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Wie wird man in einer Stadt wie Lübeck zum Schriftsteller? Diese Frage stellt sich unweigerlich, wenn man auf die Karriere der Brüder Mann blickt. Erst einmal war da wenig Anregendes. Heinrich Mann hatte in seinem frühen Text Lübeck explizit als eine unliterarische Stadt geschildert. Es gab freilich eine Ausnahme, es gab Emanuel Geibel!
Geibel war zum Zeitpunkt seines Todes einer der bekanntesten und berühmtesten Dichter des 19. Jahrhunderts. Die Lübecker Zeitung räumte dem Artikel anlässlich seines Todes im Jahr 1884 die gesamte erste Seite ein. Im Nachruf heißt es unter anderem: »Emanuel Geibel ist todt, und dennoch lebt er unter uns; er lebt durch seine Lieder im Volke, er lebt durch seine Werke und wird unsterblich sein, so lange überhaupt noch ein Deutscher seine Sprache und seine Dichter kennt.«[1]
Das ist keine lokalpatriotische Übertreibung, sondern Tenor einer Unzahl von Gedenkartikeln im deutschen Blätterwald jener Tage. Die Rede ist vom Dichterfürsten, dem großen Liederdichter der Deutschen. Die Kaiserin, Bismarck und viele deutsche Fürsten kondolierten dem Lübecker Bürgermeister. Das Begräbnis am 13. August in der Marienkirche glich einem Staatsbegräbnis, und schon wenige Jahre später, 1889, wurde das Geibel-Denkmal auf dem gleichnamigen Platz errichtet.
3 Enthüllung des Geibel-Denkmals am 18.10.1889
Die 100. Auflage seiner Gedichte wurde dem Toten mit ins Grab gegeben, eine Auflagenzahl, die ihm eine singuläre Stellung in der Literatur des 19. Jahrhunderts verschaffte. Man kannte und sang seine Lieder im ganzen deutschen Sprachraum. 1912 verzeichnete der Börsenverein des deutschen Buchhandels 3679 Liedvertonungen von 288 Geibel-Gedichten. Damit schlug er Goethe um Längen. Heute ist er einer der vergessenen Dichter. Zu Zeiten der Brüder Mann war er aber ein literarischer Starautor, der zudem in Lübeck lebte. Damit war in einem eingeschränkten Sinne doch etwas Literatur nach Lübeck gekommen. Und zwar auf eine sehr dramatische und politische Art und Weise.
Bis 1868 lebte Geibel hauptsächlich in München. Als der preußische König Wilhelm am 13. September Lübeck besuchte, wurde ihm ein Huldigungsgedicht Geibels überreicht. Es endete mit den Worten:
Drum Heil mit dir und deinem Throne!
Und flicht als grünes Eichenblatt
In deine Gold- und Lorbeerkrone
Den Segensgruß der alten Stadt.
Und sei's als letzter Wunsch gesprochen,
Daß noch dereinst die Aug' es sieht,
Wie über's Reich ununterbrochen
Vom Fels zum Meer dein Adler zieht.[2]
Der preußische Adler als einigendes Band einer deutschen Nation, von Norden bis in den Süden, vom Meer bis zu den Bergen, das stieß in München auf radikale Ablehnung. Im Oktober wurden alle königlichen Zahlungen eingestellt. Geibel kehrte nach Lübeck zurück, nicht ohne dem neuen bayerischen König vorher einen Brief zu schreiben, in dem er alle seine Ämter niederlegte und betonte, dass er die Einigung des Vaterlandes schon immer angestrebt habe und dass dies für ihn seit dem Preußisch-Österreichischen Krieg nur unter preußischer Führung geschehen könne.
Kaum nach Lübeck zurückgekehrt, erfuhr Geibel, dass ihm der preußische König ein Gnadengehalt von weiteren 1000 Talern bewilligt habe. Sein Ruhm wuchs, vor allem nach der Reichseinigung von 1871, als Wirklichkeit wurde, was er in seinen politischen Gedichten immer wieder gefordert hatte: das Entstehen eines einheitlichen deutschen Staates mit einem Kaiser an der Spitze. Geibel hat das in der Gedichtsammlung Heroldsrufe (1871) in Verse gefasst. Er wurde Lübecker Ehrenbürger und lebte als allseits geachtete Berühmtheit an der Trave. Am 6. April 1884 starb er in Lübeck.
Das alles, so muss man sich in Erinnerung rufen, spielte sich zur Jugendzeit der Brüder Mann in Lübeck ab. Die beiden wussten um eine Kontinuität, die wir heute vergessen haben: Sie erlebten in Lübeck mit Geibel einen nationalen deutschen Dichter, und das hat sie zweifelsohne beeinflusst. Man hatte ihnen sicher von ihm erzählt, man begegnete sich, und er hat mit den Senatorensöhnen auch gesprochen.
So gesehen macht man es sich mit der Formel von der unliterarischen Stadt etwas zu einfach. Auch wenn es kein breites literarisches Leben gab, so gab es mit Geibel einen repräsentativen Nationaldichter! Daran knüpften die Brüder Mann an. Und auch hier zeigte sich wieder eine Ähnlichkeit in der Verschiedenheit.
