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November 2008
Das Nieseln hatte nachgelassen, der trübe Himmel riss auf. Durch das Glas der Veranda fiel ein Streifen Sonnenlicht und ließ die Regentropfen an der Scheibe funkeln. Julia genoss den Ausblick. Vor ihr lagen die Dächer der Häuser vom Blankeneser Süllberg, dahinter sah sie grau schimmernd die Elbe. Ein großes schwarzes Schiff, auf dem sich die Container wie bunte Legosteine stapelten, schob sich langsam Richtung Elbmündung.
Sie liebte den Dienstagvormittag, »Omatag« nannte sie ihn. Jeden Dienstag, wenn die Kinder in der Schule und im Kindergarten waren, verbrachte sie mindestens zwei Stunden bei ihrer Großmutter Charlotte. Nicht um zu putzen, einzukaufen oder die Wäsche zu waschen. »Das macht Frau Yilmaz«, sagte Oma Lotte, wenn Julia oder Cornelia, ihre Schwester, ihre Hilfe anboten. »Wenn meine Enkelinnen bei mir sind, möchte ich es gemütlich haben. Und ihr sollt euch darauf freuen, mich zu besuchen. Ich will nicht, dass ihr in eurer kostbaren Zeit hektisch mit dem Feudel durch das Haus fegt. Nein, ihr habt selbst Haushalt und Familie und damit genug um die Ohren, um auch noch den Staub der alten Oma zu wischen. Außerdem weiß Frau Yilmaz genau, wie ich es haben möchte. Sie hat bald dreißig Jahre Erfahrung mit meinen Eigenheiten.«
So saßen sie jeden Dienstag beisammen, im Winter und bei »Schietwetter« auf der verglasten Veranda, im Sommer im winzigen Garten zwischen japanischen Azaleen, Kaiserkronen und Kamelien in Tontöpfen. Sie tranken Tee, aßen köstliche kleine Kuchen und Pralinen, die aus einer Konditorei in der Nachbarschaft stammten, sahen den Schiffen zu und redeten.
Mit ihrer Großmutter konnte sich Julia meist besser unterhalten als mit ihrer Mutter. Hier fand sie Verständnis und Unterstützung, Anregungen, Ratschläge und, wo nötig, liebevollen Widerspruch. Der tägliche Blick auf Hamburgs Lebensader, das »Tor zur Welt«, und die Erinnerungen an ihr aufregendes Leben schienen der alten Dame ihren wachen und beinahe fortschrittlichen Geist zu bewahren. Ob es die Perlenkette aus Acapulco oder die ceylonesische Brokatstola war - Oma Lotte umwehte immer der Hauch der »großen weiten Welt«. Jahrelang hatte sie an der Seite von Opa Paul, einem Kapitän, mehrfach die Erde umrundet. Das kleine Haus auf dem Süllberg war voller Andenken an diese Reisen: afrikanische Holzschnitzereien, indische Möbel, chinesisches Porzellan, japanische Kalligraphien, marokkanische Teppiche, ein persischer Schachtisch. Die Welt harmonisch vereint auf 95 Quadratmetern.
Julia lehnte sich in dem Rattansessel zurück. Ein Luftzug, der ungehindert durch eines der Fenster hereinwehte, jagte ihr einen Kälteschauer über die Arme. Die Wanduhr tickte, die Elektroheizung gab ein leises Klicken von sich, wenn sie ansprang oder sich abschaltete. In der Küche pfiff der Wasserkessel. Der kleine Teetisch war liebevoll und mit viel Geschmack gedeckt: zierliche, goldumrandete Tassen und Teller mit einem Vogelmotiv, hauchdünne Servietten in einem zu den Kranichen passenden Blauton, silberne Kuchengabeln mit Monogramm und eine Platte mit Gebäck und Pralinen.
