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Kennt ihr das? Man denkt: Gott, heute ist ein total beschissener Tag! Doch der Tag läuft weiter und dann passieren erst die Dinge, die den Tag zu einem wirklich beschissenen Tag machen. Heute ist einer dieser Tage in meinem Leben. Einer, bei dem der Morgen noch ganz gut war und ich an nichts Böses dachte. Nicht so ein Morgen wie vor einer wichtigen Prüfung oder einer Familienfeier, an dem man ja von vornherein weiß, dass noch jede Menge schiefgehen kann. Nein, es ist ein vollkommen harmloser Freitagmorgen im Leben der Alexandra Charlotte Cecilia Manninger, BWL-Studentin, fünfundzwanzig Jahre, eins dreiundsiebzig groß, Gewicht - nein, so gut kennen wir uns nun wirklich noch nicht! Wo war ich? Ach ja - also ein ganz normaler Morgen in meinem Leben.
Ich werde wie immer um fünf Uhr dreißig von der grellen Stimme des Radiomoderators geweckt, die jedes Mal aufs Neue Aggressionen in mir schürt. Nein, das ist nicht meine übliche Uhrzeit um aufzustehen, nur um zum ersten Mal aufzuwachen. Die erste Weckzeit, die sich in unserem ultramodernen Designerteil einstellen lässt, ist eigentlich nur für meinen Freund Robert gedacht, aber ich denke nicht, dass irgendjemand es schafft, beim Tonfall dieses unsäglichen Radiomoderators weiterzuschlafen. Ich frage mich ja immer wieder, ob die Menschen, die solche Stimmwunder einstellen, ihren Mitarbeitern irgendwann auch mal zuhören, denn diese Person ist eine absolute Fehlbesetzung.
Aber egal, ich werde wie gesagt um diese Zeit zum ersten Mal wach. Nachdem Robert wie immer auf den Snoozeknopf drückt - noch im Tiefschlaf, wie ich mir sicher bin -, robbe ich auf seine Seite und kuschle mich an ihn. Diese zehn Minuten Kuschelzeit am frühen Morgen brauchen wir. Durch meine Kuschelattacke wird auch mein Schatz langsam wach und nimmt mich in den Arm. Zehn Minuten später ertönt wieder die Stimme dieses Unmenschen aus dem Wecker und Robert gibt auf und schwingt sich aus dem Bett. Natürlich bin auch ich jetzt wieder wach, denke aber immer noch nicht ans Aufstehen. Ich stelle also das Hightechding auf sechs Uhr dreißig und winke meinem Freund noch einmal zu, während er das Schlafzimmer verlässt und ich mich wohlig in die Kissen kuschle. Zu schnelles und zu frühes Aufstehen sind absolut nichts für mich.
Falls Sie übrigens nun annehmen, dass Robert viel früher zur Arbeit muss als ich - dem ist nicht so. Wir verlassen die Wohnung beide um halb acht. Allerdings braucht mein Schatz im Badezimmer fast eine Stunde und dann muss ein ausgiebiges Frühstück auch noch seinen Platz im morgendlichen Terminplan finden, sonst ist er unausstehlich. Ich hingegen begnüge mich mit einer Tasse Kaffee mit zwei Löffel Zucker und Milch je nach Müdigkeitsgrad. Also ist von hellem Milchkaffee bis zu schwarzem Kaffee alles möglich.
Ich stehe also kurz nach halb sieben auf und öffne erst mal den Kleiderschrank. Die Auswahl der Klamotten ist bei mir absolut verfassungsabhängig und kann schon ein paar Minuten dauern. Schließlich muss ich erst mal überlegen, was den ganzen Tag so ansteht. Wenn Uni auf dem Plan steht, was in letzter Zeit nicht sehr häufig der Fall war, dann muss es bequem sein und ausstrahlen: Ich bin jung, selbstsicher und intelligent und ich stehe hier kurz vor dem Abschluss. Was allerdings schon länger der Fall ist, denn das mit dem Abschluss schiebe ich ein wenig vor mir her. Wenn ich ins Büro gehe, wie fast jeden Morgen, muss ich zusätzlich noch überlegen, ob ein Meeting angesetzt ist, bei dem ich Kompetenz und Unersetzlichkeit ausstrahlen muss, oder ob es ein normaler Büroalltag unter Kollegen wird, an dem es ruhig etwas Legeres sein kann.
Wenn diese Frage geklärt ist, mache ich mich auf den Weg ins Bad, wo ich unter die Dusche springe und die restliche Morgentoilette erledige. Dann ziehe ich mich an, schminke mich und stecke mein schulterlanges braunes Haar hoch. Ich stecke es eigentlich immer hoch, einerseits weil es praktischer ist und andererseits weil Robert immer meint, da sieht man mehr von meinem Gesicht.
Anschließend schleppe ich mich mit letzter Kraft zu meiner Kaffeemaschine. Mein Koffeinschub am Morgen ist einfach lebensnotwendig. Heute ist der Kaffee mittelbraun und ich habe mich für herkömmliche Bürokleidung entschieden. Keine Meetings und auch sonst keine Besonderheiten.
Ich setze mich zu meinem Schatz an den reich gedeckten Frühstückstisch und starre ihn wie jeden Morgen voller Unverständnis an, da es für mich nicht nachvollziehbar ist, dass er um diese Zeit so viel essen kann. Mir selbst wird schon beim Gedanken an feste Nahrung vor neun Uhr morgens speiübel.
