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Im ersten Kapitel stand mein berufliches Leben als Historiker im Vordergrund. Eher am Rande war von meiner politischen Entwicklung und meiner publizistischen Betätigung die Rede. Das soll im Folgenden ausführlicher geschehen. Dabei werde ich auch auf die zeitgeschichtlichen Hintergründe meiner wissenschaftlichen Arbeit und, konkret, auf die Entstehungs- und, soweit es sie gab, die Wirkungsgeschichte einiger meiner Bücher zu sprechen kommen.
Was meine politische Entwicklung betrifft, so war sie wie die ersten beiden Jahrzehnte meines Lebens überhaupt durch mein familiäres Umfeld geprägt. Es bestand nach dem frühen Tod meines Vaters im Dezember 1939 aus meiner Mutter, ihrer ältesten Schwester und meiner Großmutter mütterlicherseits. Ich wurde streng evangelisch erzogen. Meine Mutter gehörte in Königsberg wie ihre ganze Familie der Altlutherischen Kirche an, das heißt jener Minderheit des preußischen Protestantismus, die 1817 die Vereinigung von Lutheranern und Reformierten zur Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union unter König Friedrich Wilhelm III. nicht mitvollzogen hatte. Ich wuchs auf mit Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament anhand einer kindergerechten Bilderbibel mit den Illustrationen des «Neu-Römers» Julius Schnorr von Carolsfeld, eines Malers der Nazarener Schule, mit Kirchen- und Volksliedern, klassischer Musik, wobei Johann Sebastian Bach das Nonplusultra war und für mich geblieben ist, mit Gedichten, Märchen und patriotischen Erzählungen.
Gegen nationalsozialistische Einflüsse wurde ich, so gut es ging, abgeschirmt. Ich erinnere mich an ein Hitlerbild im Kindergarten, an Hakenkreuzfahnen am 20. April, «Führers Geburtstag», an Plakate mit dem «Kohlenklau» und der Warnung «Feind hört mit», an das Lied vom «Guten Kameraden», das immer häufiger im Volksempfänger zu hören war, an Fliegerangriffe und Aufenthalte, mal mit, mal ohne Gasmaske, im Luftschutzkeller, zuerst in Königsberg und in Berlin-Lichterfelde, wo meine Großmutter väterlicherseits lebte, dann in Ulm und Umgebung.
Meine kontinuierliche Erinnerung setzt in den ersten Augusttagen des Jahres 1944 ein. Sie beginnt, genauer gesagt, in dem kleinen Ort Neuhäuser an der Samlandküste, nur wenige Kilometer von Königsberg entfernt, wo meine Mutter, meine Großmutter, meine Tante (und Patentante) Doris und ich ein paar Ferientage verbrachten. Am 3. oder 4. August brachte der Postbote meiner Mutter einen sehnlichst erwarteten amtlichen Brief. Er enthielt die Mitteilung, dass meine Mutter nach Württemberg ausreisen durfte, wo sie, wie im ersten Kapitel erwähnt, eine Stelle als Aushilfslehrerin an der Urspringschule bei Schelklingen antreten sollte.
Am 5. August verließen meine Mutter, meine Großmutter und ich Königsberg. Dass es für sie ein Abschied für immer war, werden die beiden Erwachsenen geahnt haben; mit mir darüber gesprochen haben sie nicht. Ich erinnere mich an die Verabschiedung von Bekannten, unter ihnen eine befreundete Rot-Kreuz-Schwester, auf dem Hauptbahnhof der ostpreußischen Hauptstadt, an die Ankunft im schon stark zerstörten Berlin und die Weiterfahrt über Leipzig und Crailsheim nach Ulm. Dort trafen wir am 6. August 1944 ein. Drei Wochen später, in der Nacht vom 26. zum 27. August, wurde die Königsberger Innenstadt durch einen britischen Fliegerangriff zum größten Teil zerstört.
Ulm, wo wir in den ersten Wochen nach unserer Ankunft aus Königsberg und dann dauerhaft seit dem Herbst 1948 wohnten, war die Stadt, in der seit langem eine Schwester meiner Mutter, Hella Füchtner, mit ihren fünf Söhnen lebte. Ihr Mann, der Handelsschullehrer und Hauptmann der Reserve Richard Füchtner, war, was sich erst später durch Aussagen eines Kameraden bestätigte, 1942/43 in der Schlacht um Stalingrad gefallen. Meine Mutter und meine Großmutter kannten Ulm bereits von früheren Besuchen, was ihnen das Einleben in Württemberg sehr erleichterte. Mir halfen meine fünf Ulmer Vettern, mich in der Stadt an der Donau und in Schwaben bald auch sprachlich heimisch zu fühlen. Von der Wohnung der Füchtners auf dem Michelsberg hatte man einen wunderbaren Blick auf die damals noch unzerstörte Stadt Ulm und das Münster - die Kirche, in der ich acht Jahre später, im März 1952, konfirmiert wurde.
