Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Sophia Böhms Koffer verweigerte den Dienst. Mehr als randvoll mit Romanen, Gedichtbänden, Malblöcken, Pinseln, Aquarell- und Ölfarben, Zeichenkohle und immerhin auch zwei Kleidern, wollte das lederne Ding seinen Deckel partout nicht schließen lassen, selbst als sie sich daraufsetzte. Mit ausgestreckten Beinen auf einem Koffer zu thronen war zwar alles andere als damenhaft, aber es sah sie ja niemand. Ein paar Zimmer weiter trugen ihr Vater und Bruder sicherlich ähnliche Kämpfe aus. In der Ecke hakte die Standuhr mit dem Buntglaseinsatz die Minuten bis zum Abschiedsessen ab. Beim Gedanken an die Zukunft krampfte sich Sophias Magen zusammen.
Besser nicht mehr grübeln. Sie zwang ihre Aufmerksamkeit zurück auf den Koffer und versuchte, das Knirschen unter sich zu ignorieren. »Du Biest!«
»Sprichst du mit mir?« Ihre Zwillingsschwester Julia, die sich vor dem Spiegel die dunkelroten Haare für die Reise hochsteckte, drehte sich zu ihr um.
»Nein, mit mir selbst. Mit dem Koffer.« Sie betastete ihre am Morgen nur nachlässig zu einem Dutt zusammengeschlungenen Haare. Aber wenn sie sich von der Droschke direkt in ihre Kabine auf dem Dampfer begab, könnte das Frisieren bis dahin warten. Im Grunde spielte es auch keine Rolle, denn sobald sie einen Fuß vor den anderen setzte, sah ihr ohnehin niemand mehr auf den Kopf. Stattdessen hefteten die Blicke sich sofort auf ihren Rock, dann auf den als Sonnenschirm getarnten Gehstock, und sie wurde für andere unsichtbar.
Julia zog eine Augenbraue hoch. »Und was sagt dein Koffer?«
»Dass ich zu viel eingepackt habe.«
»Warum lässt du nicht die Hälfte der Bücher hier? Den Koffer kann ja kein Mensch tragen. Die Bücher kann Onkel Heinrich uns doch mit dem Rest vom Hausrat nachschicken, wenn wir in Savannah ein Haus gefunden haben. Und willst du wirklich sämtliche Malsachen mit an Bord nehmen?« Julia steckte die letzte Haarnadel fest. Energisch scheuchte sie ihre Schwester ein Stück zur Seite, lüpfte den Rock ihres taubengrauen Reisekleids und ließ sich neben Sophia auf den Kofferdeckel plumpsen. Der ächzte erschöpft und senkte sich um weitere zwei Zentimeter.
»Zum Umpacken ist nun keine Zeit mehr«, wich Sophia ihr aus, um eine weitere fruchtlose Diskussion über das Malen zu vermeiden. Julia würde entsetzt sein, wenn sie ihr gestand, was sie vorhatte, und sie war die Gespräche müde, in denen alle auf sie einredeten wie auf ein krankes Pferd. Ihr Blick schweifte durch das Gästezimmer, das Onkel Heinrich und Tante Emily ihnen so behaglich eingerichtet hatten. Kahl wirkte es jetzt. Das Schränkchen mit der Glasfront war ausgeräumt, der Kirschholztisch im Fenstererker abgeräumt, und Julias Koffer stand bereits neben der Tür.
»Komm, stärker, gleich haben wir den Deckel zu«, sagte Julia. Die Standuhr surrte, wie sie es kurz vor dem Gongschlag immer tat. Im Flur wurden Stimmen laut.
Die Schwestern stießen sich ein Stück vom Boden ab und ließen sich im selben Moment erneut auf den Kofferdeckel fallen, in dem die Uhr die Stunde schlug und es an der Tür klopfte. Mit einem Stoßseufzer klappte Sophia die Kofferschnallen zu.
»Julia! Sophie!«, rief ihr Vater. »Mittagessen, und lasst die Tür offen, dass der Kutscher eure Koffer holen kann.«
»Wenn die Köchin und die Magd mit anfassen, bekommt er deinen vielleicht sogar die Treppe hinuntergewuchtet«, murmelte Julia, stand auf und zog Sophia auf die Beine.
Unten im Esszimmer saßen bereits alle in Abschiedsstimmung bei Tisch: Ihre sechzehnjährige Cousine Clara wirkte blass, Onkel Heinrich zupfte an den Manschetten seines Hemds herum, und Tante Emily sah mit einem Lächeln zu Sophia auf, das ihre Augen nicht erreichte. Sophias Vater und Bruder hatten gerade erst Platz genommen und nestelten noch an den Servietten.
Es roch nach Muschelsuppe. Sophia wusste nicht, ob sie auch nur einen Löffel davon hinunterbringen würde. Sie biss sich auf die Lippe und setzte sich neben Julia auf ihren Stammplatz.
»Na, habt ihr alles gepackt?«, fragte Onkel Heinrich auf Englisch. Sein Seefahrerbart, der unmodern den Kiefer und das Kinn umrahmte, senkte sich auf seine Brust, als er einen Blick in die Runde warf.
Sophia nickte und lehnte sich zur Seite, damit Grace, das schwarze Dienstmädchen, die Suppe servieren konnte. »Friedrich, sobald du telegrafierst, schicke ich euch die restlichen Sachen nach«, sagte Heinrich.
Obwohl er noch nichts gegessen hatte, tupfte Sophias Vater sich den Mund mit der Serviette ab und zog sie danach mehrmals durch seine Finger, bevor er sie beiseitelegte. Die gewichsten Enden seines Schnurrbarts zitterten. »Das wird wohl bald sein. Mir scheint das Stadthaus, von dem Dr. Hall sprach, jetzt doch geeigneter als das mit Garten zu sein. Es wäre nicht so weit, um zu den Patienten zu fahren, und es ist auch günstiger.« Er atmete hörbar ein.
