3.
In den nächsten beiden Tagen verlasse ich mein Zimmer nicht. Genau genommen tue ich gar nichts. Ich höre auf dem MP3-Player Songs von B.U., grüble vor mich hin, ob meine Entscheidung, wieder zurückzukommen, wirklich richtig war, ignoriere das Klopfen meiner Eltern, weigere mich, etwas zu essen, und finde es nicht einmal der Mühe wert, zu duschen.
Am Donnerstag klopft es an meiner Zimmertür, und es ist nicht das vorsichtige Klopfen meines Vaters, sondern mehr ein Hämmern.
»Lexi? Du öffnest jetzt augenblicklich diese Tür! Es reicht nämlich! Haben wir uns verstanden?« Ich erkenne die Stimme und weiß, dass es sinnlos ist, mich weiter tot zu stellen. Vor meiner Zimmertür steht meine Freundin Sylvie, und sie ist sauer.
»Sag mal, hast du jetzt völlig den Verstand verloren?«, faucht sie mich an, als ich die Tür öffne. »Wir waren am Montagabend verabredet, und du versetzt mich so einfach und bist tagelang nicht erreichbar. Und deine Eltern .« Dann stockt sie und sieht mich von oben bis unten an. »Wie siehst du denn aus?« Ich kann ihr diese Frage nicht beantworten, denn ich gehe dem Badezimmerspiegel seit Tagen aus dem Weg. Stattdessen lasse ich sie in der Tür stehen und verschwinde wieder ins Bett. Sylvie schließt die Tür hinter sich und baut sich vor meinem Bett auf.
»Ich weiß ganz genau, was hier los ist. Du hast den Ich-hab-den-Mann-meines-Lebens-verlassen-und-fühl-mich-hier-einsam-und-verlassen-Blues. Vor ein paar Wochen hab ich dich gefragt, ob du zwei Trennungen hintereinander überstehst, und du hast was gefaselt von Dummheiten, die man bereut, wenn man sie nicht begeht. Und jetzt finde ich hier ein heulendes Häufchen Elend?« Sie macht eine kurze Pause. Als ich nicht reagiere, holt sie tief Luft und schimpft weiter: »Jetzt hörst du mir mal gut zu! Es war deine Entscheidung, die Beziehung mit Niko einzugehen, obwohl sie ein Ablaufdatum hatte, es war deine Entscheidung, das Jobangebot deiner Schwester abzulehnen und wieder zurückzukommen. Es war deine Entscheidung, nicht bei Niko zu bleiben! Du wolltest - ich zitiere - dein Ding durchziehen und neu starten!« Kraftlos sehe ich auf.
»Und wenn ich das nicht kann? Ich hab grade keine Ahnung, was ich hier eigentlich mache.« Sylvie mustert mich stumm.
»Ich erzähl dir jetzt mal, wie ich die Sache sehe! Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder packst du die paar Sachen, die du hier aus deinen Taschen geräumt hast, wieder ein, lässt das Studium sausen und fährst postwendend wieder zu deiner Schwester an die Ostsee. Dort bleibst du dann Küchenhilfe und arrangierst dich mit dem Gedanken, dass du dein ganzes Leben nur nach jemand anderem gerichtet hast. Das ist keine Entscheidung, für die du dich grundsätzlich schämen müsstest, viele Frauen haben das im Laufe der Geschichte gemacht.«
Jetzt hat sie meine ganze Aufmerksamkeit, denn das klingt so gar nicht nach meiner Freundin.
»Oder aber, du schwingst jetzt deinen Hintern aus dem Bett und tust auch das, was du dir vorgenommen hast, nämlich dein Leben mal ganz allein auf die Reihe bekommen und herausfinden, wer du wirklich bist. Es hat niemand behauptet, dass das der einfachere Weg ist, und auch nicht, dass es ohne Schmerzen ablaufen wird. Aber ich würde dir trotzdem dringend dazu raten, sonst hat die Aktion, dass du Niko und deine Schwester zurückgelassen hast, nämlich ihren Sinn verloren.«
Das ist die Sylvie, die ich kenne.
»Egal wie du dich entscheidest, du kommst jetzt aus diesem verdammten Bett raus und gehst duschen! Du siehst entsetzlich aus, und - jetzt mal ganz ehrlich - du stinkst«, fügt sie dann mit angewidertem Blick hinzu. Ich gebe mich geschlagen, quäle mich aus dem Bett und trolle mich wortlos ins Badezimmer.
»Ich warte!«, ruft Sylvie mir nach.
Ohne nach links oder rechts zu schauen, steige ich sofort unter die Dusche und schamponiere und seife mich ein. Der warme Wasserstrahl fühlt sich gut an. Auch das Zähneputzen erledige ich gleich. In ein Badetuch gewickelt, stehe ich kurz darauf vor meinem Spiegel und riskiere einen Blick. Gut, ich bin sauber und wieder wohlriechend, aber meinem Gesicht sieht man deutlich an, dass ich mich sehr habe gehen lassen in den letzten Tagen. Mit geföhntem Haar komme ich schließlich in ein Schlafzimmer zurück, in dem Sylvie gezaubert hat. Meine Bettwäsche ist gewechselt, das Fenster steht sperrangelweit offen und lässt wieder Sauerstoff in den Raum, mein Handy, dessen Akku sich bereits gestern mit einem letzten Piep verabschiedet hat, lädt fleißig, und auf dem Sessel hängen frische Klamotten.
