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Kapitel 1
Oktober 1894 Harpers Station Baylor County, Texas
»Bist du dir sicher, dass sie nicht aus Versehen losgehen kann?« Victoria Adams blickte auf ihr entblößtes rechtes Bein hinab, wo ihre Freundin, Grace Mallory, die kleine Taschenpistole Remington Model 95 mit Doppellauf in das zierliche Pistolenhalfter steckte, das an ihrem Strumpfband befestigt war. »Ich will mir nicht versehentlich in den Fuß schießen, wenn der Wagen in ein Schlagloch fährt.«
Grace blickte mit einem beruhigenden Lächeln zu ihr hinauf. »Wenn du willst, kannst du die Pistole auch in deine Handtasche stecken, aber nach den ganzen Schwierigkeiten, die wir vor ein paar Monaten mit Angus Johnson hatten, habe ich meine Pistole lieber an einer Stelle, an der ich sie jederzeit erreichen kann.«
Grace kontrollierte die Pistole an Toris Strumpfband ein letztes Mal, dann nahm sie die hochgeschobenen Röcke, die Tori an ihren Oberschenkel drückte, und breitete sie unauffällig über ihren Beinen aus. Niemand käme auf die Idee, dass unter den Schichten aus Baumwolle und Musselin eine Waffe versteckt war. »Eine Handtasche ist im entscheidenden Moment vielleicht nicht greifbar oder sie wird dir aus der Hand gerissen, bevor du deine Pistole herausziehen kannst.« Graces dunkelblonder Haarknoten reichte bis zu Toris Kinn, als sie sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete. »Es ist besser, die Pistole an einer Stelle, von der niemand etwas ahnt, jederzeit griffbereit zu haben.« Sie hob ihre eigenen Röcke und brachte darunter eine Taschenpistole zum Vorschein, die sie ebenfalls über ihrem Knie festgeschnallt hatte. »Ich trage meine Pistole seit Juli ständig an meinem Bein und habe mir noch nie in den Fuß geschossen.« Graces Augen funkelten belustigt, und Tori entspannte sich ein wenig.
»Du hältst mich wahrscheinlich für verrückt, weil ich solche Vorsichtsmaßnahmen wegen eines Mannes ergreife, der zu uns allen immer nur nett und hilfsbereit ist.« Tori senkte den Blick, da sich ihr Magen nervös zusammenzog. Sie wusste, dass sie übertrieben reagierte, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie war seit über fünf Jahren nicht mehr mit einem Mann allein gewesen. Nicht mehr, seit . Nein! Daran wollte sie nicht denken.
Tori ballte die Fäuste und zwang sich, die Tür zu diesen Erinnerungen zuzuschlagen. Sie wollte sich nicht von der Vergangenheit beherrschen lassen. Sie hatte eine Zukunft, die sie gestalten wollte, und einen Sohn, für den sie sorgen musste. Der Lebensunterhalt der Frauen in Harpers Station war davon abhängig, dass Tori ihre Waren verkaufen konnte.
Benjamin Porter war ein guter Mann. Ein ehrbarer Mann. Er lieferte seit über einem Jahr Waren in ihren Laden, seit Emma Chandler die Frauenkolonie in Harpers Station gegründet hatte. Mr Porter war monatelang der einzige Mann gewesen, der ihre Zufluchtsstätte hatte betreten dürfen, und er hatte dieses Vertrauen kein einziges Mal missbraucht.
Der Fuhrunternehmer verlangte faire Preise, und wenn ihr gewohnter Markt in der Nachbarstadt Seymour gesättigt war, scheute er keine Mühen, um neue Verkaufsmöglichkeiten für die Eier, das eingemachte Obst und Gemüse und die Quiltdecken zu finden, die von den Frauen in Harpers Station hergestellt wurden. Als Angus Johnson ihre Gemeinde überfallen hatte, hatte Mr Porter zu ihnen gestanden. Er hatte für sie gekämpft.
Bei der Erinnerung, wie der Fuhrunternehmer Tag für Tag vor ihrem Laden Wache gestanden hatte, wurde Toris Gesicht spürbar warm. Er hatte nicht die Stadt als Ganzes beschützt. Er hatte Tori beschützt. Er machte aus seinem wachsenden Interesse an ihr keinen Hehl. Das war vielleicht der Hauptgrund, warum Tori Grace um Rat gefragt hatte, wie man am besten eine Waffe verstecken könne.
Graces sanfte Berührung auf Toris Arm vertrieb die widersprüchlichen Gedanken, die ihr Gehirn vernebelten. Die durchdringenden Augen der jungen Telegrafistin ließen Geheimnisse erahnen, die diese normalerweise scheue Frau mühsam hütete.
»Vorsichtsmaßnahmen sind nie dumm. Es ist besser, eine Verteidigungsmöglichkeit zu haben und sie nicht zu brauchen, als sich verteidigen zu müssen und wehrlos zu sein.« Aus ihren leisen Worten sprachen schmerzliche eigene Erfahrungen, und Tori fragte sich nicht zum ersten Mal, was Grace Mallory nach Harpers Station geführt hatte.
»Du hast natürlich recht.« Sie hatte wirklich recht. Wenn sich Ben Porter bei ihrem heutigen Ausflug genauso anständig verhielt wie sonst, bräuchte niemand von der kleinen Waffe zu erfahren, die unter ihrem Unterrock versteckt war. Sie betete, dass sie die Waffe nicht benutzen müsste. Dass sich Mr Porters Charakter als so tadellos erweisen würde, wie es den Anschein hatte. Und dass sein freundliches Verhalten nicht nur eine Fassade war, um sie einzulullen und unvorsichtig zu machen.
