Kapitel 4
Der Schneefall der Nacht war am späten Vormittag in Regen übergegangen. Die dünne Schneedecke verschwand zusehends, machte graubraunem Matsch Platz.
In den Redaktionsräumen der Zeitschrift »Donna« herrschte die übliche Freitagsstimmung: Letzte Korrekturen am Blatt. Aktuelle News, die noch eingefügt werden mussten. Termindruck von Seiten der Herstellung - und blank liegende Nerven des Chefs vom Dienst.
Julia kannte das alles. Und sie liebte es! Genau so hatte sie sich ihren Job gewünscht: Aktion. Nervöse Spannung. Gespannte Neugier. Aber auch seriösen Journalismus.
Das alles bot »Donna« - mit der ironischen Konsequenz, dass sie, die Jüngste im Team, sich heute in Richtung Süden aufmachen musste, um diesen legendären Bestsellerautor aufzuspüren.
»Ich drück dir sämtliche Daumen«, sagte Elke und zog die Freundin kurz an sich.
»Ich kann jeden guten Wunsch brauchen.« Julia sah zur Tür des Redaktionsleiters. »Er lässt sich nicht blicken, der Feigling. Der weiß ganz genau, dass er mich mit einem Auftrag losschickt, den ich kaum erfüllen kann.«
»Denk positiv. Das hilft.« Elke lächelte aufmunternd. »Und jetzt los, sonst wird es dunkel, noch bevor du in Florenz bist. - Und meid dich zwischendurch. Du kannst auch bei mir zu Hause anrufen, da können wir ungestörter reden.«
»Wenn deine Zwillinge nichts dagegen haben«, lachte Julia, die ihre gute Laune wiedergefunden hatte. Elke hatte ja Recht: Es half gar nichts, mit negativer Einstellung an den Auftrag ranzugehen.
Etwa zwei Stunden lang hielt ihre gute Laune an. Dann, kurz hinter Rosenheim, begann der Regen wieder in Schnee überzugehen. Dazu kam heftiger Wind auf. Die Scheibenwischer von Julias altem Audi, der einst ihrer Mutter gehört hatte und den sie heiß und innig liebte, arbeiteten auf Hochtouren.
»Mist. Das fängt wirklich nicht verheißungsvoll an«, murmelte sie und suchte im Autoradio nach einem guten Musiksender.
Robbie Williams ... dann ein bisschen Sinatra und Ella Fitzgerald ... die Stimmung wurde besser!
Zur gleichen Zeit saßen einander in einem Büro in Münchens Süden Frank Mertens und ein etwas korpulenter Mann in den Vierzigern gegenüber.
»Willst du wirklich jetzt noch los?«, fragte Karsten Saalburg.
»Warum nicht? In gut vier Stunden bin ich im Haus.«
»Sollen wir nicht noch mal das Konzept durchgehen?« Karsten, vierundvierzig Jahre alt und vom ersten Moment an Franks Lektor, griff schon nach seinem Laptop.
»Lass es gut sein, ich hab die Story eigentlich schon komplett im Kopf.« Frank stand auf. »Du weißt doch, wie ich am liebsten arbeite: Ich hab mein Konzept, das schreib ich auf -und du musst dann mit dem fertigen Manuskript klarkommen.«
»Ja, ja, nach dem Prinzip >friss oder stirb<.« Karsten Saalburg seufzte tief auf.
»Du bedauernswerter Mensch!« Frank grinste. »Dabei weißt du genau, dass ich dir den nächsten Bestseller liefern werde. Lass du dir in der Zwischenzeit was für die Presse einfallen.«
»Du bist 'ne Diva geworden.«
»Tja, mein Bester, so sind wir nun mal, wir Starautoren!« Lachend öffnete Frank die Tür. »Mach's gut, mein Alter. Grüß mir deine Katrin und die Kinder. Ich bring ihnen was aus Italien mit.«
Frank war der Patenonkel der drei Kinder, die sein Freund Karsten mit seiner Katrin hatte. Eigentlich war er nur der Patenonkel des letzten Kindes. Pia war jetzt drei und ein süßer Fratz mit weißblonden Locken und einem Lächeln, das jeden dahinschmelzen ließ.
