Kapitel 1
»Maria? Verstehst du mich?«, höre ich die schrille Stimme meiner Mutter. Aufgeregt wedelt sie mit den Händen, um auf sich aufmerksam zu machen.
»Mama, ich sehe dich und höre dich. Du musst nicht so laut schreien, dass man dich auch ohne technische Unterstützung von Sizilien bis zur Ostsee hört«, versichere ich ihr lachend.
»Topolina, ich werde mich nie daran gewöhnen, dich durch diesen Computer zu sehen«, beschwert sie sich wie immer. Nun skypen wir schon seit vier Jahren regelmäßig, und obwohl meine Mutter die Technik durchaus beherrscht, kann sie sich immer noch nicht damit anfreunden.
»Wie geht es euch?«, erkundige ich mich wie jeden Sonntag.
»Deine Geschwister treiben mich noch in den Wahnsinn.« Theatralisch wirft sie ihre Hände in die Luft. Ich schmunzle, denn bei fünf Kindern macht ständig einer etwas, das ihr nicht in den Kram passt.
»Möchte Francesca immer noch ihr Hauptfach wechseln?« Ich mutmaße, dass meine jüngste Schwester der Grund für die schlechte Laune meiner Mutter ist.
»No, davon konnten wir sie abbringen, aber Benito . aaaaah!« Sie murmelt italienische Verwünschungen in sich hinein.
»Benito?«, frage ich nach. Mein Bruder ist nur zwei Jahre jünger als ich und normalerweise das Musterkind. Er arbeitet in einer Bank, worauf alle furchtbar stolz sind. Was kann er ausgefressen haben, dass er ein aaaah unserer Mama verdient hat?
»Er hat Simona verlassen, obwohl wir alle schon mit einer Hochzeit gerechnet haben. Sogar mein Brautkleid durfte sie schon anprobieren, und dann das. Stupido!«, schimpft sie über den älteren ihrer beiden Söhne.
»Dein Brautkleid?«, rufe ich entrüstet. »Sollte nicht ich als deine älteste Tochter dein Brautkleid bekommen?«
Ich höre schnelle Worte in meiner Muttersprache, die im Hintergrund gesprochen werden, die ich aber nur bruchstückhaft verstehe.
»Mama, sag Nonna, wenn sie mir was mitzuteilen hat, soll sie vor die Kamera kommen und es mir persönlich sagen. Meinetwegen auch auf Italienisch, aber nicht immer durch dich als Sprachrohr«, erkläre ich verärgert. Meine Großmutter weigert sich strikt, zu skypen, quatscht meiner Mutter aber ständig dazwischen.
»Maria Gabriella, wir warten schon viele Jahre, dass der Tedesco dich endlich zu einer ehrbaren Frau macht«, sagt meine Mutter, doch es sind die Worte meiner Großmutter. Wieso ich das so genau weiß? Nicht, weil sie meinen Freund Gerd immer noch als den Deutschen bezeichnet, denn meine Mutter ist ebenso wenig begeistert darüber, dass ich mit ihm zusammen bin, wie meine Nonna. Schließlich bin ich seinetwegen an die Ostsee gezogen. Die beiden wichtigsten Frauen in meinem Leben sind sich auch einig darin, dass man nur als verheiratete Frau ehrbar ist. Und sie hätten sich beide lieber einen braunäugigen, heißblütigen Italiener für mich gewünscht, als einen großen blonden Deutschen, dessen Aussehen an Matthias Schweighöfer erinnert. Italienische Werte, Familie geht über alles, bla, bla, bla.
Doch es ist die Art, wie sie mich genannt hat, die mir eindeutig zeigt, dass diese Worte von meiner Nonna stammen. Mein Name ist Maria Gabriella Mancuso, doch Maria Gabriella nennt mich nur meine Großmutter, die den Namen auch ausgesucht hat. Damit sollte die Tugendlosigkeit ihrer Tochter, die mit sechzehn von einem Touristen aus dem nördlichen Südtirol schwanger wurde, zumindest durch die Namensgebung einer Seligen wieder wettgemacht werden. Es lebe die Logik des katholischen Glaubens. Meine Mutter selbst ruft mich Maria, wobei die Betonung bei ihr auf dem i liegt. Hier in Deutschland bin ich einfach nur Gabi.
»Jetzt lasst doch mal eure vorsintflutlichen Einstellungen. Wir heiraten, wenn es uns passt«, fahre ich den beiden über den Mund.
»Du wirst noch als alte Jungfer sterben«, kommt es erneut aus dem Hintergrund.
»Ich bin erst einunddreißig«, verteidige ich mich.
»In deinem Alter hatte ich schon fünf Kinder«, hält meine Mutter dagegen.
»Beruhigt es dich, wenn ich dir sage, dass ich keine Jungfrau mehr bin?«, schieße ich zurück.
»Mamma mia!«, höre ich nun wieder von hinten und dann ein sich entfernendes italienisches Fluchen.
»Und nennt Gerd nicht immer den Deutschen«, lege ich nach.
»Wo ist er denn? Hat er sich diesmal Zeit genommen, um mit seiner zukünftigen Schwiegermutter zu sprechen?«, stichelt sie.
