Der Verlauf einer tiergestützten Therapie in der Praxis - ein Fallbeispiel
In diesem Kapitel zeigen wir an einem Fallbeispiel exemplarisch auf, wie eine tiergestützte Therapie von der Indikation bis zum Austritt ablaufen kann. Tiere beleben den therapeutischen Raum. Durch seine Anwesenheit gestaltet das Tier den Prozess mit, interagiert mit den Patient*innen und es entwickelt sich eine Beziehung. Für die Patienten*innen entspricht die Möglichkeit, nebst der Beziehung zu den Therapeut*innen zusätzlich eine Beziehung zum Tier aufbauen zu können, einem Mehrwert.
Anamnese
Maurice, ein 11-jähriger Junge, wurde nach zwei notfallmäßigen Hospitalisationen und einem Suizidversuch mit Concerta (Methylphenidat, Psychostimulans) auf der stationären Kinderpsychiatrischen Abteilung aufgenommen. Bis dahin lebte er zusammen mit seinen berufstätigen Eltern und zwei jüngeren Schwestern. Die Schule hatte er dreimal gewechselt.
Bei Schuleintritt wurde ADHS diagnostiziert und Maurice auf Concerta eingestellt. Typisch für ADHS sind Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität und ausgeprägte körperliche Unruhe (Hyperaktivität). Aufgrund der ADHS-Symptomatik zeigten sich seit Beginn der Schullaufbahn Probleme im schulischen Rahmen, sowohl in Bezug auf den Schulstoff als auch im sozialen Bereich bis hin zu ausgeprägtem Mobbing. In der zweiten Klasse erhielt er schulische Heilpädagogik und ab der dritten Klasse vormittags Integrative Sonderschulung. In der fünften Klasse erkannten auch die Heilpädagog*innen eine große Gefährdung für Maurice (Mobbing, Wutanfälle). Die schulischen Probleme wirkten sich immer mehr auf das Familienleben aus. Der Zustand von Maurice und die Befindlichkeit in der Familie verschlechterten sich zunehmend. Maurice hatte große Schwierigkeiten, aktiv zu werden und sich auf Dinge und Anforderungen einzulassen. Er wirkte interesselos. Massive Wutanfälle häuften sich, er fühlte sich stets benachteiligt, die Interaktionen mit den Eltern wurden problematischer. Konflikte gab es vor allem bei den Hausaufgaben und beim Medienkonsum. Den Aufforderungen kam er nicht mehr nach. In Anfällen zerstörte er Sachen und lief weg.
Maurice berichtete, er sei von den Mitschüler*innen gemobbt worden. Er habe sich selbst kaum noch was zugetraut und dabei eine enorme Wut entwickelt, auch gegenüber sich selbst. Schon öfter sei er im Time-Out der Schule gewesen. Im Unterricht könne er sich nicht konzentrieren, bekomme wenig mit und nehme kaum noch an den Stunden teil. Er störe den Unterricht nicht, doch es stresse ihn, wenn er dem Unterricht nicht folgen könne. Er fühle sich dann abgelenkt und das mache ihn verrückt.
Mit der Psychotherapeutin, Maurice und der Mutter wurden geeignete therapeutische Interventionsmaßnahmen hinsichtlich der bestehenden Problematik im stationären Setting, u. a. gruppentherapeutische Angebote, thematisiert. Unterstützung beim Erlernen des Umgangs mit herausfordernden emotionalen Situationen wurde als notwendig erachtet. Im Weiteren sollten mit ihm und den Eltern Strategien zur Bewältigung des schulischen Alltags entwickelt und erarbeitet werden. ▄
Die Ziele der tiergestützten Therapie
Im Gespräch mit der zuständigen Psychotherapeutin wurden die Ziele für die tiergestützte Therapie festgelegt. Gegenüber Lehrpersonen, Schülern und Eltern zeigte Maurice aggressive Wutausbrüche. Dies war vor allem in Momenten der Fall, in denen er sich den Anforderungen nicht gewachsen fühlte, gedanklich nicht folgen konnte, Missverständnisse auftraten und er sich benachteiligt fühlte.
Anspannungsreduktion: In neuen, ungewohnten Situationen und vor allem in der Schule erlebte Maurice eine erhöhte Anspannung. In der Begegnung mit den Tieren und den sich wiederholenden Abläufen sollte die Anspannung reduziert, sein Selbstvertrauen gestärkt und seine Selbstwirksamkeit erkannt werden.
Ausdruck von Gefühlen: Maurice sollte in der Begegnung mit Tieren seine eigenen Gefühle (z. B. Freude, Traurigkeit, Enttäuschung, Wut) positiv erleben und erkennen lernen.
Adäquater Umgang mit Emotionen: In gezielten Situationen sollten die Emotionen des Tieres (Mimik, Signale, Verhalten, Stimme und Körperhaltung) thematisiert und erkannt werden. Maurice sollte lernen, sein Verhalten an die Stimmung und Befindlichkeit des Tieres anzupassen und wann immer möglich den Transfer zu sich und seinem Alltag herzustellen.
