Schweitzer Fachinformationen
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«CHOR: Schöner denn je
Wiedererstanden aus Trümmern und Asche
Ist unsere Stadt,
Gänzlich geräumt und vergessen ist Schutt,
Gänzlich vergessen auch sind,
Die da verkohlten, ihr Schrei
Aus den Flammen -
BIEDERMANN: Das Leben geht weiter.»
Max Frisch, Biedermann und die Brandstifter (1958)
1499 wurden sämtliche Juden aus Nürnberg vertrieben, sie hatten die Stadt innerhalb von drei Wochen zu verlassen. Viele von ihnen siedelten sich in Fürth an, womit der wirtschaftliche Aufstieg der Nachbarstadt begann. Die Fürther Juden genossen weitgehende Gewerbefreiheit; im 17. Jahrhundert gab es sogar jüdische Bürgermeister. Im 19. Jahrhundert hieß Fürth das «fränkische Jerusalem». Mit der beginnenden Industrialisierung kamen die beiden Städte wieder näher zusammen; 1835 wurde zwischen Nürnberg und Fürth die erste Eisenbahnverbindung in Deutschland eröffnet. Die Zeit nahm schnell Fahrt auf: Die Dampflokomotive «Adler» brauchte für sechs Kilometer Schienenstrecke neun Minuten. Der aus England engagierte Dampfwagenlenker William Wilson wurde vom Nürnberger Heizer Johann Georg Hieronymus unterstützt. «Pferde auf der nahen Chaussee sind daher beim Herannahen des Ungetüms scheu geworden, Kinder haben zu weinen angefangen, und manche Menschen, die nicht alle zu den ungebildeten gerechnet werden dürfen, haben ein leises Beben nicht unterdrücken können», teilte das «Morgenblatt für gebildete Stände» seiner kaum weniger erregten Leserschaft mit. «Ja, es möchte wohl keiner, der nicht völlig phantasielos ist, ganz ruhigen Gemütes und ohne Staunen beim ersten Anblick des wunderwürdigen Phänomens geblieben sein.»[3]
Hundert Jahre später gab es in Nürnberg wieder ein Phänomen zu bestaunen. Im März 1935 hatte das Deutsche Reich einseitig den Versailler Vertrag gekündigt, die Rüstungsbeschränkungen aufgehoben und die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Die umliegenden Länder waren wehrlos gegen diese Machtdemonstration. Auf dem «Reichsparteitag der Freiheit» im September wurde der Sieg über das «Versailler Diktat» frenetisch gefeiert. Die Massen huldigten, wundersam choreographiert, dem Führer Adolf Hitler, der vor einem Meer von Hakenkreuzfahnen gegen den «jüdischen Marxismus» wetterte und den aus Berlin herbeizitierten Reichstag das «Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre» absegnen ließ. Fortan waren Eheschließung und auch außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden verboten. Die neue deutsche Volksgemeinschaft schloss sich zusammen, die Juden wurden diskriminiert und drangsaliert, der Weg zu ihrer Auslöschung war damit bereits bürokratisch vorbereitet.
Nürnberg, die ehrwürdige Reichsstadt, verwandelte sich in die Stadt des Führers. Julius Streicher, Verleger und Chefredakteur des «Stürmer», verbreitete Pogromstimmung, indem er Gebildeten wie Ungebildeten auf jeder Titelseite seiner Zeitung den Satz «Die Juden sind unser Unglück» einhämmerte. Die Juden erschienen im «Stürmer» in mittelalterlicher Tradition als Wucherer, Lüstlinge, Volksverderber, die verhinderten, dass Deutschland sich wieder zu seiner ganzen Größe erhob.
Als der in Nürnberg aufgewachsene Hans Magnus Enzensberger 1967 den Kulturpreis der Stadt erhielt, erfand er in Erinnerung an die erste Eisenbahnfahrt einen neuen Heizer Hieronymus, der bei seinen Mitbürgern heimlich Flugblätter und Broschüren gegen die Nazis verteilt habe: «Einer, der das Wort Kultur gewiß seiner Lebtage nicht in den Mund und nie eine Dünndruckausgabe in die Hand genommen hat», sei der Einzige gewesen, der damit im nationalsozialistischen Nürnberg die Kultur verteidigt habe.[4] Enzensberger erinnerte auch an «unsern Mitbürger, unsern Nachbarn, unsern Zeitungs- und Bilderbuchverleger, den Streicher, der uns damals eingeschärft hat, daß wir wieder wer wären in der Welt, daß unser Unglück nicht wir, sondern andere seien, und daß Deutschland zu erwachen habe und zwar sofort».[5]
Franken war früh erwacht. Die Stadt Leutershausen, fünfzig Kilometer weiter im Westen, Geburtsort des Flugpioniers Gustav Weißkopf, hatte Hitler mit der Begründung, sechsundachtzig Prozent der Wähler seien bereits seine Anhänger, schon ein halbes Jahr vor der Machtübergabe an ihn die Ehrenbürgerwürde angetragen.[6] (Sie wurde ihm erst 1948 wieder entzogen.)
