Schweitzer Fachinformationen
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KAPITEL EINS
24. April 2014, 13.25 Uhr
Auf der Straße von der Universität São Paulo nach Jardim Rizzo, Brasilien
Sabrina Melo war auf ihrer Vespa im Sonnenschein zwischen zwei Schauern auf dem Heimweg zu ihrem Apartment in Jardim Rizzo und genoss die neue Freiheit von der sicherheitsfixierten Welt ihres reichen Vaters. Von dem Motorroller wusste er nichts. Sonst hätte es Riesenärger gegeben.
Fröhlich fuhr sie Schlangenlinien unter den tropfenden Bäumen, die die Straße zu ihrem neuen Zuhause säumten. Sie hatte sich immer eine Vespa gewünscht, seit sie als kleines Mädchen mit ihrer Mutter den Film Ein Herz und eine Krone gesehen hatte, in dem Audrey Hepburn und Gregory Peck auf einem solchen Motorroller Fußgänger erschreckten und auf der Flucht vor Polizisten durch Straßenmärkte und Cafés und vorbei an der Spanischen Treppe sausten.
Wegen des Regens musste sie auf einen Teil von Hepburns modischen Freiheiten verzichten und ein durchsichtiges Plastikcape sowie einen himmelblauen Helm tragen. Deshalb bemerkte sie auch den Chevrolet Corsa Sedan nicht, der ihr langsam folgte.
Plötzlich rannte vor ihr ein Mädchen, das sie aus ihrem Philosophieseminar kannte, zwischen den Bäumen auf die Straße, winkte und gestikulierte. Sabrina bremste, und das Hinterrad rutschte leicht weg. Sie stellte einen Fuß auf den Boden.
»Was ist los, Larissa?«, fragte sie.
»Meine Freundin Marta«, sagte Larissa, vergrub das Gesicht in den Händen und zeigte ins Gebüsch. »Sie haben sie da reingezerrt. Sie verprügeln sie. Ich glaube, sie wollen sie vergewaltigen. Sie haben mir die Handtasche weggenommen. Kannst du die Polizei anrufen?«
Sabrinas erster Gedanke war, dass Larissa keine gute Schauspielerin war.
Ihr zweiter Gedanke: Wenn sie ihre Freundin und ihre Handtasche hatten, warum hatten sie dann nicht auch Larissa ins Gebüsch gezerrt?
Für einen dritten Gedanken blieb ihr keine Zeit mehr, weil zwei Männer aus dem Wagen gestiegen waren und sie von hinten packten. Larissa riss die Vespa unter ihr weg. Der Wagen rollte an ihnen vorbei, und der Kofferraum klappte auf. Einer der Männer drückte Sabrinas Arme an ihren Körper, zog ihr die Beine weg und warf sie so hart in den Kofferraum, dass ihr die Luft wegblieb. Sie zogen ihr das Cape aus, zerrten die Umhängetasche von ihrer Schulter, fesselten ihr die Hände mit Handschellen hinter dem Rücken und die Knöchel an eine Seite des Kofferraums. Dann zogen sie ihr den Helm vom Kopf, verschlossen ihren Mund mit Klebeband, drückten den Helm wieder auf ihren Kopf und klappten das Visier zu. Sie sah nur weiße, gefletschte Zähne in einem verzerrten Gesicht, kräftige Schultern und dahinter den weiten blauen Himmel, bis sich die Klappe des Kofferraums dazwischenschob und sie in stickiger Dunkelheit zurückließ.
Der Wagen fuhr an, wendete mit blockierenden Reifen und raste zurück Richtung Hauptstraße.
Der Adrenalinschub, der in Sabrinas Adern pulsierte, ließ ihre Arme kalt werden. Die Innenseite ihrer Schenkel brannte, weil sie sich vor Angst in die Hose gemacht hatte. Man hatte sie so gefesselt, dass sie nicht einmal gegen die Kofferraumklappe schlagen oder treten konnte. In der Hitze und unter dem Helm mit heruntergeklapptem Visier wurde der Sauerstoff knapp, und sie musste sich mit aller Kraft zusammenreißen, um nicht zu hyperventilieren. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf ihre Atmung.
Von den unvorhersehbaren Bewegungen des Wagens, der im dichten Verkehr immer wieder bremste und hin und her schaukelte, wurde ihr schlecht. Schweiß sammelte sich um ihre Augen. Sie blinzelte dagegen an und blickte der Realität ins Auge - sie war entführt worden. Sie sah ihren Vater an seinem Schreibtisch sitzen und von seiner größten Angst erzählen und erinnerte sich an ihre blasierte Antwort: »Am besten taucht man in der Masse unter, papai, und ragt nicht heraus.«
Sie fuhren sehr lange, mehr als vier Stunden, lange genug, um vieles von ihrem Leben in jüngerer Zeit Revue passieren zu lassen. Ihre ersten sechs Wochen an der Universität von São Paulo waren eine Offenbarung gewesen. Sie mischte sich unter Menschen aus aller Welt und genoss es, nur eine in einer Masse junger Studenten zu sein, in der Mensa zu essen und die neuesten angesagten Clubs zu besuchen. Sie wurde nicht mehr jeden Tag von Sicherheitsleuten in einem gepanzerten Mercedes zur Schule gefahren und anschließend wieder in ihr von mit Stacheldraht und Elektrozäunen gekrönten Mauern geschütztes Zuhause gebracht, in dessen Garten bewaffnete Wachleute patrouillierten, sodass es jedes Mal einer militärischen Prozedur glich, das Haus zu verlassen und wieder zu betreten. Das Reisfleisch mit Bohnen in der Mensa war ihr lieber als die sternewürdigen Mahlzeiten, die der Koch ihres Vaters ihr servierte, und sosehr sie die Typen mochte, die sie beschützten, war es doch eine Erleichterung, ohne bewaffnete Aufpasser auszugehen.