»Julia!« Die Stimme ihrer Großmutter rief sie in die gemütliche Küche, in der es immer nach exotischen Gewürzen und frisch aufgebrühtem Tee duftete. Als Kind hatte sie sich vorgestellt, dass so die Welt roch - dort draußen, jenseits von Hamburg, wenn man mit einem der großen Containerschiffe aus dem Hafen fuhr und auf das offene Meer hinaussteuerte.
»Min Deern, kannst du bitte die Teekanne auf die Veranda bringen? Meine Hände sind bei diesem feuchten Wetter etwas steif.« Ssteif. Oma Lotte sstolperte über den sspitzen Sstein, wie man in Hamburg scherzhaft sagte, wenn jemand noch den typischen plattdeutschen Akzent hatte, der leider immer seltener wurde. Ein Akzent, in dem selbst Schimpfwörter niedlich klangen - obgleich Großmutter nie welche benutzte.
»Natürlich.« Julia nahm die Porzellankanne und trug sie zum Teetisch, Oma Lotte folgte mit zwei farbenfrohen Wolldecken.
»Nimm, Kind, es ist hier etwas kalt.«
Julia schenkte Tee in die Tassen. Sofort breitete sich der feine Duft von Bergamotte aus.
»Ich glaube, es pfeift durch eines der Fenster.«
»Das Haus ist alt, die Veranda ist alt. Das letzte Mal hat noch dein Großvater die Dichtungen reparieren lassen. Das ist jetzt über dreißig Jahre her.« Sie lächelte versonnen in sich hinein. »Ich habe schon dem Sohn von Frau Yilmaz Bescheid gesagt. Morgen kommt er, um sie sich anzusehen.«
»Oma, so ein paar Dichtungen könnte doch auch Marco erneuern. Er .«
»Natürlich. Ich weiß doch, wie geschickt dein Mann ist. Aber er würde es in seiner Freizeit tun müssen, entweder am Abend, nach seiner Arbeit, oder am Wochenende, wenn er eigentlich mit Simon und Jonas Fußball spielen sollte.« Sie schüttelte den Kopf. »Erdogan hat eine Glaserei. Es ist sein Job.« Sie sprach das J aus wie in Junge. »Seine Familie lebt davon, und ich bezahle ihn dafür.«
Julia zuckte mit den Schultern. Es hatte keinen Sinn, mit Großmutter über diese Dinge zu diskutieren. Die Ansichten der alten Dame waren unumstößlich. Und sie hatte nicht ganz unrecht. Dank dieser Haltung wurden die Besuche bei ihr nie lästig. Julia nahm ihre Tasse und kuschelte sich in die Decke aus weicher Alpakawolle, ein Mitbringsel aus Peru. Eine Weile sahen sie beide aus dem Fenster.
»Min Deern, ist alles in Ordnung?«, unterbrach Oma Lotte das Schweigen. »Du bist still in letzter Zeit. Hast du Kummer? Ist irgendetwas mit den Kindern? Oder stimmt etwas nicht mit dir und Marco?«
Julia trank einen Schluck Tee, um Zeit zu gewinnen. Sie fühlte die klugen braunen Augen ihrer Großmutter auf sich gerichtet. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte auszuweichen. Sie konnte sie nicht belügen. Es war absolut sinnlos, Oma Lotte durchschaute sie ebenso mühelos wie das Glas ihrer Veranda.
Sie seufzte, stellte ihre Tasse ab und schaute aus dem Fenster. Das große Containerschiff war aus dem Blickfeld verschwunden, dafür fuhr die Fähre aus Cranz Richtung Blankenese.
