Schweitzer Fachinformationen
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Anina stand zum tausendsten Mal auf, ging ins Bad, tigerte zurück ins Zimmer, schaute unruhig aus dem Fenster, nur um sich wieder an den Tisch zu setzen. Um sich zum tausendsten Mal auf nichts konzentrieren zu können. Sie starrte auf die Tischlupe, sah darunter den von ihr in Originalgröße gezeichneten Riesenbockkäfer, Titanus Giganteus, den die Lupe noch vergrößerte. Ein Vertreter der Bockkäfer aus den tropischen Regenwäldern Südamerikas, der bis zu zwanzig Zentimeter groß werden konnte. Sie wusste nicht mehr, wie viele Stunden sie schon an ihm gearbeitet hatte, sie war noch immer nicht zufrieden, seine schwarzbraune Färbung war entweder zu hell oder zu dunkel, und es fehlte ihm dieser matte Glanz, der ihm seine Schönheit verlieh. Sie setzte sich wieder hin, nahm den Pinsel in die Hand und warf ihn in eine Ecke. Es half alles nichts, heute musste es sein. Sie stand auf. Jetzt gehe ich ins Badezimmer und mache diesen Scheißtest. Ihre Übelkeit konnte alles Mögliche sein, der ganze Druck und Stress der letzten Monate, der immer wieder verschobene Abgabetermin dieses verfluchten Käfers, ihre Diplomarbeit.
Sie riss die Packung auf, setzte sich auf die Schüssel und hielt das Stäbchen in den Urinstrahl. Sie schloss die Augen, wartete, bis sie es nicht mehr aushielt.
Sie starrte auf die beiden Striche in ihren Händen.
»Oh Gott, nein, nein, nein«, wimmerte sie.
Das Stäbchen fiel aus ihren zitternden Händen.
Das ist unmöglich, es ist nicht wahr, es ist einfach nicht wahr. Sie griff nach dem Stäbchen. Zwei Striche, zwei verdammte Striche. Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, nein, das kann nicht sein.«
Einen Moment überlegte sie, ob sie noch einen Test machen sollte.
Sie hielt den Kopf über die Schüssel, würgte, es kam nichts. Sie zog sich hoch, schwankend ging sie ins Wohnzimmer, riss das Fenster auf, starrte hinaus in den Garten. Ein wunderschöner Tag. Irgendwo sang eine Amsel, eine sanfte Brise streifte die Baumwipfel im Nachbargarten, der ans zerfallene Haus daneben grenzte. Sie sah sogar den Schriftstellernachbarn, der nicht mehr schrieb. Schade, seine Bücher gefielen ihr. Er hatte, wie oft, eine erloschene Zigarre im Mund, zumindest sah sie keinen Rauch. Er schraubte an irgendetwas herum, sie sah nicht, was es war, weil er davorstand. Plötzlich drehte er sich um und ging zurück zum Haus, wie immer in Gedanken vertieft, als sammle er Stille. Jetzt sah sie, was er machte, er baute ein Hotel für Wildbienen, Osmia bicolor. Er kam zurück, verschwand immer wieder zwischen den Bäumen, diesmal brannte die Zigarre. Stumpen sagte er dazu, das sind doch nur Stumpen.
Tu was, Anina, mach was.
Sie schaute zum zerfallenen Haus hinüber, genauso fühlte sie sich jetzt. Durch die zerbrochenen Fenster hatte sie lange kaum ins Innere zu blicken gewagt. Immer hatte sie dabei das Gefühl gehabt, etwas Anstößiges zu tun. Letzten Sommer hatte das Haus einen Bewohner, einen Landstreicher. Sie hatte ihn nur einmal gesehen, aber täglich den Porzellangarten, den er angelegt hatte, bewundert. Er hatte Tassen, Krüge und Schüsseln auf die Veranda gestellt, sie mit Erde gefüllt und darin alles Mögliche gepflanzt. Kosmeen neben Steinkraut, Klematis und Margeriten, aus Sektgläsern blühte Mohn. In einer Suppenschüssel zog er Tomaten, in einem Topf Bohnen, aus einer Pfanne wucherten Zucchini. In die Mitte der Veranda hatte er einen großen Uhrenkasten gestellt. Eine Meise hatte ihn zu ihrem Nest umgebaut.
