Schweitzer Fachinformationen
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»War das wirklich die letzte Chemo?«, fragte Linda.
»Ja«, antwortete Michael.
»Drei, haben sie gesagt. Nur drei Behandlungen«, sagte Linda, »das war jetzt die achte.«
»Ich weiß, mein Schatz. Aber du bist tapfer. Du schaffst das.«
Im Garten der Klinik standen zwei Gärtner, ein älterer und ein sehr junger. Sie diskutierten und gestikulierten dabei. Der jüngere Gärtner bückte sich und deutete dabei auf seine Kniescheibe.
»Die haben ein gutes Leben«, sagte Linda. »Jeden Tag beobachte ich sie.«
Linda erzählte, dass die Gärtner niemals von Pflanzen oder Bäumen oder über ihre Arbeit redeten, sondern immer über Fußball. Der jüngere Gärtner zeige dem älteren seine Verletzungen vom letzten Match. Dabei verwende der Junge Fachausdrücke, die er falsch ausspreche. So sage er immer Miniskus, wenn er vom Meniskus spreche, und wenn er Luxation sagen wolle, komme ein ganz seltsames Wort heraus, das sie gar nicht nachahmen könne.
Linda blickte zum Infusionsständer. Der Beutel war noch sehr voll. »Du solltest wieder mal was für dich machen, Michi. Etwas, das dir Spaß macht.«
»Was macht mir denn Spaß?«, fragte Michael.
»Ich weiß nicht. Fahr nach München und geh ins Hofbräuhaus!«
»Allein?«
»Geh mal wieder Boule spielen mit deinen Kollegen. Fahr mit dem Rad nach Bratislava. Schau dir im Kino einen Film an. Du musst doch nicht jeden Tag neben deiner kaputten Frau sitzen!«
»Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut«, sagte Michael.
Michael war nervös, als er läutete. Die Tür ging auf.
»Hallo! Hast du einen Termin?«, fragte die Frau an der Tür.
»Ja«, sagte Michael. »Nein!«
»Also, ja oder nein?«
»Ich habe keinen Termin«, sagte Michael.
»Ist gut, Schätzchen«, sagte die Frau. »Komm mit! Bist du das erste Mal bei uns?«
»Nein«, sagte Michael.
Natürlich war er das erste Mal hier. Was für eine dumme Frage, dachte Michael. Er folgte der Frau über eine Treppe in einen Korridor. Links und rechts waren Zimmer. Es war niemand zu sehen. Die Frau öffnete eine Zimmertür: »Mach's dir bequem, ich schicke die Mädchen vorbei, und du suchst dir eine aus, o. k.?«
Im Zimmer gab es ein Bett, eine Duschkabine und ein Tischchen mit einem Fauteuil. Michael hätte die Musik gerne leiser gemacht, aber dann verstand er, wozu sie gut war. Alles war sauber. Am Bettgestänge waren Handschellen festgemacht. Die Handschellen störten Michael. Er wollte keine Handschellen.
Nach einigen Minuten hörte Michael Stöckelschuhe näher kommen. Die Tür ging auf. Ein junges, dunkelhäutiges Mädchen kam lächelnd zur Tür herein. Er stand auf und gab ihr die Hand.
»Ich bin Marina«, sagte das Mädchen.
»Michael«, sagte Michael.
Das Mädchen gefiel ihm, aber sie hieß in Wirklichkeit bestimmt nicht Marina. Warum nur hatte er seinen richtigen Namen gesagt?
»Ich schicke jetzt die anderen Mädchen zu dir«, sagte Marina.
»Ja«, sagte Michael. »Das heißt nein. Kannst du nicht bei mir bleiben?«
»Aber sicher. Eine Stunde, eine halbe Stunde oder Quickie?«, fragte Marina.
»Eine Stunde«, sagte Michael.
Er wunderte sich über seine Bestimmtheit. Sie verlangte 180 Euro. Er zückte seine Brieftasche.
»Leg das Geld hier auf den Tisch, o. k.? Gehst du dich duschen, mein Schatz?«, sagte Marina. »Ich komme gleich zu dir.«
Michael nahm zwei Hunderter aus der Brieftasche und legte sie auf den Tisch. Dann zog er sich aus. Er überlegte, ob es im Zimmer eine Kamera gab. Er betrat die Duschkabine. Langsam seifte er sich mit dem Duschgel ein, das dort bereitstand. Es war stark parfümiert. Wie gut, dass er Linda an diesem Tag nicht besuchen musste. Sie hatte es ihm verboten. Er solle mal einen Tag für sich haben. Michael hatte protestiert, nun aber war er froh, dass er eingewilligt hatte. Linda würde sofort riechen, dass er ein anderes Duschgel verwendet hatte. Obwohl man ihnen erklärt hatte, dass es während und nach der Chemotherapie zu Geruchs- und Geschmacksverlust kommen könne, redete Linda schon seit der ersten Behandlung oft von Gerüchen. Vielleicht tat sie nur so, als könne sie gut riechen.
Fast die ganze Flasche Duschgel brauchte Michael auf. Er stieg aus der Duschkabine und trocknete sich mit dem Badetuch ab, das auf dem Bett lag. Lange saß Michael mit dem Badetuch um die Hüften auf dem Bett. Endlich hörte er auf dem Gang wieder Stöckelschuhe. Marina betrat das Zimmer und zog sich gleich aus. Michael fand das schade, er hätte das gerne getan - und zwar langsam. Außerdem störte ihn, dass sie das Zimmer nicht abgesperrt hatte. Er wies sie darauf hin. Sie lachte, ging zur Tür und drehte den Schlüssel um. Dann versetzte sie ihm im Scherz einen Stoß, sodass er aufs Bett fiel. Sie legte sich zu ihm. Sie hatte schöne, feste Brüste. Er dürfe sie sogar küssen, sowohl die Brüste als auch Marina.
