Schweitzer Fachinformationen
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Als Frommelt am nächsten Morgen gegen neun Uhr ins Büro kam, lagen der Obduktionsbericht der Rechtsmedizin und der Bericht des Erkennungsdienstes auf seinem Schreibtisch. Die Kollegen hatten Überstunden gemacht und den Fall Lisa Brandes trotz anderer eiliger Fälle vorgezogen. Er hatte noch immer Magenschmerzen und schüttelte sich bei dem Gedanken, einen Kaffee aus dem Automaten trinken zu müssen.
Frommelt griff sich den Obduktionsbericht. Er las und ging gleichzeitig im Büro auf und ab. So konnte er besser denken.
Lisas Leiche war in die Pathologie des Gifhorner Krankenhauses gebracht worden. Der Hauptobduzent war Thorben Wenger, den Nebenobduzenten kannte er nicht. Wenger war stets sachlich, reserviert, verzog kaum eine Miene, sprach in einem ruhigen und angenehmen Ton. Frommelt hatte bereits in einigen Fällen mit ihm zusammengearbeitet. Jahrelang hatte er vermutet, Wenger würde seine Gefühle in den Stahlschrank schließen, ehe er den Sektionsraum betrat, aber mittlerweile wusste er es besser. Sie hatten sich vor einem Jahr zufällig in einer Kneipe getroffen und gemeinsam eine Flasche Jack Daniel's geleert. Seitdem duzten sie sich und wussten um die Gefühle des anderen, die sich hinter der Fassade verbargen.
Bräuer war bei der Obduktion anwesend gewesen, ihm schien das nichts auszumachen. Sein Magen war solide und er kam mit Staatsanwalt Hausmann besser zurecht als er. Frommelt vermied, wann immer es ging, mit Staatsanwalt Hausmann zusammenzutreffen.
Lisa Brandes wurde erwürgt und Johann Kramer hatte mit seiner ersten Einschätzung am Tatort richtig gelegen, es handelte sich nicht um ein Sexualdelikt. Sie war nicht am Fundort getötet worden, man hatte sie später dort abgelegt. Frommelt sah sich die Fotos vom Fundort genauer an. Das Mädchen sah aus, als schliefe es. Die Hände über der Brust gefaltet, die blonden Haare lagen um ihren Kopf, drapiert wie ein Fächer aus Engelshaar. Wie ein vom Himmel gefallener Engel. Das musste der Täter gewesen sein.
Frommelt legte den medizinischen Bericht zur Seite und widmete sich dem der Spurensicherung. Auch Johann Kramer und seine Leute von der Technik hatten wieder einmal gute und schnelle Arbeit geleistet.
Am Fundort waren keine verwertbaren Spuren vorhanden gewesen. Hier hatte sich der Täter wohl nur kurz aufgehalten. Auch auf dem Feldweg, hinter den Häusern, waren keine Reifenspuren oder andere brauchbare Hinweise gefunden worden.
Von den Spuren im Haus der Eltern erwartete er nicht viel und staunte nicht schlecht, als er jetzt die Auswertungen der Fingerabdrücke sah.
Richard Wehmeier! Frommelt zog die Schultern hoch, als wolle er seinen Kopf darin verstecken. Er fror.
In den vergangenen acht Jahren hatte er kaum an Wehmeier gedacht. Richard Wehmeier, ein verurteilter Kindsmörder, von dessen Unschuld er bis zum Schluss überzeugt gewesen war, hatte sich im Haus der Brandes aufgehalten. Seine Fingerabdrücke waren in der Küche gefunden worden, auf einem auf der Spüle abgestellten Glas. Welch ein bescheuerter Zufall. Aber was hatte Wehmeier in den Glockwiesen bei den Brandes gewollt?
Er griff zum Telefon und versicherte sich in der JVA Rennelberg in Braunschweig, dass Wehmeier tatsächlich vor fünf Wochen aus der Haft entlassen worden war.
Wieder war ein kleines Mädchen getötet worden, wieder erwürgt, genau wie damals die kleine Betti Hein. Und wieder war Wehmeier nicht nur in der Nähe des Tatortes, sondern auch im Haus des Opfers gewesen. Das konnte kein Zufall sein. Sollte er sich damals doch in diesem korrekten Mann getäuscht haben? Frommelt hatte alles getan, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. War das genug gewesen?
Er hasste seinen Job. Und ärgerte sich darüber. Das war nicht immer so gewesen. Er glaubte an Gerechtigkeit und Verantwortung. Bis der Fall der kleinen Betti Hein in seiner Abteilung landete.
War damals der wahre Mörder verurteilt worden?
Welche Möglichkeiten hätte er gehabt?
Er setzte sich seufzend hinter seinen Schreibtisch und las den Bericht, den er bisher nur überflogen hatte, Wort für Wort durch.
Als Hannah ins Büro kam, saß er noch immer, den Kopf in beide Hände gestützt, am Schreibtisch.
»Bei den Nachbarn hat sich nichts Auffälliges ergeben. Keine Vorstrafen.« Sie lächelte ihn an, doch er bemerkte es nicht. Er war mit seinen Gedanken bei Lisa Brandes, Betti Hein und Richard Wehmeier. Hannahs Bemerkung bekam er nur am Rande mit. Er konnte und wollte nicht glauben, dass er sich damals so sehr getäuscht haben sollte.
Dieser neue Fall stellte seine Welt auf den Kopf. Seinen Gerechtigkeitssinn, seine Menschenkenntnis. Hannah setzte sich an den gegenüberliegenden Schreibtisch und sah ihn aufmerksam an. Sie deutete seine Stimmung völlig falsch.
