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WAS DIE BUNDESREPUBLIK FÜR DIE DEMOKRATISIERUNG DER DDR TUN KANN
August 1989
In dem folgenden Text spiegeln sich Eindrücke, die ich im Juni 1989 in Leipzig gewonnen hatte. Anlass der Reise war eine Einladung der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, dort einen Vortrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik zu halten. Am 8. Juni sprach ich vor etwa 90 Zuhörern, darunter auch Historikern aus Jena, Greifswald und Berlin, über das Thema «Die Revolution von 1918/19 und das Problem der Kontinuität in der deutschen Geschichte» (abgedruckt in Band 250 der «Historischen Zeitschrift» im Juni 1990). Zu meiner Überraschung stieß meine Kritik an den Thesen des Zentralkomitees der SED zum 70. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands kaum auf Kritik, ebenso wenig meine These, die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg sei nicht nur eine Vorbelastung, sondern auch eine Vorbedingung der Weimarer Republik gewesen, und das deshalb, weil die ungespaltene, marxistische Vorkriegs-SPD nicht zu jenem Klassenkompromiss mit den gemäßigten bürgerlichen Kräften bereit gewesen wäre, der die Conditio sine qua non der parlamentarischen Demokratie war.
In den folgenden Diskussionen in kleinerem Kreis drehte sich alles um das Thema «Perestrojka in der DDR», also um eine ostdeutsche Variante einer Reformpolitik à la Gorbatschow. Die anwesenden SED-Intellektuellen ließen keinen Zweifel an ihrer Überzeugung, dass die DDR ein «sozialistischer Staat» bleiben müsse, dass es aber auch Privateigentum und Privatinitiative, eine «sozialistische Marktwirtschaft» und ein echtes Mehrparteiensystem geben solle - freilich unter Beibehaltung einer entleninisierten, am Erbe von Rosa Luxemburg ausgerichteten SED als Einheitspartei der Arbeiterklasse.
Auf diese Gespräche gründete sich meine Hoffnung, eine grundlegende demokratische Erneuerung der DDR sei nun kein Ding der Unmöglichkeit mehr, und damit auch nicht ein sehr viel engeres, vertraglich geregeltes Miteinander der beiden deutschen Staaten. Das Beharren auf der staatlichen Einheit Deutschlands erschien mir hingegen als kontraproduktiv, weil es nur dazu diene, die «Hardliner» um Erich Honecker in ihrem Anti-Reform-Kurs zu bestärken. Die folgenden Monate machten deutlich, was ich dabei ausgeblendet hatte: Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung dachte gar nicht daran, sich mit einem «demokratischen Sozialismus» im Sinne der intellektuellen SED-Reformer zufriedenzugeben.
Nicht die staatliche Einheit Deutschlands, sondern die Freiheit der Deutschen in der DDR sollten wir anstreben, weil allein dieses Ziel politisch erreichbar sei: In diesen Appell mündete Theo Sommers Artikel in der Zeit vom 9. Juni 1989. Dergleichen möge im nächsten Jahrhundert denkbar werden, konterte Helmut Schmidt drei Wochen später.
Was Schmidt Sommer entgegenhält, sind vorrangig innenpolitische Argumente. Ein Verzicht auf die staatliche Einheit Deutschlands ließe «heute innerhalb der Bundesrepublik zwangsläufig die extreme Rechte erstarken und schürte damit erst recht das Mißtrauen unserer Nachbarn. Die mit dem Verzicht gekoppelte Freiheitsforderung an die heutige DDR-Regierung trifft dort auf taube Ohren - und jedenfalls einstweilen auch in Moskau, weil sie die Sorge vor einer Zersetzung des Warschauer Paktes auslösen muß, zumal sie natürlich auf Zustimmung bei den Bürgern der DDR rechnen kann.» Schmidt mahnt abschließend, wer «Kontroversen unter uns» schüre, der verletze unser ohnehin lädiertes Nationalbewußtsein und rufe die Gefahr eines «Umschlags in extremen Nationalismus» hervor.
