Schweitzer Fachinformationen
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ZWEI
Köln-Ehrenfeld veränderte sich, das war nicht zu übersehen. Vor nicht allzu langer Zeit hatten Immobilienmakler noch einen großen Bogen um den Stadtteil mit »hohem Migrantenanteil« gemacht, jetzt nicht mehr. Ein paar Straßen ließen zwar hier und da immer noch das ehemalige Kleine-Leute-Viertel erkennen, doch die meisten Häuser waren inzwischen saniert worden, einige offenbar kostspielig. Junge Akademikerpaare hatten die alten Anwohner verdrängt, und an die Stelle von türkischen Männerclubs waren Kunstgewerbeläden, Ateliers und Büros aus der Kreativbranche getreten. Sogar Straßencafés hatten an den Ecken aufgemacht und ein paar Kneipen, die sich redlich mühten, hip zu erscheinen.
Kein Zweifel, Ehrenfeld war auf dem Weg nach oben. Nur parken konnte man hier immer noch nicht. Wir brauchten fast eine Viertelstunde, um einen freien Platz zu finden, und gingen den Rest der Strecke zu Fuß.
In der Stammstraße schien das Rennen noch nicht gelaufen zu sein. Dafür gab es hier immer noch zu viele Klingelschilder und zu viele mit Namen, die man erst buchstabieren musste. Aufwendige Sanierungen bildeten die Ausnahme.
Zu ihnen gehörte Igors Haus eindeutig nicht. Niemand hätte den dreistöckigen Bau als architektonisches Juwel bezeichnet. Unmittelbar nach dem Krieg provisorisch hochgezogen, hatte er wider Erwarten bis heute überdauert und war vor zwanzig Jahren spottbillig zu haben gewesen. Seitdem hatte Igor alleine dort gewohnt, ohne deshalb schon übertrieben viel Platz für sich zu beanspruchen. Denn selbst für Ehrenfelder Verhältnisse war das Haus sehr schmal, kaum breiter als drei Meter, und pro Etage gab es nur zwei hintereinanderliegende Zimmer. Zum Haus gehörte ein winziger Hof, dem sich nach hinten noch ein lang gestreckter, flacher Anbau anschloss. Aufgrund eines komplizierten Wegerechts hatte der Anbau eine eigene Zufahrt von der Rückseite und war von Igor als Garage genutzt worden.
In den fünfziger Jahren hatte jemand die Fassade mit grauen Fliesen beklebt, die schon damals trostlos gewirkt haben mussten. Jetzt im Sommer fiel das nicht weiter auf, weil unmittelbar vor dem Haus eine große Robinie stand und mit ihren Blättern die Front vollständig verdeckte.
Harry blieb ungewöhnlich schweigsam, als wir uns dem Haus näherten. Auch mir war nicht nach Reden zumute. Ich überlegte, wann ich das letzte Mal hier gewesen war und ob seitdem tatsächlich schon fünf Jahre vergangen sein konnten. Igor hatte damals irgendwo auf dem Land einen alten Kachelofen aufgetrieben und um Hilfe gebeten. An den Transport nach Köln konnte ich mich noch gut erinnern, denn die »einmalige Gelegenheit« hatte sich als dreihundertfünfzig Kilo schweres Monstrum entpuppt. Und trotz Harrys vollmundiger Erklärung, dass es beim fachmännischen Tragen mehr auf die richtige Technik als auf rohe Muskelkraft ankäme, war es auch für vier Mann noch ein hartes Stück Arbeit gewesen, den Ofen ins Haus zu schleppen. Zumal Harry sich gleich zu Beginn verhoben hatte und uns daraufhin nur noch mit ebenso sachkundigen wie hochwillkommenen Tipps behilflich sein konnte.
Die Haustür aus massivem Holz hätte einen neuen Anstrich vertragen können. Stellenweise war der dunkelrote Lack abgeblättert und ließ ältere Farbschichten durchkommen. Igor schien das nicht gestört zu haben, und vielleicht war die Tür auch deshalb von Graffiti-Sprayern verschont geblieben. Im Briefschlitz steckte die gesammelte Werbung der letzten Woche. Offensichtlich war Ehrenfeld immer noch gut versorgt mit Pizzaboten und Sonnenstudios.
Harry holte Igors Schlüsselbund aus seiner Tasche und probierte einen nach dem anderen. Der dritte passte. Einen Augenblick zögerte Harry, dann öffnete er die Tür und ließ mir den Vortritt. Hinter der Schwelle blieb ich stehen und sah mich um.
Die braun gestrichene Diele nahm die gesamte Hausbreite ein. An der linken Wand hing ein großformatiges Filmplakat aus den Sechzigern in poppigem Orange und Lila: »Modesty Blaise - Die tödliche Lady«. Darunter lehnten zwei Fahrräder, ein drittes war in seine Einzelteile zerlegt. Weiter hinten stand eine altmodische Garderobe aus Eiche, bestückt mit diversen Jacken, Mützen und Kappen von Igor. Dann folgten eine dazu passende Standuhr und eine überlebensgroße Werbefigur von Indiana Jones, die in dem dämmrigen Licht ziemlich echt wirkte. Den Abschluss bildete eine aufgebockte alte Vespa.
An der anderen Wand türmten sich mit Büchern und Zeitschriften gefüllte Bananenkartons fast bis zur Decke. Davor standen, in zwei Reihen und gefährlich wacklig aufeinandergestapelt, ein paar Dutzend zerschrammte Klappsessel aus Schichtholz mit dunkelblauem Plüschbezug, die nach ausrangierten Kinositzen aussahen und es auch waren. Mir fiel wieder ein, dass Igor vor einiger Zeit davon gesprochen hatte, die Ausstattung eines ehemaligen Dorfkinos zu übernehmen, das gesamte, noch vollständig vorhandene Werbematerial und eben auch zweihundertneunzig Sitze. Angeblich ein gutes Geschäft.
