Schweitzer Fachinformationen
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Eins
CLAIRE
Das Schönste am Sommer waren die Wolken, wenn sie aussahen wie Zuckerwatte, von klebrigen Kinderfingern an den Himmel gepappt. Kam außerdem ein milder Spätnachmittagswind hinzu, der nach Sonnencreme roch und Lounge-Musik von der Strandbar herübertrug, stand dem perfekten Einstieg ins Wochenende nichts, rein gar nichts im Weg.
Claire lächelte und setzte ihre Sonnenbrille auf. Seufzend lehnte sie sich in der Klappliege zurück, nahm das Kunstmagazin aus der Tasche und vergrub die Zehen im Sand. Satte vierunddreißig Grad hatten sie vorhin im Radio gemeldet. Es war zweifellos eine brillante Idee gewesen, nach Redaktionsschluss zum Weißensee zu fahren, obwohl halb Berlin offensichtlich denselben Einfall hatte. Aber mit geschlossenen Augen, ein bisschen Fantasie und wenn sie das Gekläffe und Kindergeschrei ausblendete, konnte sie sich an diesem Ort problemlos in den Urlaub träu.
»Claire! Wo bleibst du denn? Komm ins Wasser, es ist herrlich!«
Gut, sie brauchte mehr als nur ein bisschen Fantasie. Claire hielt die Zeitschrift ein wenig höher, auch wenn sie wusste, dass Sasha derartige Signale grundsätzlich ignorierte.
»Du kannst dich nicht verstecken, Mademoiselle Durant. Ich sehe deinen käsigen Alabasterkörper noch immer!«
Sie vermied einen allzu genauen Blick auf das schaukelnde Holzfloß und das viele Wasser drum herum und konzentrierte sich auf die Gestalt, die auf der Badeinsel auf und ab hüpfte. Dünn und biegsam, wie Sasha war, la fille sans balcon et derrière - das Mädchen ohne Busen und Hintern, wie Claire sie insgeheim nannte, wirkte sie wie eine ausgelassene Sechzehnjährige. Claire schmunzelte und wedelte mit dem Magazin, als verscheuche sie ein hübsches, aber lästiges Insekt.
Sie liebte diesen See mit der lilienförmigen Fontäne in der Mitte und den Booten, die träge darum herum dümpelten. Allerdings war es eine Liebe, wie sie ein Kunstkenner verspürt, wenn er ein Gemälde betrachtet: aus respektvollem Abstand und ohne das Bedürfnis, es berühren zu müssen, um es zu verstehen. Davon abgesehen wurde ihr bereits beim Anblick des schwankenden Floßes übel.
Sasha schien aufgegeben zu haben. Von ihr war mit einem Mal weit und breit nichts mehr zu entdecken, und da Claire davon ausging, dass die kleine Wasserratte sicher nicht ertrunken war, kehrte sie zu dem Artikel zurück, der bereits in der Redaktion ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.
Vom Dachbodenfund bis zur Semesterabschlussarbeit - Galeristen stellen neue Weichen in der Pariser Kunstszene und präsentieren die Werke unentdeckter Talente.
Sie seufzte. Wenn Genusto doch nur ein wenig breiter aufgestellt wäre. Davon abgesehen, dass sie schon ewig nicht mehr in Paris war - wie gern würde sie sich diese Ausstellung ansehen und darüber berichten. In jüngerer Vergangenheit gab es in London und in New York ähnliche Veranstaltungen, bei denen sich Künstler wie Jefferson Newthorne oder Angela Winston einen Namen in der internationalen Kunstszene gemacht hatten. Wenn die Kunstmetropole Paris gleichzog, konnte dies der Beginn von etwas Großem sein, das über kurz oder lang auch Berlin erreichen würde.
Ihr Puls erhöhte sich, wenn sie nur darüber nachdachte. Die Entdeckung neuer französischer Talente - bei einem solchen Ereignis dufte sie keinesfalls fehlen. Doch da Genusto sich hauptsächlich mit Themen rund ums Essen befasste und die Rubrik Kultur und Lebensart nur lächerliche drei Doppelseiten in dem Food-Magazin einnahm, durfte sie kaum darauf hoffen, dass Hellwig ihr eine Dienstreise im Namen der Kunst finanzierte.
Natürlich konnte sie Urlaub einreichen und das Ganze zu ihrem Privatvergnügen machen, aber Presseausweis hin oder her: Ohne persönliche Einladung würde sie nicht mal in die Nähe des Grand Palais gelangen, wo die große Eröffnungsgala stattfand. Vielleicht sollte sie ihren Chef doch .
»Ich wusste gar nicht, dass du wasserscheu bist«, ertönte eine fröhliche Stimme über ihr, die ein paar eiskalte Wassertröpfchen mitbrachte, welche sich auf Claires Schenkeln und der Zeitschrift verteilten.
Claire verbiss sich ein spontanes Quieken. Eine grande dame kreischte nicht. In keiner Lebenslage. Schon gar nicht, wenn zwei leidlich gut aussehende junge Männer nebenan lagen und frech herübergrinsten. Also lupfte Claire bewusst gemächlich die Sonnenbrille.
»Ich bin nicht wasserscheu«, sagte sie gedehnt und bohrte den Blick in Sashas Bauch, der mehr wie der eines Kindes als der einer Frau aussah. »Aber du hast da was kleben. Etwas ziemlich . Ekliges, wenn du mich fragst.«
»Was? Wo?«
»Ouuu! Es krabbelt.«
»Claire! Das ist nicht witzig.«
»Doch, chérie, ist es.«
Kichernd packte Claire die Zeitschrift ein. Es war Zeit für den angenehmen Teil des Tages. Sie würde am Montag mit dem Chef über die Ausstellung in Paris sprechen und über einige andere Dinge, die ihr im Kopf herumspukten.
