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Ohne letztlich praktische Forschungsabsicht kann es in der Staatslehre weder fruchtbare Fragen noch wesentliche Antworten geben.
Hermann Heller (1891-1933), Staatslehre
Was «Revolution» bedeutet, glauben wir zu wissen: eine umfassende, häufig gewaltsam herbeigeführte Umwälzung der bestehenden Machtverhältnisse. Der Soziologe Ralf Dahrendorf definierte Revolutionen 1961 als «politische und soziale Wandlungen ., die unter Anwendung von Gewalt extrem rasch verlaufen und äußerst tiefgehende Wirkungen zeitigen».[1] Ähnlich, wenn auch ohne Hervorhebung des Faktors Gewalt, formulierte 1986 der Politologe Kurt Lenk: «Revolution ist stets verbunden mit der Schaffung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung und neuen Rechtsformen, die über den bloßen Wechsel einer Führungsgruppe (Putsch, Staatsstreich) hinausweisen. Entscheidend dabei ist die Sprengung der bisherigen Sozialstruktur im Sinne eines Bruchs mit der Tradition.»[2]
Es ist ein solcher pragmatischer, an Dahrendorf und Lenk angelehnter Arbeitsbegriff von Revolution, mit dem wir uns unserem Thema, den deutschen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts, nähern wollen. Im Vordergrund unseres Interesses steht dabei das Verhältnis der zeitgenössischen Deutschen zur Revolution, und das hat sich innerhalb dieser zwei Jahrhunderte erheblich verändert. In jedem Kapitel werden grundsätzliche Aspekte des Themas «Revolution» erörtert, besonders intensiv im Zusammenhang mit den «friedlichen Revolutionen» von 1989 und zusammenfassend im letzten Kapitel des Buches.
Bevor wir uns der ersten deutschen Revolution, der von 1848/49, zuwenden, bedarf es eines Blicks auf deren Vorgeschichte. Zu ihr gehört zunächst das Ereignis, das das Verhältnis der Deutschen zur Revolution nachhaltig geprägt hat und dessen Folgen Deutschland grundlegend verändert haben: die Französische Revolution von 1789.
Auch viele Deutsche hatten den Franzosen zugejubelt, als diese am 14. Juli 1789 das Symbol des absolutistischen Ancien Régime, die Pariser Bastille, erstürmten. Unter denen, die sich zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, den Ideen von 1789 bekannten, waren große Dichter und Denker wie Kant, Herder und Schiller und manche, die erst noch berühmt werden sollten, wie die damaligen Tübinger Theologiestudenten Hegel, Schelling und Hölderlin. Doch bekanntlich hielt die Begeisterung rechts des Rheins nicht lange an. Bereits im Oktober 1789 rügte Christoph Martin Wieland, der wohl einflussreichste deutsche Publizist der Zeit, auch er ein früher Sympathisant der Revolution, die Entmachtung des Königs von Frankreich, weil sie mit dem nötigen Gleichgewicht der Gewalten, der gesetzgebenden, der vollziehenden und der richterlichen Gewalt, nicht zu vereinbaren sei.[3]
Vom Frühjahr 1790 ab wurde die Kritik an den vermeintlichen Anmaßungen der Pariser Nationalversammlung schärfer, und das im gleichen Maß, wie der Einfluss der Jakobiner wuchs. Noch vor Beginn der offenen Schreckensherrschaft kam Johann Gottfried Herder zu dem Schluss: «Wir können der französischen Revolution wie einem Schiffbruch auf offenem Meer vom sicheren Ufer herab zusehen, falls unser böser Genius uns nicht selbst wider Willen ins Meer stürzte.»[4]
Selbst die entschiedensten unter den deutschen Verteidigern der Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die sogenannten «deutschen Jakobiner», mochten im revolutionären Frankreich meist kein Vorbild sehen. Einer von ihnen, der Schriftsteller Georg Friedrich Rebmann, bekannte 1796, er habe nie «an eine deutsche Revoluzion (sic!), nach dem Muster der französischen, im Ernste gedacht. In protestantischen Ländern ist sie durchaus unmöglich, und in unseren katholischen fast ebenso sehr.» Eine Revolution ausschließen wollte Rebmann dennoch nicht. Sie werde und müsse erfolgen, «wenn man ihr nicht durch Reformation zuvorkommt».[5]
Letztlich meinte auch Immanuel Kant, der Philosoph aus dem preußischen Königsberg, nichts anderes. Den Ideen der Französischen Revolution bekundete er über die Zeit des schärfstens verurteilten Terrors hinaus öffentlich seine Sympathie. Wenn er 1797 in der Rechtslehre der «Metaphysik der Sitten» ein «repräsentatives System des Volkes» forderte, ging er weit über Theorie und Praxis des Aufgeklärten Absolutismus friderizianischer Prägung hinaus.[6] Doch da er auf gesetzlichen Reformen bestand und einer gewaltsamen Revolution tunlichst vorbeugen wollte, blieb der eigentliche Adressat seiner Forderungen der vorhandene Staat.