Ihre beiden Geschwister, der zehnjährige Jens und die achtjährige Elena, hatten allerdings beschlossen, auch so einen lustigen Patenonkel wie die kleine Schwester haben zu wollen. Ihre Paten waren jeweils die beiden Großväter.
»Das ist Betrug«, hatte Jens mal erklärt. »Und es ist ungerecht.«
»Ich muss dir Recht geben«, hatte Frank spontan gesagt - und sich gleich die Antwort eingehandelt:
»Wenn du das so siehst ... dann werd doch unser Adoptiv-Patenonkel.«
Ja, und so war er zu unerwarteten Onkel-Freuden gekommen. Die er jedoch mit Begeisterung wahrnahm. Die fünf Saalburgs ersetzten ihm die Familie, die er nicht mehr hatte. Außer Karsten, Katrin, dem Verlagsleiter und dem fast siebzigjährigen Verleger, der sich allerdings aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen hatte, wusste niemand, dass der Antiquitätenhändler Frank Mertens der Bestseller-Autor Franco Fabiani war.
»Fahr vorsichtig!«
»Immer. Das weißt du doch.« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Draußen auf der Straße atmete Frank ein paar Mal tief durch. Das kurze Meeting hatte noch sein müssen - jetzt konnte die Fahrt in den Süden beginnen. Er freute sich schon auf sein kleines Haus ganz in der Nähe von Venedig. Es war aus Bruchsteinen erbaut, gut zweihundert Jahre alt und höchst renovierungsbedürftig gewesen, als er es vor Jahren entdeckt hatte.
Mit den drei Erben - sie arbeiteten allesamt in Venedig und hatten kein Interesse daran gehabt, das Häuschen einer verstorbenen alten Tante zu bewohnen - war er sich rasch einig geworden.
Fast acht Monate hatten die Instandsetzungsarbeiten gedauert, kontrolliert von dem alten Tonio und dessen Frau Lucia. Die beiden sorgten für Ordnung, wenn Frank nicht da war, und Lucia bekochte den Autor, wenn er nach Italien kam und sich dann zum Schreiben in die Einsamkeit des kleinen Dorfes zurückzog.
Auf Lucia und Tonio war Verlass, sie liebten Frank wie einen Sohn und hätten nie etwas getan, was ihm schaden würde. Keine Frage, dass sich jeder Journalist an ihnen die Zähne ausbeißen würde.
Frank schaute auf das graue Band der Autobahn. Es herrschte zum Glück nur wenig Verkehr, das Wetter lud nicht gerade zu einer Spazierfahrt ein. Konzentriert spulte Frank Kilometer um Kilometer ab, in Gedanken hin und wieder schon in der Toskana. Bei Lucias geschmortem Kaninchenragout und ihren einfach göttlichen Desserts.
Der Sturm wurde stärker, Frank musste hin und wieder gegenlenken, um den Wagen in der Spur zu halten. Und der Regen, der bei seiner Abfahrt noch recht gemäßigt vom Himmel gekommen war, verwandelte sich immer mehr in Graupel und sogar Schneeflocken, je mehr er sich der Grenze näherte.
Das Autotelefon meldete sich. »Wer will denn jetzt noch was von mir?«, seufzte Frank unterdrückt auf, warf einen kurzen Blick aufs Display und runzelte die Stirn. »Ja, Andrea, was gibt's denn?« Seine Stimme klang nicht gerade freundlich.
Sollte sie ruhig merken, dass er es gar nicht schätzte, wenn sie versuchte, ihn mit albernen Anrufen zu kontrollieren.