Lebhaft vor Augen stehen mir die letzten Monate des «Dritten Reiches», die ich im ehemaligen Benediktinerkloster und nachmaligen Internat Urspring erlebte, wo meine Mutter seit dem September 1944 die Fächer Musik und Deutsch unterrichtete. Unvergesslich sind mir etwa die letzten Tage vor dem Weihnachtsfest 1944. Am Abend des 17. Dezember hörten wir den nicht enden wollenden Motorenlärm der britischen Bomberflotte, die wenige Minuten später die Innenstadt von Ulm in ein Ruinenfeld verwandelte. Tags darauf zogen dichte Rauchwolken westwärts über Urspring hinweg. Am 19. Dezember, meinem sechsten Geburtstag, ließ Schulleiter Fritz Ehrecke beim gemeinsamen Mittagessen der Urspringschule mir zu Ehren eine «Rakete» steigen: Sie bestand aus erst leisem, dann immer stärker werdendem Klopfen auf die Tische des Speisesaals. Um dieselbe Zeit feierte Urspring auf einer schneebedeckten Lichtung seine jährliche Waldweihnacht. Eines der Lieder, die dabei gesungen wurden, war «Hohe Nacht der klaren Sterne». Es stammte vom Lieblingsdichter und -komponisten der Hitler-Jugend, Hans Baumann. An den Weihnachtsbäumen jenes Jahres sah man letztmals neben den üblichen auch die blauen Stearinkerzen des «VDA», des Vereins für das Deutschtum im Ausland.
Gut erinnern kann ich mich auch an eine Schüleraufführung des (stark überarbeiteten) Puppenspiels vom Doktor Faust mit meinem Vetter Jörg Füchtner als Stimme der Titelgestalt im Februar oder März 1945. In lebhafter Erinnerung geblieben ist mir sodann ein Tag in der zweiten Märzhälfte, an dem in einem Saal der Schule Wochenschauen mit Frontberichten gezeigt wurden. Ich verließ den Raum der schlechten Luft wegen und begab mich auf die Straße, die Urspring mit Schelklingen verbindet. Auf der Höhe der Schulgärtnerei kam mir zu meiner grenzenlosen Freude meine Tante Doris Seraphim entgegen, die Königsberg kurz zuvor auf dem Seeweg hatte verlassen können.
Wenige Tage später wurden die Schüler der Urspringschule, soweit sie noch ein einigermaßen sicheres Zuhause hatten, dorthin entlassen. Um den 17. April herum machte die Gauleitung von Württemberg mit dem Gauleiter und Reichsstatthalter Wilhelm Murr an der Spitze auf der Flucht in die legendäre, tatsächlich nicht existente «Alpenfestung» in Urspring Station. Als der Geschützdonner der heranrückenden Amerikaner immer lauter wurde, verließ die Gauleitung nach wenigen Tagen Urspring überstürzt mitten in der Nacht. Ihre Hinterlassenschaft waren viele amerikanische Nähmaschinen der (jüdischen) Firma Singer, Rundfunkgeräte, Alkoholika und Berge von Schweizer Schokolade.
Um dieselbe Zeit wurden in Urspring auch die Kinder darüber informiert, wie sie sich bei «Akuter Luftgefahr», verursacht durch feindliche Tiefflieger, zu verhalten hatten: sofort Deckung suchen, freies Feld meiden, so schnell wie möglich in den nahe gelegenen Luftschutzstollen im Wald laufen. Tags darauf wurde es ernst: Wenige Minuten nach dem Ertönen des Sirenensignals «Akute Luftgefahr» wurde ganz nahe bei Urspring, im etwa zwei Kilometer entfernten Schmiechen, ein Munitionszug der Wehrmacht von amerikanischen Fliegern bombardiert. Ich hatte den Stollen wie die anderen Urspringer gerade noch rechtzeitig erreicht. Nach dem Signal «Entwarnung» brach ich mit anderen Kindern zu einer Tatortbesichtigung in Schmiechen auf: eine nicht ganz ungefährliche Expedition, weshalb ich anschließend zurecht heftig gescholten wurde.
An einem der letzten Tage vor dem regionalen Kriegsende wurde Urspring durch den Ruf «Ein Spion! Ein Spion!» aufgeschreckt. Ich sah einen Mann oberhalb der Straße nach Schelklingen am Waldrand entlanglaufen und wieder im Wald verschwinden. War es der ...
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