Thomas Manns berühmteste Äußerung dazu stammt aus seiner Rede Lübeck als geistige Lebensform, 1927 im Lübecker Theater gehalten. Er spricht darin über die Schwierigkeiten der Lübecker mit ihm. »Sie waren an anderes gewöhnt. Sie hatten ein Repräsentanten-Denkmal auf dem Platze hier in der Nähe (in Lübeck ist ja alles >in der Nähe<): den thronenden Poeten, zu dessen Füßen der klassizistische Genius mit der gebrochenen Schwinge lehnt, das Standbild dessen, der gesungen hatte: / >Wie steigst, o Lübeck, du herauf / In alter Pracht vor meinen Sinnen / An des beflaggten Stromes Lauf usw.< - gesungen, sage ich, in dem pompösen Sinn, in dem heute niemand mehr singt. Ich habe Emanuel von Geibel als Kind noch gesehen, in Travemünde, mit seinem weißen Knebelbart und seinem Plaid über der Schulter, und bin von ihm um meiner Eltern willen sogar freundlich angeredet worden. Als er gestorben war, erzählte man sich, eine alte Frau auf der Straße habe gefragt: >Wer kriegt nu de Stell? Wer ward nu Dichter?< - Nun meine geehrten Zuhörer, niemand hat >de Stell< bekommen, >de Stell< war mit ihrem Inhaber und seiner alabasternen Form dahingegangen, der Laureatus mit dem klassisch-romantischen >Saitenspiel< konnte keinen Nachfolger haben, das erlaubte die Zeit, die fortschreitende, sich wandelnde Zeit nicht, und was sich nunmehr als literarischer Ausdruck lübeckischen Wesens auszugeben wagte, das war als solcher zunächst wahrhaftig nicht wiederzuerkennen.«[3]
Das ist die klare Anerkennung der Repräsentativität Geibels. Thomas Mann wusste, dass er für einen großen Teil des bürgerlichen Publikums im 19. Jahrhundert sprach. Diese Stelle des Dichters war mit Geibel dahingegangen. Sie war damit auch frei geworden. Diese Botschaft hatte Thomas Mann klar verstanden. Das war eine mächtige Stelle, und er hatte ein Ziel: sie einzunehmen!
Allerdings mit einer anderen Rolle als Schriftsteller und einer anderen literarischen Ausrichtung. Er wusste genau, dass ein Schreiben wie bei Geibel nicht mehr möglich war. In dem Wort »alabastern« zum Beispiel ist eine sehr kluge Kritik an Geibel enthalten, die Thomas Mann einige Jahre zuvor, in einem Aufsatz über Theodor Storm, formuliert hatte. Storm ist für Thomas Mann der Titan, einer der wenigen in der Zeit zwischen Goethes Tod 1832 und dem Aufkommen des Naturalismus und dem späten Erfolg Fontanes am Ende des Jahrhunderts. Storm gegenübergestellt wird als unterste literarische Kategorie das »schlaff Bürgerliche«, ihr folgen »spätromantische[r] Dilettantismus« und »hochbegabte[s] Epigonentum«, als dessen herausragende Vertreter Geibel und dessen Freund und Zögling, der spätere Nobelpreisträger Paul Heyse, genannt werden.[4]
Geibel als hochbegabter Epigone - damit war eine Spur gelegt, die bis heute Wirkung zeigt. Der epigonale Dichter, das ist jemand, der sein Handwerk ganz herausragend beherrscht, der eine ausgewiesene Kenntnis der literarischen Tradition hat, der aber nicht in der Lage ist, das Überraschende, Neue, die Zeit Überragende zu schaffen. Thomas Mann schafft damit zweierlei: Er tritt in Geibels Fußstapfen als Nationaldichter und erledigt ihn dabei als Dichter von Relevanz für die Gegenwart. Mit Geibels politischer Haltung, die ihn erst nach 1871 zum Nationaldichter gemacht hatte, setzt er sich nicht auseinander.
Genau das aber macht Heinrich Mann. In seiner Jugend ist er ein glühender Verehrer Geibels gewesen. Er hatte seine ersten Schreibversuche ausdrücklich auch an der Lyrik und Dramatik des Lübecker Dichters ausgerichtet. An den Freund Ewers, schreibt er nach Lübeck: »Wozu ist der Dichter eigentlich da? Ich sehe hier von Natur und Liebe, den Stoffen, welche allen Zeiten selbstverständlich eigen sind, ab und gelange zu der Antwort: Der Dichter soll unter allen Umständen der Herold seiner Zeit sein. Das können wir beide uns am besten an unsern Lieblingsdichtern, Heine und Geibel, klarmachen. Wer Heine gründlich studiert hat, der kennt jene ganze Zeit mit all ihrem jauchzenden Freiheitsenthusiasmus und all ihrer bitteren, >arretierten< Verzweiflung. Und wer Geibels >Heroldsrufe< und übrige Zeitgedichte gelesen, der ist eingeweiht in jene ganze Periode voll erwartungsvoller Sehnsucht nach einem neuen deutschen Kaiserreich.«[5]
Das ist ein anderer Geibel, den Heinrich Mann in den Blick nimmt. Der politische Lyriker, der von 1840 an für einen deutschen Nationalstaat im konservativen Sinne gelebt und geschrieben hatte. Damit ist er eine repräsentative Figur im 19. Jahrhundert, und der junge Heinrich Mann erkannte auch ganz klar den Gegenspieler: Heinrich Heine. Beide zusammen, so seine Botschaft, machen für die Nachgeborenen die literarisch-politische Signatur des...
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