Mach etwas, Anina.
Ich muss hier raus, zu Luc, er muss es wissen. Ich muss es ihm sagen, er wird mir helfen. Sie ging in die Küche, ließ Wasser laufen, hielt die Hände unter den Strahl, benetzte die Stirn, den Nacken. Nahm ein Glas von der Spüle, füllte es mit Wasser, trank. Dann schlüpfte sie in ihre Schuhe. Sie sah ihr Gesicht im Garderobenspiegel und bemerkte erst jetzt, dass sie geweint hatte. Mit einem Taschentuch wischte sie Tränen und zerlaufene Mascara weg.
Luc hatte noch am selben Tag einen Termin beim Arzt arrangiert, der die Schwangerschaft bestätigte. Sie hatte keine Ahnung, wie er das geschafft hatte. Danach hatte sie es nicht mehr ausgehalten in der Wohnung, es war alles zu klein, zu eng, zu nah, zu viel.
Bring mich hier weg, hatte sie gefleht. Wohin? Egal wohin, einfach weg, nein, nicht egal, nach Frankreich, ja, nach Frankreich. Paris, hatte er gefragt. Einen Moment hatte sie überlegt, nein, nicht Paris, aber Frankreich. Er hatte nur genickt, sie hatten in aller Eile eine Reisetasche gepackt, waren in den alten Renault gestiegen und einfach losgefahren. Wohin fahren wir, hatte sie irgendwann gefragt. Ich weiß, wohin, mach dir keine Sorgen, hatte er gesagt.
Anina lehnte sich an einen Stamm. Sie mussten irgendwo in den Hochvogesen sein, aber sie hatte keine Ahnung, wo genau. Müde schaute sie in die Krone hinauf - keine Blätter, natürlich, es war Ende Januar. Sie schloss die Augen und fragte sich, ob sie noch irgendetwas wusste. Sollte sie weinen oder glücklich sein, oder beides, oder keins von beidem. Sie wusste es nicht.
Sie wusste nur, dass sie allein sein wollte. Luc war so liebevoll zu ihr, dass sie ihn kaum ertrug. Noch vor der Dämmerung war sie von der kleinen Pension aus losgelaufen, in die sie geflüchtet waren. »Sie sind schwanger.«
Sie hatte geweint, als der Arzt es ihr gesagt hatte. Er hatte sie aufmunternd angelächelt.
»Das wird schon, Sie bekommen von mir ein Zeugnis. Machen Sie ein paar Tage frei und bringen Sie Ordnung in ihre Gedanken.«
Dann hatte er sie ernst angeschaut.
»Falls Sie sich dagegen entscheiden, gibt es da Adressen. Aber damit wir uns recht verstehen, das habe ich Ihnen nicht gesagt.«
Sie hatte Luc keine Nachricht hinterlassen, er suchte sie bestimmt schon.
Endlich brach die Sonne durch den Nebel. Vor ihr eine Wiese, gefrorene Kuhfladen, viele Maulwurfshügel. Sie atmete tief ein. Die frisch aufgeworfene Erde dampfte und duftete nach Frühling, nach Neuanfang, nach Nestbau. Sie blickte zum Waldrand auf der anderen Seite. Haselnussstauden, an denen bereits gelbe Kätzchen hingen. Dahinter junge Bäume. Der Reif auf den Zweigen ließ den Hain wie einen Zauberwald aussehen. Sie sah sich umgeben von Wald und Wiesen. Vor Stunden hatte sie das letzte Haus gesehen. Hier war sie allein. Sie seufzte. Nie mehr würde sie allein sein. Noch einmal sog sie die Luft tief ein.
