Schweitzer Fachinformationen
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Erstes Kapitel
Am Anfang war die Liebe
Die Grand Tour, auch "Cavalierstour" genannt, war die Bezeichnung für eine obligatorische Reise der Söhne des Adels. Sie stellte den Abschluss der Erziehung dar, sollte der Bildung des Reisenden den "letzten Schliff" geben und letztlich auch eine Möglichkeit sein, sich einen Überblick zu verschaffen, welche standesgemäßen jungen Damen auf dem europäischen Heiratsmarkt zur Verfügung standen.
Dessen war sich natürlich Großfürst Nikolaj von Russland bewusst, der dritte Sohn von Zar Pawel I. und Zarin Maria Fjodorowna, einer geborenen Prinzessin von Württemberg. Nikolaj zählte achtzehn Jahre, als er zu seiner Grand Tour aufbrach, sein Bruder Michail, der ihn begleiten sollte, war sechzehn.
Die beiden jungen Männer beabsichtigten, bedeutende europäische Baudenkmäler und berühmte Landschaften zu besichtigen. Zudem wollten sie Kultur und Sitten fremder Länder kennenlernen, neue Eindrücke sammeln und ihre Sprachkenntnisse vertiefen. Besonders Nikolaj war darüber hinaus an den Lektionen französischer und italienischer Fechtmeister interessiert, um seine Fähigkeiten im Waffenhandwerk zu vervollkommnen.
Insgesamt gesehen sollte die Reise also das Wissen der zwei Großfürsten erweitern, ihre Manieren verfeinern und zu einer gewissen Weltläufigkeit führen. Dazu gehörte natürlich - selbst wenn darüber nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde - auch die Erlangung einer gewissen Erfahrung in erotischen Dingen. Eine Schauspielerin hier, eine kleine Verkäuferin dort - als Söhne einer der vornehmsten Familien Europas würden die Brüder schnell Anschluss finden und schon ihre illustren Namen die Herzen vieler Bürgermädchen höher schlagen lassen.
Voller Neugier auf die Abenteuer - auch die amourösen -, die sie zu erleben hofften, brachen Nikolaj und Michail also zu ihrer Reise auf. Doch dann kam alles ganz anders.
Die erste Station der Brüder war Berlin. Hier hatten sie einen Pflichtbesuch bei König Friedrich Wilhelm III. zu absolvieren, um den sie ihr kaiserlicher Bruder, Zar Alexander I., gebeten hatte. Und die Großfürsten kannten auch den Grund für diese Bitte: Zar Alexander, der mit dem preußischen König befreundet und der vor vier Jahren verstorbenen Königin Luise sehr zugetan gewesen war, wollte die Beziehung zwischen Russland und Preußen gern weiter vertiefen.
"Du musst dich ja nicht sofort entscheiden", hatte Alexander zu Nikolaj gesagt, "aber schau sie dir wenigstens an, die schöne Prinzessin Charlotte. Eine Heirat zwischen euch beiden wäre perfekt - für Russland und für Preußen."
Nikolaj hatte zu diesem Ansinnen geschwiegen. Als drittgeborener Sohn des verstorbenen Zaren Pawel I. war es mehr als unwahrscheinlich, dass er einmal die Thronfolge antreten musste. Daher glaubte er, das Recht zu haben, seine Zukünftige selbst auswählen zu können und sich nicht auf eine arrangierte Ehe einlassen zu müssen. Dennoch konnte er die Bitte seines um neunzehn Jahre älteren Bruders, der immerhin auch sein Zar war und der die erheblichen Reisekosten dieser Cavalierstour aus seiner Privatschatulle zahlte, natürlich schlecht abschlagen.
In Berlin wurden Nikolaj und Michail auf das Herzlichste willkommen geheißen und überbrachten ihrerseits artig die Grüße ihres Bruders, des Zaren. Man bat die beiden Großfürsten zum Tee, einem Getränk, das nur vier Jahrzehnte zuvor von Friedrich dem Großen verboten worden und nun in Mode gekommen war. In der Hauptsache drehte sich das Gespräch bei Tisch um den bevorstehenden Kongress in Wien, auf dem die europäischen Fürstenhäuser die Grenzen der politischen Landkarte Europas - von Napoleon Bonaparte so gründlich durcheinander gewirbelt - neu festlegen wollten.
Auch Prinzessin Charlotte von Preußen nahm an der Teerunde teil, war allerdings nur schweigende Beobachterin. Unauffällig musterte sie die Brüder, v. a. den älteren, denn natürlich wusste auch sie, dass der russische Zar und ihre Eltern eine Verbindung zwischen Nikolaj und ihr für wünschenswert hielten. Verständlich, dass Charlotte seiner Ankunft mit Spannung entgegengesehen hatte.
Und nun saß er ihr gegenüber, ihr möglicher Bräutigam in spe, war plötzlich eine konkrete Erscheinung aus Fleisch und Blut, und zwar eine, die ihr nie gekanntes Herzklopfen verursachte. Auf den ersten Blick war Charlotte von Nikolaj hingerissen. Sein Ruf, der hübscheste Prinz Europas zu sein, war ihm zwar vorausgeeilt, aber nun konnte sie selbst feststellen, dass es sich dabei um keine Schmeichelei handelte. Ohne Zweifel - groß, schlank, blond, mit leuchtenden, blaugrauen Augen - glich er einem wahrhaftigen Märchenprinzen.
