Schweitzer Fachinformationen
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Um das heutige Menschsein zu begreifen, müssen wir auf die biologische Evolution unserer Art und die Umstände ihrer prähistorischen Entwicklung zurückgehen. Die Aufgabe, die Menschheit zu verstehen, ist zu bedeutsam und zu einschüchternd, um sie ganz den Geisteswissenschaften zu überlassen. Deren zahlreiche Disziplinen von Philosophie bis Jura, von Geschichte bis bildende Kunst, haben die Besonderheiten der menschlichen Natur in zahllosen Variationen wieder und wieder beschrieben, und das mit unstreitigem Genie und bis ins letzte Detail. Nicht erklärt aber haben sie, warum wir gerade unsere Natur haben und keine andere von den vielen vorstellbaren Naturen. In diesem Sinn haben die Geisteswissenschaften noch kein volles Verständnis für den Sinn unserer Existenz erbracht und werden es auch nie erbringen.
Versuchen wir also eine Antwort auf die Frage, was wir eigentlich sind. Die Lösung des großen Rätsels liegt in den Umständen und dem Prozess, der unsere Spezies hervorgebracht hat. Die Menschheit ist ein Produkt der Geschichte - nicht nur der sechstausend Jahre alten Geschichte der Zivilisation, sondern viel weiter zurück über Hunderttausende von Jahren. Um dem Geheimnis ganz auf den Grund zu gehen, müssen wir die biologische und kulturelle Gesamtevolution als nahtlose Einheit erforschen. Betrachten wir die Geschichte der Menschheit von ihren Anfängen bis heute, dann hilft sie uns auch zu verstehen, wie und warum unsere Spezies entstanden ist und überlebt hat.
Viele Menschen interpretieren die Geschichte lieber als Umsetzung eines übernatürlichen Plans, dessen Urheber wir Gehorsam schulden. Diese bequeme Interpretation ist aber nicht mehr tragbar, seit das Wissen über die wirkliche Welt sich in dem Maße erweitert hat, wie wir das heute konstatieren müssen. Zählt man Forschungsprojekte und wissenschaftliche Zeitschriften, so verdoppelt sich insbesondere das naturwissenschaftliche Wissen seit über einem Jahrhundert alle zehn oder zwanzig Jahre. In traditionellen Deutungen wurden einst religiöse Schöpfungsgeschichten mit geisteswissenschaftlichen Darlegungen vermischt, um der Existenz unserer Spezies Sinn zu verleihen. Jetzt ist es an der Zeit zu überlegen, welchen Beitrag die Naturwissenschaften zu den Geisteswissenschaften leisten können und umgekehrt, damit sie gemeinsam nach einer solider begründeten Antwort auf das große Rätsel unseres Lebens suchen können.
Zunächst einmal ist wissenschaftlich erwiesen, dass die biologische Herausbildung des fortgeschrittenen Sozialverhaltens beim Menschen ähnlich verlaufen ist wie an anderer Stelle im Tierreich. Aus komparativen Studien an Tausenden Tierarten, von Insekten bis Säugetieren, ergibt sich, dass die komplexesten Gesellschaften durch Eusozialität entstanden sind - grob gesagt, durch «echte» Sozialität. Als «eusozial» definiert man eine Gruppe dann, wenn ihre Mitglieder ihren Nachwuchs über Generationengrenzen hinweg gemeinschaftlich aufziehen. Außerdem besteht Arbeitsteilung, indem einige Mitglieder des Verbandes zumindest teilweise auf eigene Fortpflanzung verzichten, um damit den «Fortpflanzungserfolg» (Gesamtzahl der Nachkommen eines Individuums) anderer Mitglieder zu erhöhen.
Eusozialität ist in vielerlei Hinsicht eine Kuriosität. Zum Beispiel ist sie extrem selten. Bei Hunderttausenden Evolutionslinien von Landtieren in den letzten 400 Millionen Jahren hat sich dieses Verhalten, soweit wir feststellen können, nur neunzehnmal entwickelt, und das verteilt auf Insekten, Meereskrebse und unterirdisch lebende Nagetiere. Wir kommen auf zwanzig Arten, wenn wir den Menschen mit einrechnen. Möglicherweise liegen wir mit dieser Schätzung unter der wirklichen Anzahl, vielleicht sogar weit darunter, und zwar einfach aufgrund eines Stichprobenfehlers. Dennoch ist unbestreitbar, dass Eusozialität sich nur relativ selten herausgebildet hat.
Außerdem entwickelten sich die bekannten eusozialen Arten erst sehr spät in der biologischen Evolution. Überhaupt nicht gab es sie während der großen Diversifikation der Insekten im Paläozoikum, also vor 350 bis 250 Millionen Jahren, nach der die Vielfalt der Insekten ähnlich groß war wie heute. Auch für das Mesozoikum sind bis heute keine eusozialen Arten nachgewiesen, bis vor 200 bis 150 Millionen Jahren die ersten Termiten und Ameisen aufkamen. Menschen als Hominiden dagegen sind noch sehr viel jünger, entstanden sie doch erst aus der über zig Millionen Jahre sich hinziehenden Evolution der Altweltaffen.