In der Mitte der Diele war gerade noch Platz geblieben für einen engen Durchgang nach hinten zur Treppe und zur Tür des angrenzenden Zimmers. Den freien Luftraum hatte Igor deshalb aber nicht auch noch verschwendet. Von der Decke hingen an dünnen Schnüren vier oder fünf große Modelle von Flugzeugen aus dem Ersten Weltkrieg, auf die ich als kleiner Junge bestimmt neidisch gewesen wäre.
Ein Teil des Inventars war seit meinem letzten Besuch ersetzt worden, doch im Grunde hatte sich hier nicht viel verändert. Es war nur noch voller geworden. So voll, dass trotz seiner Höhe von fast zwei Metern der grüne Kachelofen in der hinteren Ecke nicht weiter auffiel.
Igor hatte die unteren beiden Etagen als Lager benutzt, aber ich wusste, dass es im ganzen Haus so aussehen würde, mehr oder weniger. Es war das Haus eines Jägers und Sammlers. Igors Haus. Alles hier trug so unverkennbar seinen Stempel, dass ich fast erwartete, ihn jeden Augenblick in seinem verbeulten Cordsakko die Treppe heruntersteigen zu sehen. Sein Tod kam mir auf einmal sehr unwirklich vor.
Harry drückte langsam die Tür ins Schloss und räusperte sich. Vermutlich fühlte auch er sich wie ein Eindringling. Nicht direkt unwillkommen, das nicht, nur fremd.
»Sieh an, Igor hat aufgeräumt«, sagte er etwas überraschend und schien es durchaus ernst zu meinen. Er zog den Kopf ein, um nicht gegen den Fokker-Dreidecker des legendären Roten Barons zu stoßen, und ging zur Treppe. Ich folgte ihm nach oben.
Genau wie die Diele waren auch die beiden Räume im ersten Stock mit allem möglichen Zeugs vollgestellt oder eher vollgestopft. Das meiste davon hatte irgendetwas mit Film und Kino zu tun. In stabilen Metallregalen und Aktenschränken, zum Teil auch nur in Kartons oder lose auf dem Boden, lagerten hier Unmengen an Material: Bücher und Zeitschriften, DVDs, Filmprogramme, Autogramm- und Aushangfotos und natürlich Plakate. Plakate in allen möglichen Formaten. Es mussten Zehntausende sein, vielleicht mehr. Allein die schiere Masse konnte einen erschlagen.
Der erste Eindruck täuschte. Was nach den Folgen einer unkontrollierten Sammelwut aussah, war im Wesentlichen ein gut sortiertes Geschäftslager. Davon hatte Igor gelebt, vom Handel mit Film-Memorabilia aller Art. Früher war er damit jahrelang über die Flohmärkte getingelt, ein reichlich mühseliges Geschäft. Dann hatte eBay alles verändert. Auf einmal gab es einen gigantischen virtuellen Marktplatz, und seitdem hatte auch Igor nur noch über das Internet verkauft.
Seine Streif- und Jagdzüge hatte er allerdings nie völlig aufgegeben. So standen hier zwischen den unzähligen Kino-Artikeln auch andere Fundstücke herum, die er irgendwo günstig erstanden hatte. Es war ihm immer schwergefallen, bei einem vermeintlichen oder wirklichen Schnäppchen Nein zu sagen. Selbst wenn es sich dabei um einen größeren Posten mandeläugiger Gartenzwerge aus China handelte. Auch dafür fanden sich Liebhaber und Käufer, man brauchte nur etwas Geduld. Und ausreichend Platz.
Längst nicht alles, was Igor hier gehortet hatte, war Plunder. Anscheinend gab es eine wachsende Nachfrage nach alten Filmartikeln. Vor allem nach gut erhaltenen Originaldokumenten, auf die Igor sich spezialisiert hatte. Für Plakate von berühmten Filmklassikern zahlten Sammler zum Teil erstaunliche Preise, über die sogar Harry sich gewundert hatte.
Trotzdem war Igor mit seinen Geschäften nicht reich geworden. Beklagt hatte er sich nie darüber.
Wir stiegen weiter hoch in die zweite Etage. Hier hatte Igor gewohnt, was nicht unbedingt auf den ersten Blick zu erkennen war, zumindest nicht an der Einrichtung. Igors Geschmack stammte eben noch aus einer Zeit, in der Woody Allens »Mach's noch einmal, Sam« als angesagter Film gegolten hatte, und für ihn war er das auch immer geblieben. Wahrscheinlich wohnten nicht viele Sechziger so. Mir gefiel sein Geschmack, aber ich war ja auch in die gleichen Filme gegangen.
Nach den unteren Stockwerken wirkte die Wohnung beinahe geräumig. Die Zwischenwand war herausgerissen worden, um die beiden Zimmer zusammenzulegen. Wegen seiner Proportionen, lang und schmal, erinnerte der dadurch neu entstandene und gar nicht so kleine Raum an einen Eisenbahnwaggon. Nur der Ausblick passte nicht dazu. Igor hatte das vordere Fenster ebenfalls entfernen lassen und einen großen Teil der Außenwand gleich mit. Fast die gesamte Front war nun verglast und öffnete sich der zum Greifen nahen Blätterkrone der Robinie, die vor dem Haus stand. Der Baum ließ nicht allzu viel Licht herein, verdeckte dafür aber vollständig die Sicht auf die gegenüberliegenden Häuser. Wenn man aus dem Fenster schaute, konnte man leicht vergessen, dass man sich immer noch mitten in der Stadt...
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