»Wie weit bist du? Haben wir eine Spur?«
Er konnte nur nicken. Wie sollte er ihr erklären, was in ihm vorging?
Sie stand auf und stellte sich hinter ihn. Über seine Schulter hinweg studierte sie die Akte. Dabei massierte sie ihm vorsichtig den Nacken. Er schüttelte ihre Hände ab.
»Lass das«, sagte er barsch.
Sie trat einen Schritt zurück und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Noch immer ein Problem?«
»Nicht, wie du denkst. Das hat nichts mit dir zu tun.« Eine einzige Nacht hatte er mit Hannah verbracht. Und die war völlig danebengegangen. Nicht, dass Hannah daran schuld gewesen wäre, im Normalfall wäre sie sogar sein Typ, aber was war schon normal auf dieser Welt?
Er hatte Rotwein gekauft, obwohl ihm Hannah erzählt hatte, dass sie den nicht vertrug. Dann verzögerte sich die Lieferung des bestellten Essens um zwei Stunden und er war mit seiner Konversation am Ende. Er hatte immer an Maren denken müssen. Zu allem Überfluss war auch noch Friedrun, seine Vogelspinne, ausgebrochen. Hannah hatte kreischend auf einem Stuhl gestanden und betont, sie käme nicht eher herunter, bis dieses Monstrum, wie sie sich ausdrückte, wieder sicher hinter Glas saß. Sie feuerte ihn an, als er ein nasses Handtuch auf den Boden legte. Wohl in der Hoffnung, er würde die Spinne damit erschlagen. Er wartete seelenruhig ab und keine zehn Minuten später saß Friedrun auf dem feuchten Tuch. Als er sie auf die Hand nahm und vorsichtig in ihr Terrarium setzte, wollte Hannah nichts von seinen Erklärungen über Vogelspinnen und ihre Vorliebe für feuchte Lebensräume wissen. Auch als sie nach dem Essen bei Zitronenbier zusammensaßen - etwas anderes hatte er nicht im Haus gehabt - wollte keine rechte Stimmung aufkommen. Er gab sich alle Mühe. Wirklich. Doch während er Hannahs Bluse aufknöpfte und sie leidenschaftlich küsste, war ihm dieser Name herausgerutscht: Maren.
Aus. Vorbei. Hannah war aufgesprungen, hatte ihn einen verkappten Neurotiker genannt und wutschnaubend seine Wohnung verlassen. Seit diesem Abend hatten sie vermieden, darüber zu sprechen, ob und wie es mit ihnen weitergehen würde.
Ihm ging ihre Flirterei auf die Nerven. Hannah schien das nicht zu merken. Sie hatte anscheinend den Eindruck, dass er eines Tages nachgeben würde. Sie war eine nette, hübsche Frau, durchtrainiert und mit endlos langen Beinen - aber das änderte nichts an seiner Einstellung.
»Wer ist dieser Wehmeier?« Hannah stand noch immer hinter Frommelt und linste über seine Schultern hinweg auf den Bericht.
Erschrocken sah Frommelt hoch. Er war mit seinen Gedanken noch bei dieser misslichen Nacht gewesen. Hannah konnte den Fall Wehmeier nicht kennen, sie war die Neue im Team.
»Wehmeier ist vor acht Jahren wegen Totschlags an einem vierjährigen Mädchen verurteilt worden. Die Kleine wurde erwürgt und hatte mehrere Hämatome am Körper, die vor ihrem Tod entstanden waren. Außerdem wurde sie missbraucht, aber nicht am Tage ihres Todes. Weder das Sexualdelikt noch der vorsätzliche Mord konnten Wehmeier hundertprozentig nachgewiesen werden. Vor fünf Wochen hat man ihn wegen guter Führung entlassen.«
Hannah ging um den Schreibtisch herum und sah Frommelt in die Augen. »Dass ich nicht lache, wegen guter Führung. Da sieht man es mal wieder. Wir können unsere Arbeit so gut machen, wie wir wollen, und dann lassen die solche Menschen so einfach mir nichts, dir nichts wieder frei, damit sie das nächste Kind umbringen können.«
Frommelt kannte solche Reaktionen und sprach auch sich selbst in gewissen Fällen nicht davon frei. Aber bei Wehmeier sah er das anders. Er atmete einmal tief durch. Da war wieder dieser dumpfe Druck im Nacken, der sich seinen Weg am Hinterkopf entlang suchte. Sobald der Schmerz an den Schläfen angekommen war, würde er wieder Tabletten nehmen müssen. Er musste hier raus. Schwer drückte er sich aus dem Stuhl hoch und schlich zur Tür.
»Du solltest endlich mal zum Arzt gehen und mehr Sport treiben. Wenn du so weitermachst, liegst du bald flach. Du kannst doch kaum noch schnaufen.«
Er wusste, sie meinte es gut. Er wusste, sie machte sich Gedanken um ihn. Wie sollte er ihr erklären, was in ihm vorging, wenn er es selbst nicht wusste. Frommelt öffnete die Tür und verließ das Büro.
Frommelt musste Wehmeier finden und mit ihm sprechen. Wie hing dieser Fall mit Wehmeier zusammen? Konnte er sich derart in einem Menschen täuschen? Er ging über den Parkplatz zu seinem Wagen. Das Auto von Staatsanwalt Hausmann stand noch nicht auf seinem Platz. Die zuständige Staatsanwaltschaft war in Braunschweig, doch Hausmann war immer gern in Gifhorn, wahrscheinlich um seinen Arbeitseifer unter Beweis zu stellen. Dabei lief er den ermittelnden Beamten im Weg herum, so dass ihm kurzerhand ein eigenes Büro zur Verfügung gestellt worden war.
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