Kapitel 1 - vor einem Jahr
Meine beste Freundin Alexandra hat bis vor Kurzem in der Eventabteilung einer Zeitarbeitsfirma mit mir zusammengearbeitet. Seit einigen Wochen hilft sie in der Pension ihrer Zwillingsschwester an der Ostsee in Service und Küche aus. Im heimeligen L&P verbringe ich nun meinen Urlaub.
Am ersten Abend hier nimmt mich Alexandra, die alle nur Lexi nennen, in die Bar Leuchtturm mit. Der alte Leuchtturm direkt an der Küste, der als Bar umgebaut wurde und eine tolle, maritime Atmosphäre bietet, ist rappelvoll. Wir setzen uns an die Bar und bestellen eben etwas zu essen, als plötzlich zwei Gläser Sekt vor uns stehen. Die Kellnerin deutet auf die andere Seite des Tresens. Meine Freundin scheint den Spender zu kennen, denn sie winkt ihn herüber. Ich schenke dem nicht zu viel Beachtung, doch kurz darauf stellt sie mich ihm vor.
»Sylvie, das ist Georg, er leitet das Tourismusbüro hier im Ort«, erklärt sie mir und als ich aufsehe, steht mir ein Mann gegenüber, dessen Namen und Beruf ich so gar nicht mit seinem Erscheinungsbild in Verbindung gebracht hätte. Chucks, Jeans und ein enges graues Shirt bekleiden einen gut proportionierten Körper, der vermuten lässt, dass er trainiert. Auf einem rundlichen, glatt rasierten Gesicht mit gut ausgeprägten Wangenknochen sitzt ein strahlendes Lächeln und unter dunklem, kurzem, leicht widerspenstigem Haar blitzen mich zwei braune Augen interessiert an.
»Hi«, sagt Georg schlicht und streckt mir seine Hand entgegen. Ich ergreife sie mit einem freundlichen: »Hallo!« Sein Händedruck ist sanft, aber fest und er begegnet mir so offen, dass ich mich in seiner Gegenwart sofort entspanne, was nur selten passiert. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass Lexi ihren Freund Niko entdeckt hat und ihm entgegengeht.
»Ich wusste gar nicht, dass Lexi so hübsche Freundinnen hat«, schmeichelt mir Georg.
»Ach, und du kennst ihren Freundeskreis schon so gut?«, gebe ich zurück und entlocke ihm ein tiefes Lachen, das mich mitreißt.
»Eigentlich nicht«, gibt er zu. »Aber ich bin gerade dabei, dass sich das ändert.«
Er flirtet ganz eindeutig mit mir und ich lasse es zu. Weil er mir gefällt. Weil es mir guttut. Und weil ich weit weg von zu Hause bin.
»Wie willst du das nur wiedergutmachen?«, steige ich darauf ein.
»Da fällt mir schon noch etwas ein«, gibt er sich zuversichtlich. Dann sieht er mich einen Moment lang nur an.
»Hättest du Lust morgen an einer Bootstour teilzunehmen?«, fragt er dann ruhig. »Um elf legt vom Hauptpier ein Ausflugsdampfer ab, der ein Stück die Küste rauf und runter schippert und einen guten Eindruck über das Tourismusgebiet vermittelt. Das Essen auf dem Schiff ist auch wirklich lecker. Normalerweise sind die Karten sehr schnell weg, aber ich kenne den Kapitän und der nimmt sicher mir zuliebe noch zwei Passagiere zusätzlich mit.«
Der legt aber mal ein Tempo an den Tag.
»Und mit den beiden Passagieren meinst du Lexi und mich?«, antworte ich schlagfertig, um Zeit zu gewinnen.
»Wenn du das möchtest, kannst du auch Lexi mitnehmen. Aber eigentlich wollte ich dich begleiten«, erwidert er. Zwischen uns ist ein leichtes Knistern, doch er verhält sich weder frech noch aufdringlich, sondern gelassen, aber direkt. Ein wenig flirten, aber keine Spielchen. Das gefällt mir. Unter anderen Umständen würde mir das sogar sehr gut gefallen, aber jetzt bringt es mich in eine leichte Zwickmühle. Ich muss eine Entscheidung treffen. Georg scheint mein Zögern zu bemerken, denn er schenkt mir ein Lächeln und deutet auf die Kellnerin, die unsere Bestellung serviert.
»Euer Essen ist da«, merkt er an. »Entschuldigst du mich kurz?«
Lexi und Niko sind endlich bis zu uns durchgekommen und meine Freundin sieht mich neugierig an, ehe sie in ihr Baguette beißt.
»Und?«, fragt sie dann.
»Was und? Wir haben uns nur unterhalten«, wehre ich ihre Frage sofort ab.
»Hey, so habe ich das nicht gemeint. Er ist nett, also wollte ich wissen, wie du ihn findest«, erklärt Lexi.
»Auch nett«, weiche ich ihr aus. Dann merke ich, dass es die Wahrheit ist. Er ist nett. Und offenbar versteht er sich auch gut mit meiner Freundin, also kann er kein schlechter Kerl sein. Es ist nur ein Ausflug. Er kümmert sich um mich, weil ich hier niemanden kenne und Lexi arbeiten muss.
