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Kapitel 1
Oktober 1890 Hope Springs, Texas
Ruth Fulbright hielt ihre schlafende siebenjährige Tochter im Arm und blieb erst einmal sitzen, nachdem die Postkutsche zum Stehen gekommen war. Die anderen Reisenden hingegen, die sich offensichtlich für etwas Besseres hielten, setzten alles daran, den Wagen so schnell wie möglich zu verlassen. Der modisch gekleidete Herr zu ihrer Linken, der eindeutig zu viel Pomade im Haar hatte, rempelte Ruth mit seinem Ellbogen an, als er aufstand. Um ihm auszuweichen, lehnte sie sich nach rechts - und stach sich beinahe das Auge an der Hutfeder der ältlichen Matrone aus, die gerade die Kutschentreppe hinunterstieg.
Na wunderbar! Wer hätte gedacht, dass eine Reise mit der Postkutsche so gefährlich sein könnte? Sie hatte doch tatsächlich geglaubt, Banditen wären das Schlimmste, was ihr auf der gut dreißig Kilometer langen Reise vom Bahnhof in Weatherford hierher begegnen könnte. Doch da hatte sie ihre Rechnung ohne all die mitleidigen Blicke, das snobistische Schnauben und den spitzen Federschmuck gemacht. Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass sich damit ein solcher Schaden anrichten ließe. Obwohl ihr das eigentlich nichts anhaben sollte. Als Frau, die nach dem Ende des Bürgerkrieges in den verwüsteten Südstaaten aufgewachsen war, hatte sie gelernt, sich auf jedem gesellschaftlichen Parkett zu behaupten.
Ihr Kleid mochte fadenscheinig sein, das Leder ihrer Schuhe hauchdünn und an ihrem Finger fehlte der Ring, doch sie war sauber, unbescholten und hatte nicht den geringsten Grund, sich zu schämen.
Jetzt schob sich der Herr mit der vielen Pomade im Haar an ihr vorbei und rempelte dabei ihre Tochter an.
»Entschuldigung«, murmelte er, doch sein Blick verriet, dass er in Wahrheit ihr die Schuld dafür gab, dass Naomi ihm im Weg gewesen war. Ein echter Gentleman hätte ihnen den Vortritt gelassen und gewartet, bis Ruth und Naomi ausgestiegen waren. Oder er hätte ihnen seine Hilfe angeboten. Doch offensichtlich sah er sie nur als Hindernis an, nicht als eine echte Dame.
»Mama?« Naomi hob den Kopf von ihrer Brust und öffnete ihre wunderschönen braunen Augen, die Ruth so sehr an die ihres Mannes erinnerten.
Augenblicklich fuhr ihr ein Stich durchs Herz. Stephen war nun schon seit zwei Jahren tot. Seit zwei Jahren, drei Monaten und neun Tagen. Ach, sie sollte wirklich aufhören zu zählen. Es brachte schließlich nichts, ihre Zeitrechnung nach ihrem Verlust auszurichten. Es war nur schon so lange her, dass sie etwas wirklich Positives erlebt hatte . Aber genug davon.
Ruth richtete sich auf und lächelte ihre Tochter an. »Guten Morgen, Schlafmütze.« Sie strich Naomis Pony zurück und küsste sie auf die Stirn. »Wir sind da.«
Naomis Augen wurden groß und sie grinste. »In unserem neuen Zuhause?«
Ruth nickte. Sofort machte ihre Tochter sich von ihr los und sprang auf.
Gott sei gelobt für den Optimismus der Jugend. Ruth wusste nicht, wie sie die letzten Monate ohne Naomi hätte überstehen sollen, die selbst durch die dunkelsten Wolken hindurch noch die Sonnenstrahlen sah. Und dunkle Wolken hatte es wirklich mehr als genug gegeben. Doch das schien nun fast vergessen, als ihre strahlende Tochter so aufgeregt vor ihr stand.
»Komm schnell!« Dank ihrer geringen Körpergröße konnte Naomi selbst in der niedrigen Postkutsche ohne Probleme aufrecht stehen. Neugierig lief sie auf den Ausstieg zu. Dort wäre sie fast wieder mit dem wenig freundlichen Herrn zusammengeprallt. Doch im letzten Augenblick blieb sie stehen und wirbelte ungeduldig herum. »Jetzt komm endlich, Mama! Hope wartet auf uns!«
»Hope Springs«, korrigierte Ruth, während sie sich allmählich von der Vorfreude ihrer Tochter anstecken ließ.
Hope - die Hoffnung. Hier musste einfach Hoffnung auf sie warten. Denn es gab keinen anderen Ort mehr, an dem Ruth sonst danach hätte suchen können.
Sobald der Pomadenmann zur Seite getreten war, sprang Naomi wie ein Kaninchen aus der Postkutsche. Ruth grinste und schüttelte den Kopf. Sollte das Mädchen nur laufen und springen. Schließlich war die Kleine den ganzen letzten Tag in Zugabteilen und der Postkutsche gefangen gewesen. Wäre Ruth nicht schon fast fünfundzwanzig gewesen, hätte sie es ihrer Tochter vermutlich gleichgetan. Eigentlich war es doch schade, dass die Gesellschaft einer erwachsenen Frau nicht zugestand, ihren Bedürfnissen und Emotionen zu folgen.
Als Ruth den Haltegriff der Kutsche umklammerte und ausstieg - scheinbar hatte gerade keiner der anwesenden Gentlemen, pomadig oder nicht, Zeit, ihr zu helfen -, machte sich eine nervöse Unruhe in ihrem Magen breit.