Als fortgeschrittenes Sozialverhalten in Form von Eusozialität dann einmal aufgekommen war, war der ökologische Erfolg bemerkenswert. Von den neunzehn bekannten unabhängigen eusozialen Tierlinien dominieren die beiden Insektenarten darunter - Ameisen und Termiten - weltweit die wirbellosen Landtiere. Obwohl mit 20.000 weniger als zwei Prozent der 1.000.000 bekannten lebenden Insektenarten Ameisen und Termiten sind, stellen sie, gemessen am Körpergewicht, mehr als die Hälfte des gesamten Insektenaufkommens weltweit dar.
Die Geschichte der Eusozialität wirft eine Frage auf: Wenn man sieht, welch enormen Vorteil diese fortgeschrittene Form des Sozialverhaltens bietet, warum hat sie sich dann nur so selten und so spät herausgebildet? Es liegt wahrscheinlich an der spezifischen Abfolge vorausgehender Evolutionsschritte, die durchlaufen werden müssen, bevor der letzte Schritt zur Eusozialität erfolgen kann. Bei allen bis heute untersuchten eusozialen Arten bestand der letzte Schritt vor der Eusozialität im Bau geschützter Nistplätze, von denen aus Streifzüge zur Futtersuche unternommen werden und in denen die Brut bis zur Reife aufgezogen wird. Die erste Nestbauerin kann ein einzelnes Weibchen gewesen sein, ein Pärchen oder eine kleine, lose organisierte Gruppe. Ist dieser letzte vorläufige Schritt getan, so brauchen für die Entstehung einer eusozialen Kolonie nur noch Eltern und Nachwuchs gemeinsam im Nest zu verbleiben und bei der Aufzucht nachfolgender Jungtiergenerationen untereinander zu kooperieren. Solche primitiven Verbände lassen sich dann leicht in risikobereite Futtersucher und risikoscheue Eltern und Brutpfleger unterteilen.
Was hat einer einzigen Primatenlinie auf das selten erreichte Niveau der Eusozialität verholfen? Die Paläontologie hat herausgefunden, dass die Umstände prekär waren. In Afrika begann vor etwa zwei Millionen Jahren offensichtlich eine Art der ursprünglich vegetarischen Australopithecina, ihre Ernährung auf einen viel höheren Fleischanteil umzustellen. Damit eine Gruppe so energiereiche, aber weit verstreute Nahrungsquellen erschließen konnte, zahlte es sich nicht aus, als lose organisierter Verband von erwachsenen und Jungtieren umherzustreifen wie heute Schimpansen und Bonobos. Viel effizienter war es, ein Lager zu belegen (also ein Nest) und Jäger auszusenden, die Fleisch nach Hause brachten - Aas oder frisch erlegtes Wild -, um es mit den anderen zu teilen. Im Gegenzug fanden die Jäger im Lager Schutz und Aufnahme, und ihr eigener Nachwuchs wurde dort versorgt.
Auf der Grundlage von Studien an modernen Menschen, unter anderem an Jägern und Sammlern, aus deren Lebensweise wir so viel über die Ursprünge der Menschheit lernen können, konnten Sozialpsychologen auf das mentale Wachstum schließen, zu dem es zeitgleich mit dem Jagen und den Lagerstätten kam. Besonderer Wertschätzung erfreuten sich persönliche Beziehungen in Form von Konkurrenz und Kooperation unter den Mitgliedern. Der Prozess wurde ständig dynamischer und anspruchsvoller und vor allem weitaus intensiver als alle vergleichbaren Erfahrungen, die die meisten anderen sozialen Tierarten in den weit umherstreifenden, lose organisierten Verbänden machten. Benötigt wurde dazu ein Gedächtnis, um die Absichten der anderen einschätzen und ihre Reaktionen voraussehen zu können; und besonders wichtig wurde die Fähigkeit, miteinander konkurrierende Szenarien zukünftiger Interaktionen zu entwickeln und im Stillen durchzuspielen.
Die soziale Intelligenz der in Lagern lebenden Vormenschen entwickelte sich wie eine Art Dauerschachspiel. Heute, am Ende dieses Evolutionsprozesses, funktionieren unsere riesigen mentalen Datenbanken so reibungslos, dass sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenführen. Im Rückgriff darauf können wir Chancen und Folgen von Bündnissen, Bindungen, sexuellem Kontakt, Rivalitäten, Dominanz, Betrug, Treue und Verrat abwägen. Instinktiv lechzen wir nach unerschöpflichen Geschichten über andere, und wir treten als Schauspieler auf unserer eigenen inneren Bühne auf. Das Beste davon findet in den bildenden Künsten Ausdruck, in politischer Theorie und anderen hochdifferenzierten Disziplinen, die wir heute als «Geisteswissenschaften» bezeichnen.
Der entscheidende Teil unserer langen Schöpfungsgeschichte begann nachweislich mit dem primitiven Homo habilis (oder einer nahe verwandten Art) vor zwei Millionen Jahren. Die Vormenschen vor ihm waren noch Tiere. Sie waren überwiegend Vegetarier, hatten menschenähnliche Körper, aber ihr Gehirnvolumen war nur so groß wie das der Schimpansen, also unter 600 cm3. Jetzt aber nahm...
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