»Nein, Mama, er arbeitet noch«, antworte ich und schließe gleich darauf die Augen, als mir klar wird, dass ich ihr die nächste Steilvorlage geliefert habe, um sich in Rage zu reden.
»Hast du denn inzwischen eine andere Anstellung? Um zu kellnern, hättest du nicht so lange in Deutschland studieren müssen. Das könntest du auch hier in der Pizzeria von Onkel Guiseppe. Schließlich hast du bei ihm ja eine Lehre als Kellnerin begonnen«, wirft sie mir vor.
Ja, das habe ich, allerdings nur, um das Jahr Wartezeit auf den Studienplatz in Deutschland zu überbrücken. Ich dachte mir, wenn es doch nicht klappt, habe ich die Zeit wenigstens nicht vergeudet. Dass ich die Lehre dann abgebrochen habe, hat mir meine Familie immer noch nicht ganz verziehen.
»Sie war immer schon zu hübsch für eine Kellnerin. Da kommen die Männer nur auf dumme Gedanken.« Offenbar ist meine Großmutter wieder an die Seite meiner Mutter zurückgekehrt.
»Ich habe euch das doch schon erklärt. Der Job hat sich so ergeben. Während des Studiums habe ich gekellnert, um Geld zu verdienen, und dann bin ich dabeigeblieben. Und ich arbeite in einem soliden Restaurant, nicht in einer zwielichtigen Bar«, versuche ich die Wogen zu glätten. Ich mag meinen Job im Service der Pension L&P an der Ostsee, auch wenn er erst nur als Übergang gedacht war. Vor allem meine Chefin Lilly und mein Chef Paul sind herzliche Menschen, bei denen man sofort zur Familie gehört. Und Gerd und ich sind nun schon einige Jahre Teil dieser Familie. Nur meine tatsächliche Familie hat ständig etwas an meinem Freund und meinem Job auszusetzen.
Mit meinen einunddreißig Jahren stehe ich selbstverständlich schon auf eigenen Beinen, aber ich bin auch Italienerin, da redet die Familie immer mit, ob man will oder nicht. Natürlich hat meine Mutter in dem einen Punkt recht, dass ich jetzt nicht in dem Job arbeite, für den ich studiert habe, aber wer kann schon alle seine Träume wirklich leben?
»Ist das Mariella? Macht ihr dem armen Kind schon wieder das Leben schwer?«, höre ich nun eine männliche Stimme. Es ist unverkennbar mein Vater Bruno, denn Mariella nennt mich nur er.
Nun höre ich, wie mein Vater seine Frau und seine Schwiegermutter vom Laptop verscheucht. Rasch schickt mir meine Mutter Küsse und verabschiedet sich bis nächste Woche.
»Principessa, wie geht es dir?«, fragt Papa mich dann liebevoll.
»Alles in Ordnung! Bist du auch so entsetzt darüber, dass Benito sich von Simona getrennt hat?«, greife ich das Thema meiner Mutter wieder auf.
»No! Er war nicht mehr glücklich mit ihr. Deine Großmutter wollte unbedingt eine Hochzeit, aber ich bin froh, dass diese Kratzbürste ihn nicht eingefangen hat.« Mein Vater zwinkert mir zu. Wir beide konnten Simona tatsächlich noch nie leiden, haben es aber nicht gerade vor den anderen ausposaunt.
Das Thema Hochzeit sieht er allgemein skeptisch. Er selbst wurde kurzerhand zur Hochzeit verdonnert, was er sich mit achtzehn vermutlich nicht ausgesucht hätte. Doch wenn man eine minderjährige Sizilianerin schwängert, die neben drei kräftigen älteren Brüdern auch noch eine resolute Mutter hat, legt man sich besser nicht mit ihnen an. Aber das Schicksal hat es gut mit ihm gemeint, und die Liebe der beiden hat immer noch Bestand. Also führt er seither sein Leben liebend und streitend an der Seite meiner Mutter. Dass die beiden zumindest in einem Punkt gut zusammenpassen, zeigen wohl meine vier Geschwister Benito, Alessandra, Francesca und Matteo.
»Ist sie schon aus Benitos Wohnung ausgezogen?«, erkundige ich mich und greife nach meiner Tasse Kaffee.
»Nein, Benito wohnt vorübergehend bei Alessandra. Die Wohnung überlässt er ihr«, erzählt mein Vater. »Er hat einfach ein zu weiches Herz.«
»Das hat er von dir, Papa«, erwidere ich neckend.
»Sei nicht böse auf deine Mutter und deine Nonna. Sie meinen eben, dass ihr Weg der einzige ist, der eine Frau glücklich machen kann«, versucht er zu vermitteln.
»Ich weiß, Papa. Aber ich möchte nicht bei jedem Telefonat die gleiche Leier von einem Ring am Finger und einem ganzen Haus voll Kindern hören. Vor allem steigern sich die beiden in dieses Thema so rein«, stöhne ich.
»Sie sind Sizilianerinnen, was erwartest du? Sie sind nicht so wie du und ich.« Entschuldigend hebt er die Hände. Er hat recht. Als einziges seiner Kinder komme ich charakterlich nach ihm, auch wenn ich mit meinem Aussehen das typische Klischee einer Italienerin bediene, mit olivfarbener Haut, dunklen...