In Leutershausen wurde 1901 Paula Stern geboren. Ihr Vater war Viehhändler und Bauer, die Familie war orthodox, die jüdischen Speiseregeln wurden peinlich genau befolgt. Als ihr verwitweter Vater wieder heiratete, ging Paula Stern als Kindermädchen nach Halberstadt. Weder dort noch zu Hause habe sie offenen Antisemitismus wahrgenommen, sagte sie später, erst mit Hitlers Machtantritt habe sich das geändert. 1921 lernte sie den Hauptlehrer Louis Kissinger aus Fürth kennen, im Jahr darauf heirateten sie. Mit Unterstützung ihres Vaters konnten sie eine Wohnung in der Mathildenstraße erwerben, Louis Kissinger unterrichtete an der Höheren Mädchenschule und war ein allseits respektierter Studienrat. Im Inflationsjahr 1923 kam Heinz zur Welt, der spätere Henry, und im Jahr darauf sein Bruder Walter.
Louis Kissinger war ein klassischer Bildungsbürger mit Schiller und Goethe als weltlichen Hausgöttern und einer großen Liebe für Heinrich Heine und Rainer Maria Rilke. Wie die meisten deutschen Juden dachte er deutschnational und kaisertreu, auch wenn der Kaiser bei Kriegsende abgedankt hatte. Deutschland war plötzlich Republik geworden, und die Republik hatte die Kriegsfolgen zu tragen. Zu Beginn des Jahres 1923 besetzten die Franzosen das Ruhrgebiet, um die in Versailles vereinbarten Reparationsleistungen sicherzustellen. Im November marschierte Hitler zusammen mit dem Weltkriegsgeneral Ludendorff auf die Münchner Feldherrnhalle. Auch wenn der Putsch scheiterte und die französischen Soldaten wieder abzogen, blieben die Zeiten unsicher. Der Aufstieg der Nationalsozialisten begann mit dem Versprechen, «Versailles» zu beenden und Deutschlands Größe wieder glanzvoll herzustellen. Dafür bot Nürnberg die beste Bühne.
So gern Henry Kissinger später nach Deutschland kam, wo er bestaunt und bewundert wurde, wo ihn die Journalisten umschmeichelten und die Politiker sich seiner Präsenz zur Wahlkampfhilfe versicherten, er misstraute den Deutschen. Auf seine Herkunft aus dem jüdischen Fürth ließ er sich erst in späteren Jahren ansprechen. Über seine Kindheit im nationalsozialistischen Franken äußerte er sich wenig und dann auffallend widersprüchlich. Dass sich die Nazis nach und nach die Macht erkämpften und die Repressalien gegen Juden ständig zunahmen, diese Fakten, so betonte er oft, böten keinen Schlüssel zu dem, was er geworden sei. «Mir war gar nicht bewusst, was da um mich herum vor sich ging», sagte er, Kinder würden so etwas gar nicht wahrnehmen.[7] Enzensberger, sechseinhalb Jahre jünger als Kissinger, drückt es in einem seiner aphoristischen Gedichte ähnlich aus: «In der Zeit des Faschismus / wußte ich nicht, daß ich / in der Zeit des Faschismus lebte.»[8] Heutzutage sei es Mode, alles psychoanalytisch zu erklären, behauptete Kissinger 1971 auf dem Gipfel seines politischen Ruhms, und dagegen musste er sich zur Wehr setzen: «Die politische Verfolgung in meiner Kindheit beherrscht keineswegs mein Leben.»[9] Sein späterer Mentor Fritz Kraemer behauptete das genaue Gegenteil. Kissingers Erfahrungen als Kind und Jugendlicher seien «so traumatisch, daß er nicht darüber sprechen kann».[10]
Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt, am 2. Mai wurde Louis Kissinger vom Dienst suspendiert und im Oktober in den Ruhestand versetzt. Der Studienrat verschwand aus der städtischen Gesellschaft. Diese Demütigung traf nicht nur ihn, sondern auch die beiden Söhne. Enzensberger hat nicht vergessen, dass in seinem Schulbuch der Merkvers «Trau keinem Fuchs auf grüner Heid / Und keinem Juden bei seinem Eid!» stand und gleichzeitig ein Nachbar verschwand und noch einer, auf den dieser Reim gemünzt war. Fritz Kraemer wiederum glaubte, dass daher das Bedürfnis nach Recht und Ordnung rührte, das sein Schützling von Anfang an zeigte: «Deshalb suchte er immer die Anerkennung, auch wenn das bedeutete, dass er Leuten gefällig sein musste, die für seine Begriffe intellektuell weit unter ihm standen.»[11]
Die Lage der Juden in Franken, wo sie über Jahrhunderte neben den christlichen Deutschen gelebt hatten, verschlechterte sich zunehmend. Als der Fachlehrer Arnold Kornfeld und seine Frau, Siebenbürger Sachsen, in einer nationalen Aufwallung Hitler einen Teppich schenken wollen, wehrt die Reichskanzlei ab und will die Gabe erst annehmen, wenn die «Zweifel über die arische Abstammung beseitigt sind, wozu der Name Kornfeld Veranlassung gibt».[12] Edmund Neuendorff, der «Führer» der Deutschen Turnerschaft, kann dem «hochzuverehrenden Herrn Reichskanzler» bereits am 16. Mai 1933 melden, dass die «verhältnismässig wenigen Marxisten und Juden, die sich in der Turnerschaft befanden», sie verlassen mussten, «der Führergedanke ist durchgeführt».[13] In Gunzenhausen, nicht weit von Fürth, kommt es am Palmsonntag 1934 zu antisemitischen Ausschreitungen, drei jüdische Mitbürger sterben. Sogar die «New York Times» berichtet darüber. Nach dem...
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