Was, wenn Mrs Lancaster es leid geworden war, auf sie zu warten, und eine andere Köchin eingestellt hatte? Zwar hatte Dorothea Ruth versichert, dass die Anstellung für sie, ihre Cousine, freigehalten würde. Aber Ruth hatte Wochen gebraucht, bis sie jemanden gefunden hatte, der bereit gewesen war, ihr einen angemessenen Preis für ihren Ehering zu zahlen, damit sie sich die Reise von Clarksville nach Hope Springs überhaupt hatte leisten können. Was, wenn ihre neue Arbeitgeberin das lange Warten als Vertragsbruch ansah?
Einen Moment lang rieb Ruth über die nackte Stelle an ihrem Finger, wo bis vor Kurzem der goldene Ring gesteckt hatte, und betrauerte seinen Verlust. Dann schob sie die Schultern zurück und machte sich auf die Suche nach ihrem Gepäck. Sie hatte getan, was getan werden musste, um für sich und ihre Tochter ein neues Leben aufbauen zu können, eine Zukunft. Bedauern bildete da ein schlechtes Fundament. Stattdessen wollte sie sich lieber auf ihren Gott verlassen. Immerhin war er es, der sie nach Hope Springs geführt hatte. Da war sie sich sicher. Zu viele Puzzlestücke hatten sich genau zur rechten Zeit zusammengefügt, als dass es anders hätte sein können. Und wenn der Allmächtige sie hierher geleitet hatte, dann würde er sie auch jetzt nicht im Stich lassen.
»Lasst euch genügen an dem, was da ist«, rief sie sich in Erinnerung, während sie geduldig darauf wartete, dass der Fahrer die letzten Gepäckstücke vom Dach hob. »Denn er hat gesagt: Ich will dich nicht verlassen und nicht von dir weichen.«
Es gab Hoffnung. Und Ruth würde nach ihr greifen.
In diesem Augenblick segelte ein brauner Gegenstand auf ihren Kopf zu. Gerade noch rechtzeitig riss sie die Arme hoch und fing ihn auf. Gütiger Himmel! Fast wäre sie von ihrer eigenen Reisetasche erschlagen worden, so sehr war sie in Gedanken versunken gewesen.
»Entschuldigen Sie, Ma'am.« Dem Kutscher stand die Scham ins Gesicht geschrieben, als er sich den Hut vom Kopf riss und oben auf dem Kutschendach auf die Knie fiel. Während er sich mit einer Hand am Geländer festklammerte, beugte er sich vor. »Ich dachte, Sie wären der alte Tom. Alles in Ordnung?«
Zwar war es für eine Dame alles andere als schmeichelhaft, mit einem grauhaarigen Wachmann verwechselt zu werden, doch um ehrlich zu sein, hatte der ältere Herr, der die ganze Zeit über auf dem Kutschbock mitgefahren war, wenige Augenblicke zuvor noch genau an dieser Stelle gestanden. Die anderen Reisenden hatten ihn zur Seite gezogen, um sich bei ihm darüber zu beschweren, wie rau mit ihren Besitztümern umgegangen worden war, und Ruth war auf den frei gewordenen Platz getreten.
Behutsam setzte sie die staubige Tasche ab und klopfte den gröbsten Schmutz von ihrem Kleid. Nachdem sie damit fertig war, warf sie dem Fahrer ein Lächeln zu. Seine Entschuldigung war aufrichtig gewesen und die freundlichen Worte hatten ihre Stimmung gehoben. »Es ist ja nichts passiert. Wenn Sie mir diese letzte Tasche dort etwas vorsichtiger herunterreichen, nehme ich sie Ihnen gerne mit mehr Gewandtheit ab.«
Sie streckte die Arme nach oben, doch der Mann zuckte zurück. Ruth hätte schwören können, dass sie die Frage hörte, die in seinem Kopf herumschwirrte: Was war wohl schlimmer - einer Dame zu widersprechen oder sie körperliche Arbeit verrichten zu lassen?
Ruth winkte auffordernd, um ihm seine Sorgen zu nehmen. »Ich bin stärker, als ich aussehe«, versicherte sie ihm. »Außerdem haben Sie doch bestimmt einen Zeitplan einzuhalten?«
Der Kutscher warf hektisch einen Blick in Richtung der Fahrgäste, die auf dem Bürgersteig darauf warteten einzusteigen. »Tom!«, rief er laut und suchte ganz offensichtlich nach einem Ausweg. Doch entweder war der alte Tom außer Hörweite oder er wurde von den Reisenden zu sehr in Beschlag genommen, um reagieren zu können. Wie auch immer, der verzweifelte Ruf seines Kollegen blieb jedenfalls unerwidert.
Leise vor sich hin schimpfend drückte sich der Kutscher seinen Hut wieder auf den Kopf und kroch zu Ruths zweiter Tasche. Er hob sie hoch, um besser abschätzen zu können, wie schwer sie war, dann beugte er sich so weit über den Rand des Kutschendaches, dass das Gepäckstück Ruths Finger berührte, bevor er es losließ.
Da sie genau wusste, wie schwer die Tasche sein würde - nicht sehr, da ihr momentaner Besitz gerade einmal zwei Kleider umfasste -, bewältigte sie die Aufgabe ohne weitere Probleme. »Danke, Sir.«
Der Mann auf dem Kutschendach tippte sich an den Hut und sah Ruth voller Bewunderung an. Sein Blick verlieh ihr neues Selbstvertrauen und die Zuversicht, dass sie alles schaffen konnte. Was auch immer sich ihr in den Weg stellte. Entschlossen nahm sie auch ihre andere Tasche in die Hand und suchte die Umgebung nach ihrer Tochter ab.
Naomi entdeckte sie zuerst. »Mama, guck mal! Ein...
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