Rostock nach Arbeit umsehen. Ich kann also nicht mehr prüfen, ob deine Forderung berechtigt ist! Ich erinnere mich auch nicht, dein Gesicht je in der Kopierstube gesehen zu haben."
Wut stieg in Martin auf. Der andere log unverschämt. Vor seiner Hochzeit hatte er sich von seinem Vater aushalten lassen. Sie waren sich häufig auf dem Flur begegnet. Schon damals mochte Martin den Mann nicht. Trotzdem schluckte er seinen Zorn hinunter. "Ich war krank und konnte nicht kommen!"
Ein Lächeln umspielte den schmalen Mund des anderen. "Krank, sagst du? So so! Ich bleibe dennoch dabei. Du hast deine Gelegenheit verpasst! Nein, da könnte ja jeder kommen. Von mir bekommst du keinen einzigen Schilling! Verschwinde, bevor ich dich zur Tür hinauswerfen lasse!"
"Aber .", weiter kam Martin nicht. Auf einen Wink des anderen hoben ihn kräftige Hände hoch und warfen ihn schwungvoll zur Tür hinaus. Die Traube, die bei seiner Ankunft den Weg zum Eingang versperrt hatte, löste sich in einem einzigen Augenblick auf. Unsanft landete er im Dreck. Die Umstehenden starrten ihn mit aufgerissenen Augen an. Missmutig stand er auf. Durch das Getrampel war der Boden völlig aufgewühlt. Erde klebte an Umhang und Hose. Wie auf ein geheimes Zeichen hin machte ihm die Menge Platz. Enttäuscht kehrte...
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