»Eigentlich ist es nichts. Und andererseits . Es ist nicht so, dass Marco und ich uns ständig streiten würden oder so. Aber in letzter Zeit .« Sie brach hilflos ab. Wie sollte sie in Worte fassen, was ihr selbst nicht klar war? Sie wusste nicht, warum es sie in den Wahnsinn trieb, wenn er morgens hektisch durch das Haus rannte, bevor er ins Büro fuhr, und weshalb jede Minute, die er sich am Abend verspätete, einer persönlichen Beleidigung gleichkam. Sie fand keine Erklärung, wieso ihr seit einiger Zeit zu Hause die Luft eng wurde, die Kinder sie wütend machten, sie eigentlich nur noch ungeduldig und gereizt war und ihren Aufgaben im Haushalt mit immer weniger Sorgfalt und Begeisterung nachging. Nachts, wenn sie neben sich die ruhigen Atemzüge ihres Mannes hörte, musste sie weinen. »Ich schlafe unruhig, bin ständig schlecht gelaunt. Ich schimpfe mit den Kindern wegen Kleinigkeiten.« Sie presste die Lippen aufeinander und schwieg. Tränen traten ihr in die Augen, ohne dass sie wusste, weshalb. Was war los mit ihr? Anfangs hatte sie geglaubt, schwanger zu sein, aber der Test war negativ gewesen. Und die Wechseljahre konnten es nicht sein. Nicht mit vierunddreißig. Aber was war es dann?
»Willst du wissen, was ich denke? Ich glaube, du bist unzufrieden, min Deern«, sagte Oma Lotte sanft. »Zutiefst unzufrieden.«
Julia sah sie überrascht an. »Aber ich habe doch keinen Grund! Ich habe einen Mann, den ich liebe, drei wunderbare Kinder, ein schönes Reihenhaus mit Garten, liebe Freundinnen .«
»Und reicht dir das? Die Kinder wachsen heran. Sie sind in der Schule, im Kindergarten, im Sportverein und in der Gemeindegruppe. Dein Mann trägt große Verantwortung in der Bank, kommt abends spät nach Hause. Deine Freundinnen arbeiten. Und du sitzt den ganzen Tag allein in eurem Haus herum. Deine Mutter war damit zufrieden zu kochen, zu putzen und auf den Rest der Familie zu warten. Deine Schwester Cornelia ist ähnlich veranlagt. Wenn sie in der Sandkiste saß, ist sie dort geblieben und hat stundenlang mit ihren Förmchen gespielt. Das war dir zu langweilig. Spätestens nach dem zweiten Sandkuchen bist du über den Rand gekrabbelt und hast die Gegend erkundet. Wie oft haben deine Mutter und ich dich aus dem Gestrüpp ziehen müssen, weil deine Hose an einem Ast festhing!«
Sie mussten beide lachen.
»Du bist eine wunderbare Mutter. Du hast für deine Kinder gesorgt, solange sie dich rund um die Uhr brauchten. Aber du bist keine der Frauen, die es ausfüllt, die Wohnung staubfrei zu halten und neue Rezepte auszuprobieren. Und das macht dich unzufrieden.«
Julia nippte an ihrem Tee. »Wie kommst du darauf?«
»Ich glaube, wir beide sind aus demselben Holz geschnitzt.«
Sie sah ihre Großmutter nachdenklich an. Es stimmte, dass alle in ihrer Familie behaupteten, sie würde Oma Lotte ähnlicher sehen als ihrer Mutter: Sie hatte Omas dunkelbraune Augen, ihre schlanke, zierliche Figur und die dichten, dunklen Haare, während Mama und Cornelia groß, grauäugig und blond waren und zu Pölsterchen neigten. Aber bisher hatte Julia diese Ähnlichkeit nur auf Äußerlichkeiten bezogen.
»Als deine Mutter und Onkel Stefan in die Schule gingen, bin ich zu Hause die Wände hochgegangen. Aber ich hatte den Vorteil, dass ich mit Opa mitfahren und mir die Welt ansehen konnte. Anfangs natürlich nur in den Ferien, später, als die beiden auf eigenen Füßen standen, sooft ich wollte. Ich habe mich auf dem Schiff ein bisschen nützlich gemacht, habe...
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