»Schon besser«, nickt meine Freundin. »Letzte Nahrungsaufnahme?«
Ich überlege.
»Schon verstanden. Zieh dich an, wir gehen was essen, und dann sagst du mir, wie du dich entschieden hast.«
Entgeistert sehe ich sie an.
»Was denn? Du hast drei Tage in diesem miefenden Raum verbracht. Es wird Zeit, die Dinge etwas voranzutreiben«, beschließt sie und scheucht mich zu den Klamotten.
Wenig später sitzen wir in einem unserer früheren Lieblingsrestaurants, und ich schnuppere an meinen Nudeln mit Tomatensauce. Hungrig beginne ich zu essen. Nicht schlecht, denke ich. Aber mit ein wenig mehr Oregano . Lexi, was soll denn das? Von diesen Nudeln hast du dich lange Zeit praktisch ausschließlich ernährt, daran gibt es nun wirklich nichts zu meckern. Sylvie sieht mich erwartungsvoll an.
»Also? Du siehst jetzt wieder einigermaßen menschlich aus und hast auch etwas im Magen. Wie soll es jetzt weitergehen mit dir?« Dass ausgerechnet Sylvie vorhin mit dem Vorschlag ankam, einfach umzudrehen und zu Niko zurückzufahren, hat mich nachdenklich gestimmt.
»Du hast dich nach deinem Urlaub bei Lilly gefragt, ob Georg nicht doch der Richtige gewesen wäre, stimmt's?«, frage ich sie mit durchdringendem Blick. Und dann passiert es! Meine superrationale Freundin, die sogar ihren Aufenthalt abgekürzt hat, damit ihre Urlaubsliebe ihr emotional nicht zu
nahe kommen kann, senkt jetzt betreten den Blick.
»Sylvie, ich hatte ja keine Ahnung .«, meine ich bedauernd.
»Lassen wir das«, wischt sie das Thema vom Tisch. »Ich bin hier, wichtiger ist die Frage, ob du auch hierbleibst.« Ich nicke. Ja, es geht mir im Moment wirklich mies, aber diese Entscheidung habe ich bereits getroffen. Die Gedanken darum haben mir viele schlaflose Nächte beschert, aber letztlich war ich mir sicher, und darum sollte ich jetzt auch
dahinterstehen.
»Ich hab gewusst, dass ich hier keinen Halt haben werde und mein Leben mal ganz allein auf die Reihe kriegen muss, aber als es jetzt so weit war, hat mich das gelähmt«, gebe ich zu. »Doch große Schluchten überwindet man nicht mit kleinen Schritten, man muss schon springen.« Sylvie umarmt mich und versenkt dabei fast ihren Schal in meiner Tomatensauce.
»Du bist nicht allein«, murmelt sie in mein Haar.
»Du auch nicht«, nuschle ich zurück.
Als ich wieder in mein Zimmer komme, bin ich im Besitz eines nagelneuen Terminplaners, den ich mit Sylvie noch im Einkaufszentrum besorgt habe, und voller Tatendrang. Es wird Zeit, mein Leben wieder etwas mehr zu planen, nicht einfach alles passieren zu lassen und darauf zu reagieren. Mein Handy zeigt an, dass es geladen ist, und ich sehe, dass Michael versucht hat, mich zu erreichen. Kurz entschlossen rufe ich ihn an und verabrede mich am nächsten Abend mit ihm in einem Café.
Als ich pünktlich dort ankomme, habe ich ein mulmiges Gefühl im Bauch. Sicher, ich kenne Michael schon sehr lange und hatte auch schon unzählige Verabredungen mit ihm, aber eben immer zu viert - er und Christine mit mir und Robert. Ihn jetzt allein zu treffen und zu wissen, dass die anderen beiden nun ein Paar sind, ist eigenartig. Auch Michael scheint etwas unsicher, als er mich mit Wangenküsschen begrüßt.
»Alexandra, schön, dass wir es geschafft haben«, meint er steif und überreicht mir eine Visitenkarte. Was soll das denn? Ich kenn ihn ja wohl bitte eindeutig zu gut, als dass er sich mir noch vorstellen müsste. Perplex sehe ich ihn an. Verwirrt wandert sein Blick zwischen meinen Augen und der Karte hin und her.
»Die Kontaktdaten meiner Immobilienmaklerin - deswegen wolltest du dich doch mit mir treffen, oder?«, meint er dann entschuldigend. Ja, natürlich, das hatten wir ja besprochen, als ich noch bei Lilly war! Ich nicke rasch und stecke die Karte in meine Tasche.
»Wie geht es dir?«, fragt er vorsichtig. »Was macht die Uni?«
»Die Uni ist gerade mein geringstes Problem«, erwidere ich seufzend. Michael nickt.
»Ich weiß, was du meinst. Mir geht es nach der Trennung von Christine nicht anders. Man hängt sehr in der Luft. Es gibt so viele Dinge zu regeln und zu tun, aber man sieht nur diesen angehäuften Berg, und schon ist man wie eingefroren. Keine Ahnung, wo man anfangen soll, was gerade das Wichtigste ist und was noch warten kann. Du hast durch den Aufenthalt bei deiner Schwester Zeit gewonnen, aber jetzt trifft dich alles, was hier gewartet hat, auf einen Schlag«, beschreibt er meine Lage passend.
Als ich das Mitgefühl in...