Schweitzer Fachinformationen
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Wir meinen, wir können Honig machen, ohne das Schicksal der Bienen zu teilen.
Muriel Barbery, Die Eleganz des Igels
2004
Eine Stunde vor Hellwerden läutet die Glocke.
Der Bienenvater, erlöst von seinem Alptraum, steht auf.
Seine enge Zelle besteht nur aus Bett, Tisch und Stuhl. Das Fensterchen in der Lehmmauer blickt auf einen Kiesweg, der zur Kapelle hinaufführt und bei Mondlicht silbern leuchtet.
So ein Morgen in der Wüste ist höllisch kalt. Der Bienenvater zieht sein braunes Wollhemd an, Khakihose, dicke Socken, Arbeitsschuhe. Im Waschraum am anderen Ende des Flurs putzt er sich die Zähne, rasiert er sich mit kaltem Wasser, dann folgt er den anderen Mönchen in die Kapelle.
Niemand spricht.
Bis auf Gesang, Gebet und die nötigen Absprachen bei der Arbeit herrscht Schweigen im Monastery of Christ in the Desert.
Die Mönche leben gemäß Psalm 46: »Seid stille und erkennet, dass ich Gott bin.«
Dem Bienenvater ist es recht. Er hat genug gehört.
Das meiste war gelogen.
In seiner früheren Welt hat jeder gelogen, gewohnheitsmäßig, auch er selbst. Schon um morgens aufzustehen, musste man sich selbst belügen. Und dann die Mitmenschen, um über den Tag zu kommen.
Jetzt sucht er die Wahrheit im Schweigen.
Auch Gott sucht er im Schweigen, denn inzwischen glaubt er, dass Gott und die Wahrheit ein und dasselbe sind.
Als er hier anklopfte, fragten die Mönche nicht, wer er war oder woher er kam. Sie sahen einen Mann mit traurigen Augen, dessen Haar noch schwarz war, aber von weißen Strähnen durchzogen, dessen Boxerschultern schon ein wenig gebeugt waren, aber noch kräftig. Er sagte, er suche die Stille, und Bruder Gregory, der Abt, erwiderte ihm, dass es bei ihnen nur eins im Überfluss gebe, und das sei Stille.
Der Mann zahlte für sein kleines Zimmer in bar, und anfangs verbrachte er seine Tage damit, durch die Wüste zu streifen, durch Ocotillo-Sträucher und Salbei, bis hinab zum Chama River oder hinauf auf den Berggipfel. Irgendwann fand er den Weg in die Kapelle und kniete ganz hinten, während die Mönche ihre Messe zelebrierten.
Eines Tages führte ihn sein Weg zur Imkerei - nahe am Fluss, weil Bienen Wasser brauchen -, und er sah Bruder David bei der Pflege der Bienenstöcke zu. Weil Bruder David, der fast achtzig war, beim Auswechseln der Rahmen Hilfe brauchte, ging ihm der Neue zur Hand. Fortan kam er jeden Tag und lernte das Imkerhandwerk, und als Bruder David einige Monate später meinte, es sei an der Zeit, in den Ruhestand zu treten, schlug er dem Abt vor, dem Novizen die Imkerei zu übergeben.
»Einem Laien?«, fragte Bruder Gregory.
»Er hat ein Händchen für Bienen«, sagte Bruder David.
Der Neue verrichtete seine Arbeit still und gut. Er hielt sich an die Regeln, kam zum Gebet und wurde der beste Bienenvater, den sie je hatten. Unter seiner Obhut produzierten die Bienen Honig der Spitzenklasse, den das Kloster auch heute noch für die hauseigene Biersorte verarbeitet, an Touristen verkauft und über das Internet vertreibt.
Mit geschäftlichen Dingen wollte der Bienenvater nichts zu tun haben. Auch wollte er nicht für die zahlenden Gäste arbeiten oder in der Küche oder im Souvenirshop. Nur für die Bienen wollte er sorgen.
Sie ließen ihm seinen Willen, und seit mehr als einem Jahr lebte er jetzt schon bei ihnen. Sie kannten nicht mal seinen Namen. Er war einfach »der Bienenvater«. Die Latinomönche nannten ihn El colmenero. Und als er das erste Mal mit ihnen sprach, staunten sie sehr, dass er fließend Spanisch konnte.
Die Mönche natürlich redeten über ihn - bei den kurzen Unterhaltungen, die ihnen erlaubt waren. Der Bienenvater sei ein flüchtiger Verbrecher, mutmaßten die einen, ein Gangster, ein Bankräuber. Nein, meinten die anderen, er sei aus einer unglücklichen Ehe geflohen, einer tragischen Affäre. Andere wieder behaupteten, er sei ein Spion.
Nach dem Vorfall mit dem Kaninchen gewann diese letztere Behauptung merklich an Befürwortern.
Zum Kloster gehörte ein großer Gemüsegarten, von dem die Mönche lebten. Wie die meisten Gärten lockte auch er Schädlinge an, und dort wilderte ein Kaninchen, das alle Anstrengungen der Gärtner zunichtemachte. Nach einer sehr kontrovers geführten Debatte erteilte Bruder Gregory die Erlaubnis zur Exekution des Kaninchens, ja, er beharrte sogar auf ihr.