Sie hatte versucht, vernünftig mit ihrem Vater zu reden. Sie führten lange Diskussionen über die Verteilung von Reichtum, Korruption und die Gewalt, die jenseits der von Kameras überwachten und verstärkten Mauern in einer krass ungerechten Welt zwangsläufig immer wieder ausbrach.
Bisweilen hatten sie erbittert gestritten und sich gegenseitig angeschrien, bis Türen geknallt wurden und Sabrina weinend auf ihrem Bett lag, während ihr Vater vor der Tür stand und flehte: »Ich liebe dich, querida. Bitte verzeih mir.« Am Ende hatte sie aufgegeben. Es war ihnen offenbar bestimmt, sich auf immer zu streiten.
Was sie indes nicht aufgegeben hatte, war der Kampf für ihre eigenen Rechte. Sie würde nicht unter der Obhut von bewaffneten Leibwächtern zur Universität gehen. Keine Helikopterflüge zu Seminaren. Kein Handlanger vor dem Vorlesungssaal. Sie wollte ein normales Studentenleben oder zumindest so normal, wie man es als Tochter eines Senators und eines der führenden Bankiers Brasiliens führen konnte.
Es hatte Kompromisse gegeben. Er wollte, dass sie in einer eleganten Wohngegend gegenüber der Universität mit Blick auf den Parque Villa-Lobos wohnte. Sie hatte sich geweigert, und sie hatten sich auf ein Apartment im zehnten Stock eines Wohnblocks in einer Mittelklassegegend im Süden der Universität geeinigt, mit bewaffneten Sicherheitsmännern in der Lobby, aber nicht auf jeder Etage. Sie hatte zugelassen, dass er eine Alarmanlage und eine Stahltür mit Holzfurnier und Sicherheitsschloss einbauen ließ, bei einem Panikraum jedoch die Grenze gezogen.
Der Wagen holperte von dem Asphalt auf eine Schotterstraße, die sie in die Realität zurückriss. Das beruhigende gleichmäßige Dröhnen wich dem Geprassel aufgewirbelter Steinchen und dem Holpern durch Pfützen und Löcher, bis der Wagen bockte wie ein Rind beim Rodeo, weil der Weg sich endgültig verlor. Wahrscheinlich brachte man sie in eine Favela am Stadtrand.
Der Wagen hielt. Türen wurden zugeschlagen. Durch den verschwitzten Schaumstoff des Helms drangen undeutlich Männerstimmen an ihr Ohr. Der Kofferraum wurde aufgeklappt. Sie sah nichts. Der Himmel war dunkel. Es war Abend. Die Männer hatten Taschenlampen.
»Halt die Augen geschlossen.«
Sie kniff sie fest zu, gehorsam wie ein Kind. Sie rissen ihr den Helm vom Kopf und setzten ihr eine Brille auf. Sie öffnete die Augen, doch die Gläser waren verklebt. Die Fesseln an ihren Füßen wurden gelöst, und sie wurde in ein Laken gewickelt und aus dem Kofferraum gehoben. Drei Männer trugen sie waagrecht zwischen sich. Sie hatten es nicht eilig. Eine Stimme vor ihnen rief, dass die Leute zurück in ihre Häuser gehen sollten. Sie spürte, dass sie sich in einem engen Durchgang befanden. Der Abwassergestank war so durchdringend, dass sie ihn trotz des Lakens um ihren Kopf riechen konnte.
Die Männer blieben kurz stehen, zwängten sich durch eine enge Öffnung und trugen sie eine Treppe hinunter. Eine quietschende Metalltür wurde geöffnet. Sabrina wurde auf eine Matratze geworfen, und das Laken, in das sie gewickelt war, wurde weggerissen.
»Sie hat sich vollgepisst.«
»Zieh ihr den Slip aus. Den schicken wir ihrem papai. Damit er weiß, dass wir sie haben.«
Hände griffen nach ihr. Wimmernd vor Angst strampelte sie mit den Beinen, sodass ihr Rock bis zur Hüfte hochrutschte. Mit dem rechten Fuß erwischte sie einen der Männer mit voller Wucht. Er stöhnte, und danach behandelten sie sie noch gröber. Sie packten ihre Füße und verdrehten die Knöchel, bis sie schrie, während einer ihren Slip über ihre langen Beine streifte. Als sie sie losließen, drehte sie sich auf den Bauch, und einer der Männer gab ihr einen heftigen Klaps auf den nackten Hintern. Sie jaulte trotz des Klebebands über ihrem Mund auf. Die Demütigung ließ ihr Tränen in die Augen schießen.
»Kein Mucks mehr, kapiert?«
Sie wurde allein gelassen in dem Gestank von ranzigem Palmöl und dem stechenden Geruch ihrer eigenen Angst. Die Männer zogen sich in einen Raum über ihrem zurück, wo ein Mann hustete. Sie sprachen ein paar Minuten miteinander und gingen wieder. Ein Fernseher wurde eingeschaltet, und laute Stimmen erhoben sich, eine Telenovela. In der Ferne bellte ein Hund. Eine Frau schrie und verstummte abrupt.
Der hustende Mann redete, gab Anweisungen. Flip-Flops klatschten auf den Boden und kamen nach unten in ihren Raum. Es waren zwei Männer, dem Akzent nach zu urteilen aus dem Norden.
»Scheiße, hast du den Handabdruck auf ihrem Arsch gesehen?«, fragte der eine lachend, als er ihre Plastikhandschellen durchschnitt. »Davon könnte man einen Fingerabdruck...
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