Reformation statt Revolution oder Revolution von oben statt von unten: In dieser Folgerung waren sich alle deutschen Intellektuellen einig, die mit den bestehenden Verhältnissen haderten und doch keinen gewaltsamen Umsturz wollten. Sie hatten gute Gründe für ihre Haltung. Die Ausgangslagen Deutschlands und Frankreichs waren höchst unterschiedlich. Viele der deutschen Staaten kannten im Unterschied zu Frankreich die Herrschaftsform des Aufgeklärten Absolutismus. Friedrich der Große, der europaweit als Inkarnation dieses Regierungstyps galt, wurde in Frankreich als positiver Kontrast zu Ludwig XVI. betrachtet. Um sich mit einer aufgeklärten Variante von Absolutismus abzufinden, war Frankreichs «dritter Stand» freilich bereits zu entwickelt und zu selbstbewusst. Der eng mit dem hohen katholischen Klerus liierte französische Adel genoss immense Privilegien, übte jedoch sehr viel weniger gesellschaftlich relevante Funktionen aus als der ostelbische Grund- und Militäradel. Ein «deutscher» Entwicklungspfad war in Frankreich folglich so wenig gangbar wie ein «französischer» in den deutschen Staaten und schon gar nicht im protestantischen Preußen.
Es war nicht zufällig ein preußischer Minister, Carl August von Struensee, der 1799 einem Franzosen gegenüber bemerkte: «Die Revolution, die ihr von unten nach oben gemacht habt, wird sich in Preußen langsam von oben nach unten vollziehen . In wenigen Jahren wird es in Preußen keine privilegierte Klasse mehr geben.»[7] Struensee übertrieb: Die Bauernbefreiung, die 1807 im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen stattfand, bedeutete nicht das Ende der adligen Klassenherrschaft. Mit dem Stichwort von der «Revolution von oben» brachte er aber ein Leitthema der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts auf den Begriff. Sowie schon die Rechtsreformen der friderizianischen Zeit Ansätze einer Revolution von oben aufwiesen, so taten es die Stein-Hardenbergschen Reformen zu Beginn des frühen 19. Jahrhunderts mit ihren Kernstücken der kommunalen Selbstverwaltung, der Gewerbefreiheit und der Abschaffung der Leibeigenschaft.
Die Bauernbefreiung setzte jene «industrielle Reservearmee» frei, ohne die die Industrielle Revolution nicht hätte stattfinden können, zu der es in Frankreich keine Entsprechung gibt. Dort mündete die Zerschlagung der feudalen Besitzstrukturen in die Entstehung des Parzellenbauerntums, das Karl Marx 1852 die «zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft» nannte und in der er zurecht ihr konservativstes Element erblickte.[8] So paradox es klingt: Das revolutionäre Frankreich brachte eine Gesellschaft hervor, die in mancher Hinsicht konservativer war als die deutsche, die nach 1789 keine Revolution, sondern nur Reformen erlebt hatte.
1815, nach der endgültigen Niederlage Napoleons, trat der Deutsche Bund, eine vom Kaiserreich Österreich geführte Konföderation von 34 Fürstenstaaten und vier Freien Städten, an die Stelle des «Alten Reiches», des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, das sich 1806 unter dem Druck Napoleons aufgelöst hatte. Das vage und vieldeutige Verfassungsversprechen in Artikel 13 der Bundesakte von 1815 («In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden»), wurde durch die Wiener Schlussakte von 1820 faktisch wieder zurückgenommen, so dass Österreich und Preußen bis 1848 keinen Anlass sahen, sich eine geschriebene Verfassung zu geben und Parlamente wählen zu lassen.
Doch trotz aller staatlichen Repression, trotz Zensur, Bespitzelung und «Demagogenverfolgung» gelang es den Regierungen der Restaurationszeit nach 1815 nicht, alles rückgängig zu machen, was es in Deutschland in der napoleonischen Zeit an gesellschaftlichem Fortschritt, etwa in Sachen Judenemanzipation, gegeben hatte. Im Vormärz, der Zeit zwischen 1830 und 1848, zeigte sich, wie stark der Drang nach Beseitigung des obrigkeitsstaatlichen Drucks nach wie vor oder inzwischen wieder war. Im Anschluss an die französische Julirevolution von 1830 kam es in einigen Staaten des Deutschen...
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