Schweitzer Fachinformationen
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Als kleiner Junge war Albert Gondiwindi am Fluss entlang bis Prosperous gelaufen, mit staunenden Augen, nackt, von dem Segeltuchdach in Tent Town hin zum Blech der Mission, zusammen mit seiner Mutter und seinem Schwesterchen in ihrem Bauch. Albert erinnerte sich oft daran, wie sie wanderten beziehungsweise marschierten; da waren berittene Polizisten, die ihnen den Weg über den roten Fluss wiesen, der von Teebäumen und anderen Dingen verfärbt war. Viele Jahre später, an seinem Todestag, fragte sich Albert erneut, wie es für die Alten dort am Murrumby gewesen sein musste, als er noch Wasser führte, in einer Zeit, als die Luft so sauber war wie vor der Erfindung der Wörter sauber und schmutzig. Der Fluss war damals bis in eine Tiefe von sechs Metern klar gewesen, die Erde summte ihre eigene ehrfurchtsvolle Melodie, tagein, tagaus bis zu einem bestimmten Tag. Wie schnell sich Dinge ändern, dachte er. In seinen letzten Stunden saß Albert da und schaute hinaus, genauso, wie bald die hinterbliebenen Gondiwindi zusammenkommen und ihre Blicke in die Ferne richten würden. Vor ihm auf dem Klapptisch lag das fast fertige Wörterbuch, hinter dem Tisch die ganze Welt. Plötzlich spürte er vom Murrumby eine Sturmbö herüberwehen und schlug reflexartig mit der Hand auf den Papierstoß, um die Wörter zu schützen. In der Entfernung hätte er schwören können, eine Gruppe Brolgakraniche fliegen zu sehen, weiter weg einen Schwarm Heuschrecken, und er sah, wie der Himmel seine Farbe veränderte; unterdessen flatterten gegen seinen Willen die Papierbögen. Er schloss die Augen und fragte sich, ob er im Begriff war, sich an einen anderen Ort zu begeben, und dann, wie durch den Wind angespornt, von den Ahnen angetrieben, zog er die Hand zurück und blickte in den Himmel hinauf, um zuzuschauen, wie die Blätter herumwirbelten und fortwehten und schließlich in den Lüften verschwanden.
Sie legte auf. Poppy Albert war tot. So weit weg von dort, wo Jungs lernten, Kaninchen zu töten, und Mädchen, mit der Trauer zu leben. Weit weg von da, wo die Menschen schuldig geboren wurden, es aber nicht zugeben konnten. Wo sich ganze Lebensjahre von ihr verflüchtigt hatten. Tage, mit undankbaren Tätigkeiten zugebracht oder unter einer Decke vergraben, um sich vor ganzen Jahresabschnitten zu drücken. Diese zehn Jahre hatten sie älter werden lassen wie eine Münze, aller Glanz war dahin. An diesem Ort auf der anderen Seite der Welt war sie, bevor das Telefon klingelte, aufgewacht, hatte sich Kaffee gemacht und ein Glas mit Aspirin. Nicht nur saß sie, August, wie jeden Morgen zwischen zwei Zuständen fest, dem Schlaf und dem Zu-sich-Kommen; gerade an diesem Morgen war sie gefangen an der Schwelle vom Jünger- zum Ältersein. Es stand ihr bevor, aus dem endlosen Abschnitt ihres dritten Lebensjahrzehnts zu treten, ohne dass sie etwas vorweisen konnte.
Als sie den Anruf mit der eiligen Meldung entgegennahm, spürte sie, wie etwas Dunkles und Dreidimensionales aus ihrem Körper fiel, etwas so Massives wie ein Stück ihrer selbst. Mit einem Mal war sie weniger geworden. Ihr war bewusst, dass sie zuvor genauso empfunden hatte, obwohl sie keine Tränen hatte kommen spüren, die das Gesicht verbrennen und die Augen verschleiern. Vielmehr fühlte sich ihr Gesicht bei Berührung kalt an, der Puls war verlangsamt, die Augen trocken, und ihre Arme, mit Reibeisenhaut und dünn wie Reisig, fingen an, ein Feuer zu machen. Sie nahm die Zeitung aus der Briefablage, holte die Holzkiste und kniete sich in die Ecke der Gemeinschaftsküche. Sie breitete die Zeitung aus, glättete die Seiten mit der Faust und nahm die Axt in die eine Hand und das Zypressenholz in die andere. In der Zeitung war ein kleines Foto eines Nashorns abgedruckt. Über dem Bild stand in großer Blockschrift: AUF IMMER VERSCHWUNDEN - SPITZMAULNASHORN AUSGESTORBEN. Ein Tier zack! Weg!
Sie hatte im Mund den Geschmack dessen, was sie sich unter Nashornhaut vorstellte, trocken, warm, dicht, Muskel und Staub. Niemandem hatte sie anvertraut, woran sich zu erinnern sie nicht über sich bringen konnte, und auch nicht, dass sie Dinge stattdessen schmecken und riechen konnte, die man eigentlich nicht schmecken und riechen konnte.
