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Es war einer jener Momente, in denen alles stimmt, in denen jeder weiß, dass alles stimmt, in denen sich ein lautloser Jubel ausbreitet, weil man doch gleichzeitig zuhört und nachdenkt und sinnt und weiß, dass man dies alles noch einmal nachlesen, fein säuberlich aufreihen und in seiner schönen Ordnung genießen will.
Es ist von einer Dankesrede bei der Vergabe eines Literaturpreises die Rede, von einer mit der Vervielfältigung der Preise in Mode gekommenen Gattung, deren Muster in Deutschland noch immer der Dank für den Büchnerpreis abgibt, deren schönste Exemplare nicht selten in den Tages- und Wochenzeitungen abgedruckt werden und die überhaupt, ebenso wie die Laudatio und die Preisverleihung als solche, besser ist als ihr Ruf, mischen sich doch hier auf überschaubarer Strecke Kernstücke der selbstreflexiven Poetologievorlesung gerne mit Elementen einer biographischen Konfession. Und wenn es in diesem Prozess noch zusätzlich zündet, weil zwischen dem Namensgeber des Preises und seiner Empfängerin sich unverhoffte Konjunktionen auftun, hintergründige Übereinstimmungen ebenso wie literaturhistorisch beredte Kontraste, dann hat man eine der guten Stunden erwischt, die der emsige Literaturbetrieb eben auch immer wieder hervorbringt, auch wenn er sich am liebsten selbst beschimpft. Nein, wenn man bei einem solchen Moment dabei ist, dann weiß man es auch.
Und solch einen Moment hatte das Publikum der Wilhelm Raabe-Literaturpreisverleihung am 2. November 2013. Marion Poschmann, in ihrer sinnlich fast schon übergenauen, ins Ornamentale drängenden überkonkreten Erzählweise, hat auf den ersten Blick vieles gemeinsam mit dem knorzigen Filigranbeobachter aus Braunschweig, nicht nur in ihrem ausgezeichneten Roman Die Sonnenposition. Sie weiß es und will es auch auf ihre Weise sagen, doch ist ihr ein anderer Braunschweiger dazwischengekommen. Nicht nur bei der Vorbereitung auf ihre Dankesrede, sondern schon viele Jahre vorher, bei ihrem Studium der Literaturwissenschaft in Bonn, ist ihr etwas dazwischengekommen, das so groß ist, dass der Ausdruck ›dazwischen‹ so gar nicht passen will: ein 7 000 Seiten umfassendes monumentales Erzählwerk deutscher Sprache, das einem im Leben dazwischenkommen kann, aber nicht bei der Lektüre. Es ist zu groß dafür in vielfacher Hinsicht. Marion Poschmann jedenfalls war affiziert und fasziniert und nach und nach ergriffen, so dass sie, schon längst in Berlin lebend, das große Werk ihrerseits erneut beherzt ergriff – in der Berliner Leihbibliothek nämlich, oh Wunder!, hätte man es doch ausschließlich in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel vermutet –, und dieses Werk, Die römische Octavia des Herzogs Anton Ulrich zu Braunschweig und Lüneburg, bändeweise nach Hause schleppte und darin … las, ja sicher, aber doch wohl eher wühlte, kreuz und quer und hin und zurück lief und, wie zu vermuten steht, dabei Karteikarten anlegte, Diagramme, Listen und Zeichnungen anfertigte. Das jedenfalls empfahl bereits Gottfried Wilhelm Leibniz in seinen Briefen an ›Eure Durchlaucht‹ – so werden heute leider Autoren nur noch selten angeredet, so durchleuchtet sie auch sein mögen –, den Erzherzog Anton Ulrich, und einige Jahrhunderte später Richard Alewyn in seiner Studie über den Roman des Barock, beides wiederum referiert von Helwig Schmidt-Glintzer, dem Leiter der oben erwähnten Wolfenbüttler Bibliothek, in diesem Band.
Also Die römische Octavia und der Augenblick der literaturbetrieblichen Erleuchtung: Unter dem Vorwand, die ästhetischen Spuren des epocheprägenden norddeutschen Barockherrschers im Werk des heiter misanthropischen Menschenfreundes und norddeutschen Realisten Wilhelm Raabe aufzudecken, beschert uns Marion Poschmann eine kleine Kulturanthropologie der konstitutiven und in der Kunst dann spielerisch aufgegriffenen lustgestützten Ich-Verkennungen in drei Stufen, deren letzte wir selbst darstellen und bespielen mit unserem Effizienz- und Optimierungswahn unter Ausblendung aller Schatten- und Faltenwürfe einerseits und aufdecken und damit sichtbar machen im Modus der Kunst andererseits. Das Individuum bleibt eine Leerstelle, »über die uns nicht zu beruhigen, die offenzuhalten auch heute die Aufgabe der Kunst, der Literatur sein muß«.