»Frank - wo steckst du? Es geht um den alten Sekretär aus dem Nachlass der Gräfin Pommersfelden. Du erinnerst dich?« Sie machte nur eine kurze Atempause und fuhr schon fort: »Eben war der Neffe hier. Er ist Alleinerbe und will sich von dem Sekretär und auch einer Vitrine trennen. Beides aus der Zeit um 1770.«
Frank atmete ein paar Mal tief durch, ehe er ruhig erwiderte: »Du hast doch alle dafür notwendigen Vollmachten, Andrea. Mach das Geschäft, wenn die Preisvorstellungen des Erben nicht allzu utopisch sind. Mich brauchst du dazu nicht.«
»Ja aber ...«
»Nein. Vergiss es. Ich mache meinen Urlaub wie geplant. Und jetzt - viel Erfolg und adieu.«
Er ahnte, dass sie jetzt wütend die Augen zusammenkneifen und ziemlich undamenhaft fluchen würde. Das tat sie gelegentlich. Zuerst hatte es ihn amüsiert, doch inzwischen fand er dieses Benehmen nicht mehr akzeptabel. Solange Andrea sich jedoch in Gegenwart Dritter beherrschte, wollte er sie diesbezüglich nicht zur Rechenschaft ziehen.
Der Schneefall wurde immer stärker. Der Verkehr geriet zweimal sogar ins Stocken, da einige Fahrzeuge für diese Wetterverhältnisse offensichtlich nicht ausgerüstet waren.
Das Grauweiß des Schneefalls wurde plötzlich durch blitzendes Blaulicht unterbrochen. Ein Unfall! In Sekundenschnelle lenkte Frank nach rechts und scherte aus. Im letzten Moment hatte er es noch geschafft, die Ausfahrt zu erreichen. Sicher war es ratsam, die Unfallstelle zu umfahren.
Er fuhr drei Kilometer, ohne einem einzigen Fahrzeug zu begegnen. Dann aber, hinter einer flachen Kurve, sah er einen Wagen am Straßenrand stehen. Und davor, wild winkend, eine Gestalt ...
Frank bremste vorsichtig ab, ließ das Fenster herunter und rief: »Was ist los? Haben Sie eine Panne?« Ein wenig vorsichtig sollte man ja sein, hatte er kürzlich erst gelesen. Einige Autodiebe täuschten einen Unfall vor und raubten dann das Fahrzeug des gutmütigen Helfers.
»Bin ich froh, dass Sie gekommen sind!« Die Stimme - eine junge Stimme - war sehr melodisch. »Ich sitze hier seit einer halben Stunde fest.«
»Was ist denn passiert?«
»Keine Ahnung. Ich bin eine technische Niete.« Die junge Frau, die sich einen Anorak übergezogen hatte, dessen Kapuze ihr Gesicht fast ganz verdeckte, trat ans Wagenfenster. »Aber Benzin ist noch drin. Nicht dass Sie denken, ich ...«
»Warten Sie, ich seh mir die Sache mal an.« Frank stieg aus, doch in Sekundenschnelle hatte der Schnee sein Kordhemd durchweicht.
»Sie müssen sich was überziehen«, mahnte Julia.
»Verflixt, ja ...« Er hatte tatsächlich nicht daran gedacht, die Wachsjacke vom Rücksitz zu nehmen. Lag es an den tiefblauen Augen der Fremden? An ihrer Stimme, die samtweich klang und irgendwie ... erotisch. Zumindest hatte sie es in wenigen Sekunden geschafft, ihn zu irritieren.
Er öffnete die Motorhaube, kontrollierte die Zündkerzen und die Benzinzufuhr. Alles schien in Ordnung zu sein.
»Sorry, aber mehr kann ich nicht tun. Vom Innenleben eines Autos versteh ich auch nicht viel.«
»Und jetzt?« Leichte Panik schwang in...