Mit einem Stapel Lehrbücher auf dem Schoß hatte eine Bekannte, die an der Abendschule einen Kurs in Sozialarbeit besuchte und die von Augusts ständigem Hunger wusste, aber nicht, was es hieß, ein schreckliches Erbe zu durchleben, sie einmal ganz unschuldig nach ihrer Schulzeit gefragt. August hatte sich darauf eingelassen und ihr berichtet, dass ihr nur beim Lunch bewusst wurde, dass sie arm war. Berichtete ihr, als sie später bei den Großeltern gelebt habe, sei das Essen immer gut gewesen, es waren immer die Reste des Vorabends. Sie sei die einzige Schülerin gewesen, die die Mikrowelle im Lehrerzimmer verwendete. Und zuvor? Zuvor hatte sie versucht, für sich zu behalten, dass das Mittagessen, das ihr die Mutter mitgegeben hatte, demütigend war, sie sagte nur, es sei abgefahren gewesen. Abgefahren? August kreiste mit dem Finger neben dem Ohr. Ihre Bekannte nickte, sie hatte verstanden und schloss die Augen, so wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt hatte - eine eingeübte Aufforderung zum Weitersprechen. Auch August hatte die Augen geschlossen und ließ ihre Erinnerungen Revue passieren.
An einem Tag ein Marmeladensandwich, die Rinde abgeschnitten, am nächsten Tag etwas, worüber sich die Kinder gern lustig machten - eine Packung Lebkuchen im Juli, Ostergebäck im Oktober. Manchmal ein Brötchen bestrichen mit nichts Halbem und nichts Ganzem, beispielsweise Ketchup. Und ich erinnere mich daran, wie ich einige Male die Brotdose öffnete und dass darin nur Spiel-Essen lag, ein kleines Lammkotelett aus Plastik, ein Plastikapfel ohne Stiel. Das war der Humor meiner Mutter.
August hatte den Humor nicht verstanden, als sie ein kleines Mädchen war, aber sie hatte damals darüber gelacht. Sie lachten beide, bis etwas in August kaputtging und sie tatsächlich weinte, zum letzten Mal, doch sie gab vor, es seien Lachtränen. Danach gingen sie in den Pub. Mehr erzählte August ihrer Bekannten nicht, nicht, wie sie von der Sonne getauft worden war, und auch nicht, dass sie - egal wie weit, weit weg von ihrem Land, von ihrem Zuhause sie war - immer noch nicht den Geruch und Geschmack von Staub und Diesel, Fleisch und schlammigem Wasser, der sich in ihrer grauen Gehirnhälfte eingenistet hatte, loswerden konnte. Dass das Schlimmste, was je geschehen konnte, bereits geschehen war. Und damit Schluss.
Das Nashorn in der Zeitung machte August bewusst, dass sie nie im Zoo gewesen war, nie ein Nashorn in natura gesehen hatte - es hätte ebenso gut ein Dinosaurier sein können. Die Zeitung listete noch andere in der jüngsten Zeit ausgerottete Lebewesen auf. Einfach so, dachte sie, zack! Weg! Und was Poppy betraf: Ihr Großvater Albert Gondiwindi existierte nicht mehr. Nie wieder würde Albert Gondiwindi über die Erde wandeln, und auch kein Spitzmaulnashorn. Sie legte einen Arm voll Hölzer in den Eisenofen, so dicht davor, dass sich ihr Gesicht von den ersten gierigen Flammen rötete. Poppy Albert pflegte zu sagen, die Böden müssten mehr brennen, ein gleichzeitig ungezügeltes und kontrolliertes Feuer, ein Widerspruch in sich. Aber er sprach von einem anderen Land, nicht von dem, das August seit zehn Jahren kannte - den rund ums Jahr feuchten Grasfluren, den fremden Wäldern mit ihren Ulmen, Eschen, Sykomoren, Haselnüssen und Silberweiden, die in stille Kanäle tunkten. Wo sich kleinere Vögel in gedämpften Farben zusammenscharten und wo niemals Feuer züngelten. Wo der Himmel in die Spiegelfläche eines steinernen Brunnens hineinpasste, angefüllt mit Regenwasser. Wo niedrige Morgenwolken Taschenspielertricks ausführten und der Tag es nie ganz schaffte, vor der Nacht da zu sein.
Sie wusste, dass sie einst mit dem geliebten Land vertraut gewesen war, wo die Sonne mit der offenen Hand auf die dürre Erde einschlug, sie wusste auch, dass sie für das Begräbnis zurückkehren würde. Zurückkehren voller Scham darüber, sich davongemacht zu haben, an den heruntergezogenen Mundwinkeln der anderen würde sie deren Enttäuschung bemerken, zurückkehren und versuchen, alle Dinge zu finden, die sie zigtausende Kilometer entfernt nicht hatte finden können.
August fand eine Vertretung für ihre Arbeit als Tellerwäscherin, packte die einzige Tasche, die sie besaß, und ehe sie die Maschine bestieg, schaltete sie ihr Telefon ganz aus. Während des Fluges behielt sie auf dem Bildschirm an der Kopflehne das Navigationssystem im Auge, sah die Zahlen erst ansteigen und dann stetig bleiben, das Flugzeug über das Trickfilmmeer gleiten. Am anderen Ende, nachdem es eine bestimmte Höhe erreicht hatte, kreuzte es die Zeitachsen, sank auf neue Koordinaten, sie hoffte, es reichte, um diese Reise auszuradieren. Die Tatsachen zu löschen, die Bestattungsriten, die ausgeführt werden mussten, zu streichen, alle Löschungen auszulöschen und ebenso die auseinandergebrochene Familie, die sie einmal waren, so wie seit einem Jahrhundert: gottlos, in Sozialwohnungen und überall im Land verstreut, und dann fragte sich August, ob es genug Erinnern gab, das man löschen konnte. Während des Fluges träumte sie von Poppy Albert. In dem Traum war er gesichtslos, doch sie wusste, dass er es war. Sie waren mitten in einer Unterhaltung angelangt; wie sie dorthin - auf das Feld - gekommen waren, wusste sie nicht. Er sagte ihr, dass viel dafür sprach, Geschichten zu haben, die eigene Geschichte,...
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