So plausibel klang die auffordernde Schlussbemerkung der Dankesrede, dass man gar nicht glauben mochte, soeben wohl zum ersten Mal im Leben – die meisten der Anwesenden zweifellos – von einem der bedeutendsten Werke der deutschen Literatur Genaueres gehört zu haben; schon gar nicht, dass diese verkappte kulturgeschichtliche Inscriptio auch über Wilhelm Raabe, der die schönen Täuschungsmanöver des Herzogs seinerseits aufgegriffen und verarbeitet hat, im Wunnigel beispielsweise, weitergereicht wurde bis in unser junges Säkulum, so dass noch wir Heutigen in diesen Spiegel blicken und erkennen können, dass der täuschende Spiegelblick das Movens der Welt wie der Kunst in unterschiedlicher Gestalt seit vier Jahrhunderten ist. Als Möglichkeit zumindest, die zu Zeiten des Herzogs und eben in den unseren starke, geschichts- und kunstmächtige Realisierungen erfuhr, was bereits der französische Philosoph Gilles Deleuze erkannt hatte. Auf dessen Buch Die Falte. Leibniz und der Barock referieren unabhängig voneinander im vorliegenden Band sowohl Petra Leutner, von der Geschichte der Mode her argumentierend, und Helwig Schmidt-Glintzer als Barock-Philologe. Die Dreisprung-Dreiheit Herzog Anton Ulrich – Wilhelm Raabe – Marion Poschmann macht es möglich. Die mythologisch-karnevaleske Feinstorganisation des Symbolisch-Abstrakten dort im ›barocken Perspektivismus‹, das Konkret-Abstrakte der Genauigkeitsexerzitien der Texturen hier in Marion Poschmanns Die Sonnenposition lassen tatsächlich ein Epochendispositiv sichtbar werden, mit dem bislang noch kaum gearbeitet wird. So viel kann von einem klug gesetzten Punkt, einem Punktum und Momentum der Literatur und ihrem Erscheinen im Betrieb ausgehen.
Doch der überraschenden Anknüpfungen an verborgener und dennoch symptomatischer Stelle nicht genug. Zu den barocken Formerscheinungen wie Vervielfältigungen, Spiegelungen, Täuschungen, Krümmungen, Spreizungen, Dehnungen und Faltungen kommt auch die Kugelform. Bei Marion Poschmann ist von ihr die Rede als depravierte »Vernunftkugel, die nur das Sichtbare gelten läßt, Pathoskugel, die zu schätzen weiß, daß sie immer nur halb zu sehen ist, Unruhekugel, von der die Vergangenheit abfällt wie Staub«. (333) Sie ist halbiert gedacht, sofern sie, von der Sonne beschienen und so durchleuchtet wie ihre Betrachter erleuchtet, ihre dunkle Seite verschweigt. Katrin Hillgruber nun greift den Topos der Unruhe diesmal als Sichtbarmachung des Verborgenen, der dunkeln Hintergründe und untergründigen Dunkelheiten wieder auf, wenn sie Wilhelm Raabes Romane, allen voran seine Unruhigen Gäste, analysiert und sie mit den Begegnungen mit der ›staubigen Vergangenheit‹ in Marion Poschmanns Die Sonnenposition vergleicht. Zivilisatorische und biografische Brachen schälen sich schemenhaft heraus aus dem Scheinglanz der Vernunft, halbe Dunkelheiten, Zwielicht und böse zugerichtetes Gelände, dessen Insistenz in allen Arbeiten Marion Poschmanns Sigrid Löffler in ihrer Laudatio herausarbeitet.
Und ganz krass und historisch real und physisch brutal erscheint dann im Text von Boris Böhm, dem Direktor des Pirnaer ›Schloss Sonnenstein‹, der Kontrast zwischen der hellen Halbkugel des erkenntnisgetrieben immer humaneren Umgangs mit den seelischen Leiden des menschlichen Körpers und dem totalen Rückfall in die Nicht-Sichtbarmachung dieser Leiden in ihrer Extinktion mittels physischer Vernichtung der leidtragenden Menschen selbst. So geschehen am schönen sächsischen Ort mit dem Namen »Sonnenstein«, wo einst der negative Sonnenanbeter Gerichtspräsident Daniel Paul Schreber einsaß, um seine Paranoia in ein Stück psychiatrisch-belletristische Prosa zu verwandeln, die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. In diesen Ort des medizinisch-sozialen Fortschritts kehrte das Grauen ein. Die ›Leerstelle des Ich‹ musste mit Gewalt geschlossen werden, um einem gepanzerten Größen-Ich seinen kurzen betäubenden Auftritt zu ermöglichen, von dem sich auch 70 Jahre später der Ort nur langsam erholt. Er tut dies nun wiederum vorbildlich, indem er eine Werkstätte für Menschen mit Behinderung und einen Gedenkort für die nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen in seinen Mauern birgt. Die ausführlich erzählte Geschichte dieses deutschen Gedächtnisortes schließt an einen Seitenpfad in Marion Poschmanns Roman an, der eben in diesen ›Ostschloss-Osten‹ führt. Strikter und heller kann man einen verschlungenen Roman-Seitenpfad kaum ausleuchten.
Solche weit in die deutsche Geschichte ragenden Überlegungen bis hin zur Frage nach Deutschlands Rolle in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und weltpolitisch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirft die Reflexion über den Zusammenhang zwischen barocker und heutiger Weltsicht auf, wie sie von Marion Poschmann angeregt wird, erzählend und reflektierend, in beiden Modi.
In beiden Modi auch im vorliegenden Band: Einen furios blühenden Pracht-und-Glanz-Spuk fügt Marion Poschmann nun auch noch unserem dicht gewebten, doch vorwiegend schwarz-weiß gestalteten Raabe-Poschmann-Studientext ein. Die rheinländische, nun in Berlin lebende Autorin hat eine kleine Hausmeisterphilosophie der Geranie beigesteuert, die in ihrer übers Serielle und Optisch-Konkrete vermittelten Menschenerkenntnis die so sinnliche wie listenförmige Erzeugung von Personae überhaupt vorführt. Man erinnere sich an die Tapetenkaskade in der...
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