»Nun hör schon auf, dich zu drehen wie ein verrückter Kreisel. War bloß Spaß«, sagte sie milde, woraufhin Sasha schnaubend neben ihr in den Sand plumpste.
»Das war kein Spaß. Ich hab Angst vor Krabbelviechern.«
Die Versuchung, Sasha ein blondes, tropfendes Löckchen aus der Stirn zu streichen, war groß. Aber sosehr sie die Kleine mochte und sosehr es ihr gefiel, mit ihr ein paar unbeschwerte Stunden fernab der Redaktion zu verbringen, in erster Linie war Sasha ihre Praktikantin, auch wenn sie den Anstellungsvertrag bei Genusto so gut wie in der Tasche hatte.
»In was für eine Klemmmühle bin ich denn da schon wieder geraten? Nun schmoll nicht, ma petite.« Claire zwinkerte und senkte die Stimme. »Erklären wir lieber den garçons da drüben, wie die Franzosen hübschen Frauen Komplimente machen. Ich wette, ich bringe die Jungs dazu, uns zu einem Cocktail einzuladen.«
»Die Wette gilt. Du hast zehn Minuten.« Sasha hob eine Braue, ihr schmaler Mund zuckte. »Und es heißt Zwickmühle, Mademoiselle, nicht Klemmmühle.«
Am frühen Abend schob Claire ihr Fahrrad durch den efeubewachsenen Torbogen zum Hinterhaus der Ratiborstraße 15. Sie war schon ein paar hundert Meter vorher abgestiegen, denn der Gehweg war brüchig und mit Schlaglöchern übersät. Unter normalen Umständen stellte das Kreuzberger Pflaster keine große Herausforderung für ihre Fahrkünste dar, doch nach zwei Caipirinhas fühlte sie sich nicht mehr so sicher auf Iah. So hatte sie ihren Drahtesel einst getauft, weil er trotz Kettenschmiere und gutem Zureden nicht aufhören wollte zu quietschen. Aber wie das eben so ist mit Dingen, denen man einen Namen gibt: Claire liebte Iah heiß und innig, und das alte Klapprad dankte ihr die geflüsterten Koseworte, indem es sie seit Jahren unverdrossen durch die Hauptstadt trug.
Sie bugsierte Iah in den Fahrradschuppen zu seinen namenlosen Kollegen, tätschelte den Sattel und nahm die Einkaufstüten aus dem Korb.
Es war immer dasselbe Gefühl, das sie überfiel, wenn sie nach Hause kam: eine Mischung aus Nostalgie, angesichts der balkonlosen Fassade, die im Gegensatz zum schmucken Vorderhaus dringend einen Anstrich benötigte, und Staunen über die Topfpflanzenidylle des Hinterhofs mit den Sitzgelegenheiten aus umgedrehten Obstkisten. Kinder hatten mit Kreide ein Hüpfkästchenspiel auf das Pflaster gemalt, und als Claire in das Halbdunkel des Hausflurs schlüpfte, war sie außer Atem und lächelte vergnügt, obwohl beim letzten Sprung der Henkel ihrer Obsttüte gerissen war.
Im dritten Stock drückte sie zweimal kurz und einmal lang auf den blank geriebenen Messingknopf neben dem Klingelschild und wartete, bis sich die vertrauten Pantoffelschritte näherten. Jemand hustete.
»Wer ist da?«
»Frau Kaiser, ich bin's. Claire Durant von oben. Ich bringe Ihnen etwas Obst.« Sie fischte einen Apfel aus der Tüte und hielt ihn vor den Türspion. »Sieht der nicht lecker aus? Na ja, eine kleine Druckstelle hat er wohl abbekommen, weil mir vorhin beim la marelle ein klitzekleines Malheur .«
Die Kette rasselte, die Tür öffnete sich.
»Sie brauchen nicht so zu schreien, Fräulein Durant. Ich bin alt, aber nicht taub.«
»Natürlich Madame. Entschuldigen Sie bitte.«
Frau Kaiser war so klein, dass sogar Claire auf sie hinabschauen konnte. Rein körperlich, versteht sich, denn die pensionierte Oberschullehrerin gehörte nicht zu den Menschen, auf die man herabsah. Dazu war sie viel zu furchteinflößend.
»Das ist jetzt schon das dritte Mal in zwei Wochen, dass Sie mir was vorbeibringen«, sagte sie vorwurfsvoll und beäugte die zerrissene Tüte über den Rand ihrer Hornbrille hinweg.
»Nun ja, Sie sind erkältet. Deshalb dachte ich mir, es schadet nicht, wenn Sie ein paar Vitamine bekommen.«
»Dachten Sie das.«
»Bien sûr, Madame.« Claire lächelte gewinnend. »Aber wenn Sie die Äpfel nicht wollen, nehme ich sie gerne wieder .«
»Nu stellen Sie sich mal nicht so an, junge Dame«, schnarrte Frau Kaiser und öffnete die Tür so weit, dass Claire einen Blick auf den verschlissenen Perserteppich im Flur erhaschte. Sogar bis hierhin stapelten sich Bücher auf dem Boden. »Kommen Sie schon rein, für eine Tasse Tee werden Sie ja wohl Zeit haben.«
Claire wusste nie, ob sie die Luft anhalten oder gierig einatmen sollte, wenn sie diese Wohnung betrat, die mehr mit einem Antiquariat gemein hatte als manch alteingesessene Buchhandlung. Die Raumaufteilung...
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