Wir gehen wie jeden Morgen unsere jeweiligen Pläne für den Tag durch. Robert sagt mir, dass er nicht genau weiß, wann er nach Hause kommt, da er am frühen Nachmittag einen wichtigen Kundentermin hat, der sich unter Umständen sehr in die Länge ziehen kann.
Er arbeitet in einer großen Werbeagentur und steht kurz vor einer Beförderung, wenn er diesen Kunden zufriedenstellt. Und wenn er die bekommen hat, werden wir uns auf den Weg dorthin machen, wo fast jede Frau gerne mit ihrem Partner hingehen will - zum Architekten. Wir lassen unser Traumhaus bauen, dann wird geheiratet, wir bekommen zwei wundervolle Kinder (bevorzugt einen Jungen und ein Mädchen - genau in dieser Reihenfolge bitte) und . Na ja man wird ja wohl noch träumen dürfen. Nein im Ernst, der Plan mit dem eigenen Haus nach der Beförderung ist fix.
Ich hingegen weiß, dass es heute spät wird, denn die Urlaubszeit steht kurz bevor und meine Kollegin Sylvie hat gestern jede Menge Anfragen bekommen, die alle noch diese Woche erledigt werden müssen. Ich arbeite als Praktikantin in einer Firma, die Dienstleistungen verkauft. Das klingt kompliziert, ist es aber eigentlich nicht. Wir decken von der Eventplanung, über die Vermittlung persönlicher Assistenten für Privatpersonen und Promis, bis hin zur Bereitstellung von Zeitarbeitskräften für Großunternehmen alles ab. Ich bin eigentlich die Zeitarbeitskraft in unserem eigenen Unternehmen. Da wo gerade Anfragespitzen auftauchen, werde ich dem Stammteam zur Seite gestellt. Vor Weihnachten und im Mai ist dies zum Beispiel eher die Eventabteilung wegen Hochzeiten und Weihnachtsfeiern. Momentan bin ich dem Team für die Zeitarbeit in großen Firmen zugeteilt, da durch die Urlaubszeit viele Engpässe auftreten und wir somit einen Anfrageschub haben.
Robert und ich machen uns wie jeden Tag um halb acht nach langer Verabschiedung auf den Weg zur Arbeit. Gut, ab und an fahre ich auch noch in die Uni, wenn sich ein Termin betreffend meine Diplomarbeit nicht mehr vermeiden lässt. Ich studiere BWL und . also im Prinzip könnte ich fertig sein, meine Prüfungen habe ich alle bestanden. Wenn nur diese dämliche Diplomarbeit nicht wäre. Erst habe ich ewig bei der Suche nach dem Thema hin und her überlegt und nun stecke ich etwa bei der Hälfte der geforderten Seitenanzahl fest und komme nicht weiter.
Aber egal, ich fahre also ins Büro und mache mich an die Arbeit. Sylvie ist meine Lieblingskollegin und heute habe ich aufgrund meiner Teamzuteilung das Glück, den ganzen Tag mit ihr arbeiten zu dürfen. Eigentlich sind wir inzwischen eher Freundinnen als nur Kolleginnen. Wir telefonieren auch gerne am Abend, wie ich das sonst nur mit Christine, meiner ältesten und besten Freundin, mache und verbringen unsere Mittagspause grundsätzlich gemeinsam.
Den ganzen Vormittag über ist es ruhig, doch als wir vom Mittagessen wieder ins Büro kommen, wartet Herr Hofer, unser Vorgesetzter, bereits auf uns. Normalerweise beglückt er unser Stockwerk nur dann mit seiner Anwesenheit, wenn ein wichtiges Kundenmeeting ansteht, bei dem ich meistens als seine Assistentin auftreten muss, damit er sich wichtiger vorkommt. Aber heute Mittag taucht er auch ohne Kundenmeeting auf und zitiert mich ins Besprechungszimmer.
Als ich reinkomme, deutet er auf den Stuhl ihm gegenüber und mich beschleicht schon so ein eigenartiges Gefühl.
Er räuspert sich gewichtig. »Fräulein Manninger, wie lange sind Sie denn nun schon bei uns?«
Ich kann es nicht ausstehen, wenn mich jemand Fräulein nennt. Wir sind schließlich nicht mehr in den Fünfzigern. Trotzdem rechne ich jetzt brav nach und antworte wahrheitsgemäß: »Etwas mehr als zwei Jahre, Herr Hofer!«
Er nickt. »Zwei Jahre, in denen Sie an Ihrer Diplomarbeit schreiben. Wann wird sie denn nun endlich fertig?«
»Ich . also . so genau .«, stottere ich vor mich hin, bis er mich unterbricht.
»Wie ich sehe, sind Ihre Pläne diesbezüglich ja schon sehr ausgereift«, meint er mit hochgezogenen Augenbrauen und lehnt sich mit verschränkten Armen in seinem Stuhl zurück.
Ich schweige, weil ich einfach nicht weiß, was ich ihm entgegnen soll.
»Sehen Sie, Fräulein Manninger, Sie sind eine hervorragende Praktikantin, aber wir beschäftigen grundsätzlich keine Praktikanten länger als zwei Jahre. Normalerweise übernehmen wir sie dann ins Stammpersonal als fixe Mitarbeiter. Allerdings setzt dies voraus, dass ihre Ausbildung abgeschlossen ist. Bei Ihnen ist das leider nicht der Fall. Und offenbar setzen Sie auch nicht sehr viel daran, dass Ihre Diplomarbeit in...