Sie trat auf die Wiese hinaus, ein Eichelhäher flog auf.
Zieh dir die Schuhe aus, Anina, lauf über die Wiese, wie früher, nein, lass das, du holst dir eine Erkältung. Fängt es so an? Mit Zweifeln und Ängsten, Vernunft, Verstand. War sie über Nacht erwachsen geworden? Endlich, würde ihr Vater sagen. Oder wurde sie es jetzt? Genau jetzt, wenn sie die Schuhe nicht auszog.
Als Luc ihr gestern Abend den Joint hinhielt, war ihr schon beim Gedanken, ihre Lungen mit diesem Rauch zu füllen, schlecht geworden.
Sie setzte sich auf die Wiese, zog die Schuhe aus - die Socken behielt sie an - und legte sich auf den Boden. Bereits nach kurzer Zeit spürte sie die Kälte in ihren Körper dringen. Ihr Körper gehörte nicht mehr ihr allein. In ihr wuchs, fingerhutgroß, ein Mensch. In knapp acht Monaten wäre sie Mama. Ihre Mutter war fast gleich alt gewesen, als sie sie bekam. Wollte sie das, Mama werden? Wollte sie eine kleine Anina? Sie schüttelte den Kopf, das nasse Gras kitzelte sie im Nacken.
»Nein, nein .«, schluchzte sie und schloss die Augen. Sie sah sich von weit oben hochschwanger auf der Wiese liegen. Ihr Bauch war riesig, er wölbte sich wie ein Ballonbauch, sie war ein Ballonbauch, der immer größer wurde. Ihre Beinchen und Ärmchen zappelten hilflos an ihrem monströsen Körper. Sie versuchte mit diesem Riesenbauch aufzustehen. Irgendwann schaffte sie es, hochzukommen, doch das Gehen fiel ihr schwer, das Atmen noch schwerer. Sie sah aus wie eine dieser russischen Puppen, ihr fiel nicht ein, wie sie hießen. Genauso fühlte sie sich. In ihr war eine klitzekleine Puppe, die immer größer wurde. Sie selbst war einmal eine gewesen, in ihrer Mutter und diese in ihrer und die wieder in ihrer, Mutterpuppe, Puppenmutter. Ihr wurde schwindlig. Sie öffnete die Augen, setzte sich auf und hielt die Hand auf ihren Bauch.
»Und wenn du ein Junge bist?«, flüsterte sie und merkte, dass sie zum ersten Mal mit ihm oder ihr sprach.
Anina stand auf und spürte die Nässe der Wiese in den Socken. Sie zitterte vor Kälte.
»Scheiße«, sagte sie laut und entschuldigte sich bei ihrem Ungeborenen.
Sie zog die Schuhe an und ging so schnell sie konnte in den Jungwald hinein. Weißer Reif bedeckte die Blätter, die auf dem Boden lagen, und ließ ihre feinen Adern leuchten. Die Zweige glitzerten, als wären sie aus Licht gemacht. Nur an den Stämmen war die Rinde zu sehen, auf denen tausend kreisrunde Flechten sie wie aus tausend Augen ansahen.
Sie spürte, was sie so lange nicht mehr hatte spüren wollen. Die Augen, die sie sehen.
»Sehen Sie, dass Sie gesehen werden«, hatte Professeur Perrot gesagt.
Sie hatte lange nicht mehr an ihn gedacht. An Paris, an Pralina, die Akademie und die Kunst. Was hatte sie nicht alles gemacht, um sie zu vergessen. Und jetzt stand sie wieder in einem Wald in Frankreich wie Corot und Perrot und sah, dass sie gesehen wurde.
In mir ist jemand. Plötzlich wusste sie, dass sie es behalten würde. Dass sie eine Mutterpuppepuppenmutter werden würde.
Sie trat aus dem Zauberwald. Es dunkelte schon, als sie die kleine Pension...
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