Ich widerspreche mit Nachdruck. Der Diskurs über die deutsche Frage ist notwendig, um den deutschen Nationalismus, und nicht nur den extremen, geistig zu überwinden. Dieser Nationalismus hat in die deutsche Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 geführt. Heute wächst der Nationalismus dadurch, daß man ihm Zugeständnisse macht. Eben das tun alle jene, die die deutsche Frage, ob in den Grenzen von 1937 oder 1945, zu einem Werkzeug der bundesdeutschen Innenpolitik machen. Nicht um die Bedürfnisse der Deutschen in der DDR geht es ihnen, sondern um die Bedienung einer deutschnationalen Klientel in der Bundesrepublik. Gleichviel, ob die Gralshüter des deutschen Nationalstaates sich bei Schönhubers «Republikanern», auf dem rechten Flügel der Union oder in der konservativen Publizistik tummeln: Sie sind Nationalisten nicht aus Überzeugung, sondern aus Kalkül. Wenn wir ihnen gestatten würden, darüber zu bestimmen, was in Sachen Deutschland gedacht werden darf, wir hätten vor ihnen bereits kapituliert.
Am Beginn des Nachdenkens über die deutsche Frage muß die Einsicht stehen, daß sich der von Bismarck gegründete deutsche Nationalstaat selbst zerstört hat. Angesichts des ausschlaggebenden Anteils, den Deutschland an der Auslösung beider Weltkriege hatte, wollten die Siegermächte 1945 sich gegen die Gefahr einer Wiederholung ein für allemal absichern. In der Teilung Deutschlands sehen sie bis heute ein Mittel zur Stabilisierung Europas. Ein wiedervereinigtes Deutschland würde, wie Peter Bender in seinem jüngsten Buch «Deutsche Parallelen» mit Recht bemerkt hat, «unweigerlich zur Vormacht Europas» werden. «Und das will auch in zwanzig oder dreißig Jahren noch keiner.»
Weil dem so ist, sollten wir nicht mehr von der Wiedervereinigung Deutschlands reden, sondern etwas für die Freiheit der Deutschen in der DDR tun. Das ist leichter gesagt als getan. Aber ob Perestrojka und Glasnost sich auch in der DDR durchsetzen, das hängt nicht zuletzt von der Politik der Bundesrepublik ab.
Polen und Ungarn, so lautet eine gängige und durchaus zutreffende These, bleiben sie selbst, auch wenn ihr Regime sich radikal ändert. Was aber wird aus der DDR, wenn sie sich grundlegend demokratisiert? Würde sie durch die Preisgabe des «real existierenden Sozialismus» nicht ihre Selbstlegitimation und damit ihre «moralische» Daseinsgrundlage verlieren? Heißt Demokratisierung im Falle der DDR mithin nicht zwangsläufig Anbahnung des Anschlusses an die Bundesrepublik?
So sehen das wohl die Führung der SED und große Teile des Parteiapparates. Aber die Anzeichen mehren sich, daß es innerhalb der Staatspartei auch andere Meinungen gibt. Gorbatschows Anhänger in der SED wissen, daß sich die DDR gegen eine Politik der Perestrojka nicht mehr lange wird abschotten können. Für diese Annahme spricht schon der zunehmend desolate Zustand der Wirtschaft. Zwar ist die DDR ökonomisch immer noch erheblich stärker als Ungarn oder gar Polen, aber ihr relativer Vorsprung geht in dem Maß verloren, wie die Reformländer westliche Wirtschaftshilfe erhalten.
Die kostspielige Subventionierung von Mieten und Nahrungsmitteln treibt den anderen deutschen Staat langsam, aber sicher in den Ruin. Rettung versprechen allein die Einführung der Marktwirtschaft und die systematische Förderung von Privatinitiative. Die DDR kann zu einem solchen System übergehen, ohne aufzuhören, ihrem Selbstverständnis nach ein sozialistischer Staat zu sein. Denn eine Abschaffung des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln in den Schlüsselsektoren der Wirtschaft steht auch für die konsequentesten Reformer nicht zur Diskussion.
Ein demokratischer Staat wäre die DDR freilich erst dann, wenn ihre Bürger nebst allen anderen klassischen Grundrechten auch die freie Auswahl zwischen mehreren, voneinander unabhängigen Parteien hätten, wenn also keine Partei mehr, wie Erhard Eppler es in seiner großen Rede zum 17. Juni im Bundestag formuliert hat, ein Monopol auf Macht und Wahrheit beanspruchen würde. Gesetzt den Fall, «Reformsozialisten» in der SED visierten einen solchen Zustand an, so hätten sie eine Veränderung von geradezu revolutionärer Qualität im Sinn. Eine derart demokratisierte DDR würde wohl in höherem Maß sozialistisch sein als das Ungarn und das Polen von morgen, müßte ihnen aber in Sachen Demokratie und Pluralismus nicht nachstehen.
Einstweilen ist das alles nur ein...
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