Nikolaj war von der Preußenprinzessin überaus beeindruckt, wenn er es auch in diesen Tagen in Berlin noch nicht so recht wahrhaben wollte. Vor ihm lag seine Grand Tour, eine Reise, auf die er sich sehr gefreut hatte und die er nun auf jeden Fall genießen wollte. Da konnte er sich doch nicht mit einer plötzlich aufflammenden Schwärmerei belasten!
Seine Gefühle machten ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung. Die Sehenswürdigkeiten Roms, die grandiose Schönheit der Alpen, das charmant lockende Lächeln eines Pariser Blumenmädchens - das alles ließ Nikolaj völlig kalt. Vor seinem geistigen Auge sah er nur noch Charlotte. Sie ging ihm nicht mehr aus dem Sinn, und die Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit ihr wuchs mit jedem Tag, den er fern von ihr weilte.
Schließlich traf der junge Großfürst die für ihn einzig sinnvolle Entscheidung: Er brach seine Reise ab und fuhr zurück nach Berlin. Die enttäuschten Proteste Michails, der noch zu jung war, um die Reise allein fortsetzen zu können, und der ihn natürlich begleiten musste, nahm Nikolaj kaum zur Kenntnis.
In Berlin empfing man die beiden Großfürsten erneut mit offenen Armen und lud sie herzlich ein, eine Weile zu bleiben. So gingen die Brüder mit König Friedrich Wilhelm III. auf die Pirsch, ließen sich die Stadt vom Kronprinzen - ebenfalls ein Friedrich Wilhelm - zeigen und waren auch stets mit von der Partie, wenn es galt, einen Ball oder ein Picknick zu veranstalten.
Während dieser Wochen lernten Nikolaj und Charlotte einander besser kennen, und die große Sympathie, die beide vom ersten Augenblick an füreinander empfanden, vertiefte sich und wurde immer inniger.
Als es Zeit wurde, nach St. Petersburg zurückzukehren, bat Nikolaj seinen königlichen Gastgeber, kurz vor der Abreise, um ein Gespräch unter vier Augen - und um die Hand seiner Tochter.
Friedrich Wilhelm III. war hoch erfreut und gern bereit, dem Antrag des Großfürsten stattzugeben. Das letzte Wort sollte jedoch Charlotte haben.
Sogleich machte sich Nikolaj auf die Suche nach seiner Angebeteten, die er schließlich im Schlosspark entdeckte. Sie stand dort an einen Baum gelehnt, hatte den Blick zu Boden gerichtet und wirkte traurig und niedergeschlagen. Als sie seinen Schritt hörte, wandte sie sich um und sah ihm traurig entgegen.
"Ist alles bereit für Ihre Abreise morgen früh, Großfürst?"
Es war offensichtlich, dass Charlotte unter der bevorstehenden Trennung litt, und auch Nikolaj zerriss es fast das Herz bei dem Gedanken, der geliebten Frau für Monate Adieu sagen zu müssen. Er holte tief Luft.
"Charlotte, ich möchte Ihnen gerne eine Frage stellen ..."
Der Hochzeitstermin wurde für den 13. Juli 1817 festgesetzt, Charlottes 19. Geburtstag. Einen Monat zuvor erreichte sie, in Begleitung ihres Bruders Wilhelm, St. Petersburg. Bevor sie mit ihrem Nikolaj vor den Altar treten konnte, musste die evangelische Prinzessin, so verlangte es das russische Recht, zum orthodoxen Glauben übertreten. Damit verbunden war auch eine Namensänderung. Und so war es schließlich nicht Prinzessin Charlotte von Preußen, die dem jüngeren Bruder des Zaren ihr Jawort in der Kasaner Kathedrale am Newski-Prospekt gab, sondern Großfürstin Alexandra Fjodorowna.
Am Hochzeitstag regnete es. Doch als das Brautpaar, unter dem Jubel des Volkes, das Gotteshaus verließ, schien sogar Petrus ein Einsehen zu haben. Der Himmel riss auf, und die ersten Sonnenstrahlen vergoldeten die Kuppel der Kathedrale, die erst wenige Jahre zuvor im Stil des römischen Petersdoms fertiggestellt worden war.
Für einen Augenblick waren die Menschen in den Straßen ganz still, dann ging ein andächtiges Raunen durch die Menge: Es konnte gar nicht anders sein - diese Ehe war vom Himmel gesegnet.
Nach den prunkvollen Hochzeitsfeierlichkeiten bezog das glückliche junge Paar Schloss Peterhof, direkt am Finnischen Meerbusen gelegen. In dem großen, aber dennoch recht schlichten Palast führten Nikolaj und Alexandra für Romanow-Verhältnisse ein eher zurückgezogenes und bescheidenes Leben.
Bereits wenige Wochen nach der Hochzeit stellten die Ärzte bei Alexandra eine Schwangerschaft fest. Am 29. April 1818 schenkte sie einem gesunden Knaben das Leben, der auf den Namen "Alexander" getauft, im Familienkreis aber nur "Sascha" genannt wurde. Das zweite Kind war ein Mädchen. Es wurde ein gutes Jahr später geboren, erhielt den Namen "Maria" und den Kosenamen "Mary". Wiederum ein Jahr später brachte Großfürstin Alexandra eine Totgeburt zur Welt. Sie litt sehr unter dem Verlust und war nahe daran, schwermütig zu werden, doch die Liebe Nikolajs, seine Fürsorge und seine Aufmerksamkeit ließen sie schließlich über den Tod des Kindes hinwegkommen.
Am 11. September 1822 schenkte...
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