Michael bekam sofort eine Erektion. Er war schockiert über sich selbst. Wie gut alles funktionierte! Dass er kein schlechtes Gewissen hatte! Er dachte nicht an Linda. Nur, indem er dachte, dass er nicht an sie dachte, dachte er an sie.
»Magst du von vorne oder von hinten?«, fragte Marina.
Michael wählte die Missionarsstellung. Bald kam er zum Höhepunkt. Der erste Sex seit mehr als zwei Jahren. Routiniert zog Marina ein Taschentuch aus der Spenderbox, entfernte das Kondom, wickelte es ein und warf es auf den Boden neben das Bett.
Dann lag er neben Marina, und sie erzählte von ihrer Heimat Kuba. Er wolle unbedingt einmal nach Kuba reisen, sagte Michael.
»Hier bei euch ist das Leben Stress«, sagte Marina, »und ihr Österreicher redet einfach nichts. Jeden Tag muss ich nachdenken, was dieses Schweigen bedeutet. Oder ihr sagt Ja oder Nein, ein paarmal am Tag. Und das war's. Es ist furchtbar. Im Sommer bin ich gerne hier, aber im Winter ist es furchtbar.«
Michael mochte das dunkelhäutige Mädchen, und sie tat ihm leid. Bestimmt war sie froh, wenn er wieder weg war. Ob sie einen Heiratsantrag von ihm annehmen würde? Sie müsste dann nicht mehr mit Männern ins Bett gehen, die zu Hause keinen Sex hatten. Sie könnte zu Hause bleiben, während er arbeiten ging, und im Winter für ein paar Monate nach Kuba fliegen.
Michael hatte eine seltsame Fantasie: Er sah sich selbst mit seinem Chef beim Mittagessen. Tatsächlich gingen die beiden manchmal gemeinsam essen. Michael hörte sich selbst sagen: »Meine Frau . meine zweite Frau . Sie ist Kubanerin.«
»Bist du verheiratet?«, fragte Marina.
»Nein«, antwortete Michael.
Marina lachte. Sie nahm seine Hand und streichelte seine Finger, bis sie bei seinem Ehering angelangt war.
»Ja«, sagte Michael, »meine Frau . sie . Du musst wissen, dass .«
Marina hielt ihm ihren Zeigefinger an die Lippen. Sie begann sein Brusthaar zu streicheln und leicht in seine Brustwarzen zu beißen. »Mach dir keinen Kopf! Jeder dritte Mann geht ins Puff«, sagte sie.
Diesmal machten sie es von hinten. Danach duschte Michael wieder. Nun war das Duschgel leer.
Marina begleitete Michael die Treppe hinunter zur Eingangstür und hielt dabei seine Hand.
»Das war fein. Ich hoffe, du hattest Spaß, mein Schatz«, sagte Marina.
»Kommst du wieder?«, fragte Marina.
»Ja.«
Er wollte Marina auf die Wange küssen, aber sie hielt ihn am Kinn fest und drückte kurz ihre gespitzten Lippen auf seine.
Als er vor die Tür trat, ging er ein paar Schritte zur Straßenbahn, blieb kurz stehen und machte sein Mobiltelefon an. Er war erleichtert: Linda hatte nicht angerufen.
Linda saß im Rollstuhl an der großen Glasscheibe, durch die man den Garten sehen konnte. Der untere Teil war voller Finger- und Handabdrücke. Besonders Kinder, die zu Krankenbesuchen mitgenommen wurden, hinterließen hier ihre Spuren.
Linda fuhr nicht in den Garten hinaus, heute nicht. Es war zu kalt. Sie erschrak, als Schwester Carina sie von hinten an den Schultern fasste.
»Warten Sie auf Ihren Mann?«, fragte die Schwester.
»Ich habe ihm verboten, heute zu kommen«, sagte Linda.
»Na, Sie sind aber streng!«
»Wissen Sie, er kommt jeden Tag. Jeden Tag nach der Arbeit. Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich ihm erzählen soll. Ich erfinde Gespräche, die die Gärtner da draußen führen, oder erzähle ihm, was in der Zeitung steht. Ich habe gesagt, er soll sich amüsieren.«
»Das ist aber sehr nett von Ihnen.«
»Er soll auch mal seine Ruhe haben. Immer nur arbeiten und hier neben mir sitzen, das ist doch deprimierend. Er soll auch ein Leben haben.«
»Da würde ich mir keine Sorgen machen.«
»Doch. Ich mache mir Sorgen. Er vergisst sich selbst. Er vergisst die ganze Welt. Ich muss ihn auf alles hinweisen. Wenn eine Pflanze gut riecht, muss ich ihm sagen: Riech einmal!«
»Ja, so sind die Männer. Die haben anderes im Kopf.«
»Die haben nichts im Kopf.«
»Glauben Sie?«
»Haben Sie auch so ein Exemplar zu Hause?«
»Ja, ja. Ich sage immer: Die Arbeit hier ist meine Erholung. Und danach muss ich nach Hause - zur wirklichen Arbeit.«
Michael überquerte eine Brücke und war bald auf der Donauinsel. Radfahrer zogen an ihm vorbei. Er hatte für Radfahrer nichts übrig und auch für Jogger nicht. Aber er war froh, dass sie etwas zu tun hatten, dass er...
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