Bruder Carlos, mit dieser Aufgabe betraut, stand vor dem Garten und kämpfte mit der Pistole und mit seinem Gewissen, während die anderen Mönche wie gebannt zuschauten. Er versuchte abzudrücken, doch seine Hand zitterte, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
Just in dem Moment kam El colmenero von der Imkerei zurück. Noch im Gehen nahm er Bruder Carlos die Luftdruckpistole aus der Hand und schoss, scheinbar ohne zu zielen oder auch nur hinzusehen. Die Kugel traf das Kaninchen ins Gehirn, tötete es auf der Stelle. Der Bienenvater reichte die Pistole zurück und ging weiter.
Nach diesem Vorfall hieß es, er sei ein Geheimagent gewesen, eine Art James Bond. Bruder Gregory machte dem sündigen Geschwätz ein Ende.
»Er ist auf der Suche nach Gott«, sagte er. »Und weiter nichts.«
Jetzt also geht der Bienenvater zur Frühmesse, die Punkt vier Uhr beginnt.
Die Kapelle besteht aus einfachen Lehmziegeln, die Steine der Grundmauern sind aus den roten Felsen am Südrand des Klosters gehauen, das Holzkreuz über dem Portal ist von der Sonne gebleicht, drinnen über dem Altar hängt das einzige Kruzifix.
Der Bienenvater tritt ein und kniet nieder.
In seiner Jugend war er strenger Katholik, der täglich die Messe besuchte, dann fiel er vom Glauben ab. Er fühlte sich so fern von Gott, dass der Glauben seinen Sinn verlor. Jetzt singt er mit den Mönchen den 51. Psalm, auf Lateinisch: »Domine labia mea aperies et os meum adnuntiabit laudem tuam« - »Herr, tu meine Lippen auf, dass mein Mund dein Lob verkünde.«
Die Gesänge versetzen ihn in eine Art Trance, und er ist jedes Mal überrascht, wenn die Stunde vorüber ist und sich die Mönche ins Refektorium begeben, um das immer gleiche Frühstück einzunehmen: Haferbrei, Weizentoast und Tee. Dann geht es weiter mit Gebeten und Lobgesängen, während die Sonne über den Bergen aufsteigt.
Inzwischen liebt er diesen Ort, besonders am Morgen, wenn die zarten Sonnenstrahlen auf die Lehmmauern fallen und den Chama River in glitzerndes Gold verwandeln. Er genießt die Wärme dieser ersten Strahlen, während der Kies unter seinen Füßen knirscht und die Kakteen in der Dämmerung Gestalt annehmen.
Ein einfaches Leben im Frieden, mehr will er nicht.
Und braucht er nicht.
In seinem Ablauf gleicht ein Tag dem anderen. Vigilium von vier bis fünf Uhr fünfzehn, danach Frühstück, dann Laudes von sechs bis neun, Arbeiten von neun bis zwölf Uhr vierzig, danach ein kurzes, einfaches Mahl und Weiterarbeit bis zur Vesper um siebzehn Uhr fünfzig. Um achtzehn Uhr zwanzig nehmen die Mönche ein leichtes Abendessen zu sich, sie beschließen den Tag mit dem Abendgebet um neunzehn Uhr dreißig und gehen danach zu Bett.
Der Bienenvater liebt die Disziplin und die Wiederkehr des Immergleichen, die langen Stunden stiller Arbeit und die noch längeren Stunden des Gebets. Besonders die Morgenandacht und die gesungenen Psalmen.
Nach den Laudes geht er hinab zur Imkerei.
Seine Bienen - apis mellifera, europäische Honigbienen - schwärmen mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen aus. Sie sind Einwanderer: Ursprünglich aus Nordafrika stammend, wurden sie im 17. Jahrhundert von spanischen Kolonisten nach Amerika gebracht. Ihr Leben ist kurz - eine Arbeiterin hält ein paar Wochen durch, bestenfalls ein paar Monate; eine Königin regiert drei bis vier Jahre, manchmal auch acht. Der Bienenvater hat sich an den Schwund gewöhnt - ein Prozent seines Bestandes stirbt jeden Tag, was bedeutet, dass sich die Population der Bienenstöcke alle vier Monate erneuert.
Aber das ist nicht tragisch.
Das Bienenvolk ist ein Superorganismus, der aus vielen Organismen besteht.
Das Individuum zählt nicht.
Wichtig ist das Überleben des Bienenvolks und die Honigproduktion.
Die zwanzig Magazinbeuten sind aus rotem Zedernholz gefertigt und mit rechteckigen Rahmen bestückt. Der Bienenvater öffnet die Abdeckung eines Kastens, sieht, dass er voller Waben ist, und verschließt ihn behutsam, um die Bienen nicht zu stören.
Er schaut nach der Tränke und sorgt für frisches Wasser.
Dann öffnet er das unterste Fach, nimmt die 9 mm Sig Sauer heraus und prüft das Magazin.
Der Gefängnisalltag fängt früh an.
Punkt sechs wird Adán Barrera durch das automatische Signalhorn geweckt, und wenn er nicht in Schutzhaft säße, würde er mit den anderen Häftlingen um sechs Uhr fünfzehn zum Frühstück in die Kantine gehen. So aber schiebt ihm die Wache eine Schüssel mit Cornflakes und eine Plastiktasse mit dünnem Orangensaft durch die...
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