»Er hat mich für morgen eingeladen an der Bootstour teilzunehmen. Würde dich das stören? Weil, na ja, eigentlich bin ich ja hier, um dich zu besuchen.« Falls sie doch frei hätte, wäre das Thema gleich vom Tisch.
»Na klar nimmst du teil! Die Tour muss toll sein, die meisten Gäste sind begeistert, irgendwann will ich das auch noch machen, solange ich hier bin. Außerdem muss ich morgen ohnehin arbeiten, also mach dir wegen mir keinen Kopf«, antwortet sie und macht meine Hoffnung, um eine Entscheidung herumzukommen, zunichte. Einen Moment später taucht Georg wieder bei uns auf.
»Und du hast also vor, mir meine Freundin morgen zu entführen?«, bindet Lexi ihn ins Gespräch mit ein.
Er lacht. »Wenn ich darf und sie das auch möchte?«
Sag ich ja, oder sag ich nein? Ja oder nein, ja oder nein? Doch dann findet Georgs Blick den meinen, mein Kopf setzt aus und ehe ich es mich versehe, nicke ich.
»Aber dass du sie mir unbeschadet wieder zurückbringst!«, scherzt Lexi, die von meinem inneren Kampf natürlich nichts mitbekommen hat.
»Darauf trinken wir gleich noch ein Glas«, meint Georg und bestellt weitere vier Gläser Sekt. Ich stürze meines gleich zur Hälfte hinunter und rede mir danach ein, dass mein beschleunigter Puls vom Alkohol kommt.
Es ist lustig mit den dreien. Doch da Niko und Lexi ein Paar sind, hat der Abend einen Touch von einem Doppeldate.
Etwas später raunt meine Freundin mir zu, dass sie und Niko sich auf dem Heimweg machen, denn die beiden müssen morgen früh raus. Sie fragt, ob ich noch bleibe, doch für mich war es heute aufregend genug. Also verabrede ich mit Georg, dass er mich am nächsten Tag um halb elf vom L&P abholt und wir fahren zu dritt zurück in die Pension.
Ich weiß, dass Lexi verwundert ist, dass ich nicht länger geblieben bin und tatsächlich fragt sie mich danach, als wir allein sind. In diesen Momenten hasse ich mein Leben. Nicht dafür, dass es kompliziert ist. Sondern dafür, dass ich meinen Freunden etwas verheimlichen muss. Und um das zu können, ist es notwendig, manches etwas . anders zu erzählen, als es der vollen Wahrheit entspricht. Ich schrecke aus meinen Gedanken, als Lexi sich räuspert. Ach ja, sie wartet auf eine Antwort. Ich senke den Blick und greife nach einer Ausflucht.
»Ich habe dir doch heute Nachmittag schon gesagt, dass es manchmal klüger ist, abzuhauen, bevor mehr draus wird«, antworte ich leise, wünsche ihr eine gute Nacht und gehe in mein Zimmer.
Am nächsten Tag steht Georg pünktlich an der Rezeption. In Caprihose, luftigem Top und Sandalen gehe ich die Treppe hinunter und versuche das leise Ziehen in meinem Bauch zu ignorieren, als ich ihn entdecke.
»Hi«, sage ich zurückhaltend und weiß nicht ganz, wie ich ihn begrüßen soll.
»Schön dich zu sehen«, antwortet Georg und berührt mich nur für einen Augenblick am Oberarm. Meine Haut kribbelt unter seiner Hand. Doch schon zieht er sie zurück und winkt der Mitarbeiterin hinter dem Computer kurz zu, ehe wir nach draußen gehen. Es ist schon sehr warm und wir machen uns zu Fuß auf den Weg zum Pier. Auf der Einkaufsmeile sieht Georg mich prüfend von der Seite an.
»Ein Hut«, sagt er dann.
Fragend hebe ich die Augenbrauen.
»Ein Hut«, wiederholt er.
»Ein Stock, ein Damenunterrock«, erwidere ich.
»Was?«
»Was?«
Wir lachen beide und bleiben stehen.
»Gut, ich fang noch mal an«, meint er dann. »Es ist heiß heute und ein Hut - oder eine andere Kopfbedeckung - wäre eine gute Idee auf dem Schiff.« Er deutet auf den modischen Fischerhut auf seinem eigenen Haupt.
»Ach so«, gluckse ich und nicke.
»Was wolltest du denn mit einem Unterrock?«, erkundigt sich Georg neugierig.
»Das ist ein Kinderreim«, kläre ich ihn auf. »Ich habe als Teenager oft gebabysittet. Und da bleibt einiges hängen, vor allem, wenn es sich reimt.«
»Verstehe!«, erwidert er lachend. Vor einem Geschäft, das Hüte verkauft, bleibt er stehen und ich greife nach einem großen, weißen Strohhut mit breiter Krempe, setze ihn auf und betrachte mich in dem kleinen Spiegel.
Georg reckt die Daumen nach oben. »Mit dem bist du ganz inkognito unterwegs. Damit würde man nicht mal einen Filmstar erkennen«, scherzt er und winkt ab, als ich nach meiner Geldbörse greife. Während er bezahlt, bemühe ich mich, das Lächeln auf meinem Gesicht zu bewahren, denn er hat keine Ahnung, wie nah er an der Wahrheit dran ist.
Als ich den alten, weißen Dampfer sehe, hebt sich meine Laune wieder. Ich bin gern auf dem Wasser. Wir ergattern einen schönen Platz an der...