Ein Mann investierte doch sicher nicht ein Jahr seines Lebens für eine Frau, die bei mehreren Gelegenheiten unmissverständlich klargestellt hatte, dass sie von keinem Mann etwas wissen wollte. Keine Liebelei war so viel Mühe wert. Sie war so viel Mühe nicht wert.
Tori verbannte dieses armselige Selbstmitleid wieder in den hintersten Winkel ihres Herzens, berührte Graces Hand, die auf ihrem Arm lag, und drückte sie herzlich. »Vielen Dank, dass du mich an deinen Erfahrungen teilhaben lässt. Ohne deine Hilfe hätte ich nie den Mut aufgebracht, mich auf diese Geschäftsidee einzulassen.«
Grace hob einen Mundwinkel. »Emma sagt immer, wir Frauen können alles schaffen, was wir uns vornehmen, solange wir zusammenhalten. Nach dem Dreivierteljahr, das ich jetzt hier wohne, fange ich endlich an, das zu glauben.«
Tori lächelte und erlaubte sich sogar ein leises Schmunzeln. »Das wird auch langsam Zeit.«
Grace stimmte in ihr Lachen ein, wurde aber sofort wieder ernst, als der Vorhang, der den Lagerraum von dem Bereich hinter dem Verkaufstresen des Gemischtwarenladens trennte, zur Seite geschoben wurde.
»Da bist du ja!« Emma Chandler - jetzt Emma Shaw, seit sie und Malachi vor zwei Wochen geheiratet hatten - rauschte mit verschmitzt funkelnden Augen ins Hinterzimmer. »Ich habe Lewis gesagt, dass du dich nicht in dein Zimmer eingesperrt hast, aber er hat mir nicht geglaubt. Er hat mich gebeten, dich zu holen, bevor du es dir anders überlegst.«
»Dieser Junge!« Tori schüttelte den Kopf, obwohl ihr Herz vor Liebe höherschlug. Ihr Sohn war zwar erst vier, aber er kannte seine Mama sehr gut. Manchmal zu gut. Er erkannte ihre Stimmung schneller, als ein Pfannkuchen Ahornsirup aufsaugen konnte. Das war einer der Gründe, warum sie sich so sehr bemühte, ihre Gefühle gut zu beherrschen. Lewis sollte eine glückliche und unbeschwerte Kindheit haben, die nicht durch das Misstrauen und den Argwohn seiner Mutter belastet wurde. »Seit ich dieser Fahrt letzte Woche zugestimmt habe, spricht er von nichts anderem. Man könnte meinen, wir würden uns einer Expedition anschließen, um unbekanntes Land zu entdecken. Dabei versuchen wir doch nur, neue Kunden zu gewinnen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich jetzt keinen Rückzieher mehr machen.«
Emma trat zu Tori und drückte ihre Hand. »Willst du denn einen Rückzieher machen?«
Tori bemühte sich um eine unbeschwerte Miene und schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich habe es versprochen, und was ich verspreche, halte ich auch. Das weißt du.«
Natürlich wusste Emma das. Die beiden Frauen waren seit drei Jahren Freundinnen, Vertraute und Geschäftspartnerinnen. Deshalb wusste Emma auch, wie sehr Tori davor graute, mit einem Mann allein zu sein. Besonders dann, wenn der Mann groß und kräftig war. Wenn dieser Mann gebaut war wie die zwei riesigen Pferde, die seinen Lieferwagen zogen. Und wenn dieser Mann sie im Handumdrehen überwältigen könnte.
Toris freie Hand verkrampfte sich um den Stoff ihres Rocks, während sie Grace anschaute und hoffte, ihr gemeinsames Geheimnis würde ihre Zuversicht stärken. Grace nickte unauffällig.
Auch kräftige Männer waren gegen Pistolenkugeln nicht immun.
Tori zwang sich, langsam wieder einzuatmen, und entspannte ihre Finger, bevor sie ihren Blick wieder auf Emma richtete und sie mit einem leichten Lächeln beruhigte. »Ich kann nicht sagen, dass ich mich bei diesem Gedanken ganz wohlfühle, aber es ist nicht das erste Mal, dass ich meine persönlichen Wünsche hintanstelle, um das zu tun, was für das Geschäft das Beste ist.«
Tori entzog Emma ihre Hand und beugte sich nach unten, um den Picknickkorb aufzuheben, den sie für die Fahrt vorbereitet hatte. »Mr Porters Idee, mit den Waren zu den Familien auf den Farmen und Ranches in der Umgebung der Stadt zu fahren, klingt vielversprechend. Wenn ich zu vernünftigen Preisen mehr Service bieten kann, beschließen die Kunden, die normalerweise nach Seymour oder Wichita Falls fahren, um sich dort mit Vorräten einzudecken, vielleicht, sich einmal im Monat zu einem kleinen Aufpreis ihre Waren liefern zu lassen - selbst wenn sie dazu Geschäfte mit einer Frau machen müssen. Immerhin sparen sie sich damit einen ganzen Arbeitstag.«
Emma zog eine Braue hoch. »Versuchst du gerade, mich zu überzeugen oder dich selbst?«
Tori seufzte innerlich. Es war wirklich lästig, eine beste Freundin zu haben, die sie so gut durchschauen konnte. »Vermutlich mich selbst.« Ihre Schultern sackten ein wenig nach unten und ihre Körperhaltung verriet ihre Unsicherheit....
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