Tante Emily nickte freundlich in die Runde, und die Häupter senkten sich mit leisem Löffelklirren über die Suppenteller. Durch die hohen Fenster fiel Januarlicht bleich auf die Tafel.
»Das billigste Haus zu nehmen ist nicht unbedingt zu empfehlen, wenn ich dir noch mal zu etwas raten darf«, meinte Heinrich. »Du willst in Savannah ja einen gewissen Eindruck machen. Man schaut auch hierzulande durchaus, was der Arzt hermacht. Und gerade weil du neu im Land bist und du Englisch mit starkem Akzent sprichst - das ist ein Nachteil. Wenn du dann noch ein Haus hast, in dem die ersten Kreise nicht verkehren würden, wird es schwierig, Patienten zu halten, die entsprechend bezahlen können. Hall hat sich die Praxis mühsam aufgebaut, glaub mir das.«
Konnte er denn nicht aufhören, darüber zu reden? Unruhig sah Sophia an Julia vorbei zu ihrem Vater, der mit einer langsamen, konzentrierten Bewegung seinen Löffel niederlegte. Unter seinen blauen Augen lagen Schatten. Sophia überlegte krampfhaft, wie sich das Gespräch von der Arztpraxis abwenden ließ, die ihr Vater unten in South Carolina von Dr. Hall übernehmen wollte. Wobei von Wollen eigentlich nicht die Rede sein konnte. »Falls noch ein Brief von Meta kommt .«, brachte sie auf Englisch hervor und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Dank Tante Emily und Clara, die kaum Deutsch sprachen, hatte sich ihre Aussprache in den vergangenen zwei Monaten etwas verbessert, aber das »th« war ihr noch immer ein Gräuel. Schon daheim in Wismar hatte sie ihre englische Mamsell damit an den Rand der Verzweiflung gebracht. Sie starrte in die dicke cremefarbene Suppe.
»Dann schicke ich ihn natürlich gleich weiter«, versprach Onkel Heinrich.
»Ich muss mir das Haus ja erst ansehen, Heiner«, sagte ihr Vater tonlos. »Noch habe ich die Entscheidung nicht gefällt.«
»Wohl wahr, wohl wahr. Nur du siehst ja, wie weit man es hier mit etwas Geschick als Arzt bringen kann.« Onkel Heinrich machte eine ausladende Handbewegung, die die Tapete über der dunklen Wandvertäfelung, die stilvollen Möbel, das Haus und ganz Boston einzuschließen schien. »Du schaffst das auch. Was gewesen ist, ist gewesen. Hier fängt jeder neu an.«
Draußen waren Pferdegetrappel und das Rattern eines Wagens über Kopfsteinpflaster zu hören. War das bereits der Kutscher? Doch nein, die Geräusche wurden leiser und verklangen. Grace kehrte ins Esszimmer zurück, um die Suppenteller abzuräumen - wie ihr Vater hatte auch Sophia die kleine Portion kaum angerührt -, und trug Hähnchen, Kartoffeln und Kürbis auf.
»Thomas wird mir tüchtig zur Seite stehen«, sagte Sophias Vater mit etwas festerer Stimme und nahm sich Fleisch und Kartoffeln. »Nicht wahr, mein Sohn? Jetzt heißt es, mit anzupacken. Die Zeit für Flausen im Kopf ist vorbei.«
»Psychologie würde ich durchaus nicht als Flausen bezeichnen, Vater«, sagte Thomas. Auch er kam Sophia heute bleicher als sonst vor; mit seinen blonden Haaren und dem spärlichen Vollbart machte er in seinem weißen Hemd einen verwaschenen Eindruck.
»Psychologie ist keine Wissenschaft, sondern Papperlapapp! Mir ist das Medizinstudium damals auch lang geworden - Heiner, dir doch auch? Das geht den meisten so. Und mit ein bisschen mehr Erfahrung wird dir auch nicht mehr übel werden, wenn du Blut siehst. Mit zweiundzwanzig Jahren vertrödelt man seine Zeit nicht damit, irgendwelchen neu erfundenen Humbug zu studieren.« Wie zur Betonung quietschte sein Messer über den Teller, als er eine Kartoffel durchschnitt. »Besonders nicht auf seines Vaters Kosten.«
Sophia krallte die Hand zusammen und warf ihrer Tante über den Tisch hinweg ein schwaches Lächeln zu. Wie froh musste sie sein, dass nach dem zweimonatigen Besuch nun wieder Ruhe in ihr Haus einkehrte. »Es schmeckt ausgezeichnet, Tante Emily.«
»Danke, mein Kind. Esst nur alle kräftig, wer weiß, wie das Essen auf dem Schiff ist und wie stark der Dampfer schaukelt.«
»Sophia macht das nichts aus«, warf Julia ein. »Bei der Überfahrt von Deutschland haben alle andern in ihren Kojen gelegen, es wurde gebrochen und gebetet, nur .«
»Julia! Nicht bei Tisch!«, kam die Rüge ihres Vaters.
»Ach, Papa«, begann sie, widersprach dann aber doch nicht, sondern stopfte sich ein großes Stück Huhn in den Mund.
Sophia fing ihren Seitenblick auf. Dass Julia die auf der Hammonia grassierende Seekrankheit nicht erwähnen durfte, obwohl ihr Vater gerade von Blut geredet hatte! Mit Schaudern erinnerte sie sich an die Wintersturmwogen, graue, gewaltige Berge von Salzwasser, die Gischtperlen wie Schleppnetze hinter sich hergezogen und in deren Talsohlen der Überseedampfer immer wieder fast verschluckt...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.