Beziehungsgestaltung zum Klienten
Die erste Begegnung mit Maurice war eine Herausforderung. Als er zum Tierhaus begleitet wurde, weigerte er sich energisch, mitzuarbeiten. Er meldete sich definitiv ab mit den Worten »Null Bock auf Tiere und Therapie« zu haben. Die ruhige und akzeptierende Haltung der Therapeutin führte dazu, dass er sich schnell wieder beruhigte. Eine Woche später - nach einem längeren Gespräch mit der Psychotherapeutin - wollte er die tiergestützte Therapie dann doch noch aufsuchen. Die Verweigerung war entstanden, weil er sehr kurzfristig über die tiergestützte Therapie informiert worden war und er sich nicht darauf einstellen konnte. Dennoch wurde die Therapeutin durch die lautstarke Verweigerung etwas verunsichert, sodass sie sich bei der nächsten Begegnung ohne konkreten Handlungsplan, jedoch offen für seine aktuelle Befindlichkeit, auf ihn und das Setting vorbereitete. Maurice war etwas ängstlich, freute sich aber, dass keine Erwartung an ihn gestellt wurde und er die Tiere frei sehen und kennenlernen konnte.
In der Gestaltung der Beziehung ließ sie ihm Raum für Wünsche und Interessen. Darauf aufbauend schlug sie ihm zwei Handlungsmöglichkeiten vor. Maurice entschied sich für eine Variante, die sie gemeinsam umsetzten. Nach dem dritten Setting war diese Vorgehensweise für ihn so weit ritualisiert, dass er von sich aus mehr einbrachte und Aufgaben selbstständig anging.
Ritualisierte Abläufe und positive Feedbacks motivieren und schützen vor Überforderung.
Die Therapeutin achtete auf klare vorhersehbare Abläufe, forderte auch Aufgaben ein (z. B. Gemüse schneiden) und fragte bei neuen Aufgaben nach, ob er sich dies zutraue, um Überforderung zu vermeiden. Maurice erhielt regelmäßige positive Feedbacks, wurde ermuntert, etwas auszuprobieren, und wurde gelobt, wenn es ihm gelang oder erneut ermuntert, es nochmals zu versuchen.
Bereits in der zweiten Stunde war ersichtlich, dass er die Therapeutin akzeptierte und schätzte. Er war freundlich zugewandt, zeigte Interesse, äußerte seine Bedürfnisse, nahm Hinweise an, setzte diese um und gewann zunehmend Vertrauen zu sich selbst und zu den Tieren.
Beziehungsgestaltung zum Tier
Die Therapeutin fungierte als Vorbild und wann immer es nötig war, auch als Vermittlerin zwischen Maurice und dem Tier. Zu Beginn wurden die Tiere beobachtet, es wurde besprochen, welche Regeln wichtig sind, welche Situationen entstehen können und wie er sich verhalten kann. Dabei wurden auch seine Erfahrungen und sein Wissen mit einbezogen.
In der ersten Stunde ging es um das Kennenlernen der einzelnen Tiere. Maurice wünschte sich, mit den Katzen zu spielen und er war auch bereit, die anderen Tiere kennenzulernen. Im direkten Kontakt mit den Tieren (Katzen, Kaninchen, Meerschweinchen) war er vorsichtig, beim Füttern der Kaninchen und Meerschweinchen leicht ängstlich. Hinweise nahm er an, konnte sie jedoch nur zu einem Teil umsetzen und wirkte leicht überfordert. Wiederholungen waren nötig, was er positiv annahm. Maurice teilte mit, dass es ihm bei den Tieren sehr gefallen habe und die Zeit sehr schnell vergangen sei. Er freue sich auf das nächste Mal.
In der zweiten Stunde wollte er das Kaninchen Niggi näher kennenlernen. Als Thema wählten sie Vertrauen aufbauen. Maurice setzte sich auf den Boden und lockte Niggi mit einer Karotte auf seine Beine. In diesem nahen Kontakt mit dem Tier wirkte er weniger ängstlich, was er auch bestätigte. Er genoss die Nähe des Tieres, streichelte das samtene Fell und beobachtete, wie das Tier darauf reagierte. Maurice nahm wahr, dass das Tier ihm vertraute und er weniger ängstlich war. Beim Füttern der Meerschweinchen setzte die Therapeutin erneut den Fokus auf die Beobachtung der Tiere. Welches ist scheu, welches ist mutig? Welches Meerschweinchen verhält sich ähnlich wie er selbst bei der Begegnung mit neuen Menschen? Maurice wählte sich Pina, sie sei ihm am ähnlichsten. Ein Meerschweinchen, das manchmal mutig und vertrauensvoll ist und sich danach wieder zurückzieht. Am Ende der Stunde spielte er mit den Katzen Samba und Sherlock Mäusefangen, streichelte sie und genoss ihre Nähe. Es fiel ihm schwer, einen Abschluss zu finden: Die Stunde sei schnell vergangen und es sei ganz toll gewesen, äußerte er.
In der dritten Stunde wünschte sich Maurice, zuerst zu den Ziegen zu gehen und danach noch eine gemeinsame Zeit mit dem Kaninchen Niggi zu verbringen (Förderung der Empathie). In der Kontaktaufnahme mit den Ziegen zeigte er sich etwas ängstlich, dankbar nahm er Hinweise an und setzte sie gekonnt um. Er freute sich, wenn sie auf sein Rufen reagierten (Selbstwirksamkeit erfahren). Zum Abschluss erhielten sie von ihm ein Futterstückchen. Er verabschiedete sich von...