1. KAPITEL
Aurora Henricks zog sich das Oberteil ihrer Arbeitskleidung herunter. In einer Hand hatte sie ihren Schlüssel, mit der anderen hielt sie einen Welpen fest. Der Kleine zappelte dermaßen, dass ihr Oberteil hochgerutscht war und den Blick auf ihre Taille freigab. So wollte sie sich potenziellen Neukunden lieber nicht präsentieren.
Sie strich dem Hund über den Kopf. "Ganz ruhig. Ich sehe erst mal nach, ob du gechippt bist. Bestimmt vermisst dich jemand schon furchtbar!"
Auf dem Weg zur Arbeit hatte der Wagen vor ihr plötzlich gebremst. Als Aurora den verängstigten kleinen Hund gesehen hatte, war sie sofort an den Rand gefahren. Dann war sie zehn Minuten lang durch den matschigen Wald gestapft, hatte Leckerlis verstreut und so den Welpen schließlich zu sich locken können.
Jetzt wirkte er schon deutlich weniger ängstlich. Der Schlamm an seinen Pfoten war getrocknet, hatte jedoch deutlich sichtbare Spuren auf ihrer Uniform hinterlassen.
"Kommen Sie immer so spät und in diesem Zustand zur Arbeit?", fragte jemand scharf.
Vor ihr stand ein großer, schlanker Mann mit leicht zerzaustem hellbraunem Haar, einem Hauch von Bartstoppeln - und ziemlich verärgertem Gesichtsausdruck.
"Wer sind Sie denn?", gab Aurora ebenso scharf zurück. Es sollte niemand hier sein, wenn sie aufschloss - schon gar kein Wildfremder.
"Das wollte ich Sie auch gerade fragen."
Sie blinzelte und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Währenddessen überlegte sie, wie schnell sie den Hund in Sicherheit bringen und etwas finden konnte, womit sie dem Kerl einen überziehen konnte. Ihr Blick fiel auf einen Besen, der in der Ecke stand.
"Da ich sowohl die Schlüssel habe als auch meine Praxiskleidung trage, kann ich hier wohl die Fragen stellen. Wie kommen Sie dazu, in meine Praxis einzubrechen?"
Dabei kam ihr der Mann nicht wie ein Einbrecher vor. Bei näherer Betrachtung stellte sie fest, dass er ziemlich gut aussah. Besondere Angst machte er ihr nicht. Das war ein gutes Zeichen, denn aufgrund früherer Erlebnisse hatte Aurora Hendricks in Bezug auf gefährliche Männer einen sechsten Sinn entwickelt.
Sie setzte den kleinen Hund auf einem Behandlungstisch ab und hielt ihn mit einer Hand fest, während sie sich die nasse Jacke abstreifte.
"Aha, das ist also Ihre Praxis, ja?", fragte der Fremde leicht amüsiert.
Aurora gab dem Welpen Leckerlis und nahm das Chiplesegerät aus der Schublade. "Bis jemand anders hier auftaucht, schon." Sie sah ihn an. "Oder sind Sie etwa noch einer dieser Vertretungsärzte?"
Er runzelte die Stirn. "Wie meinen Sie das?"
Ohne ihn zu beachten, überprüfte sie, ob der kleine Hund gechippt war, um seinen Besitzer festzustellen. Doch sie fand nichts. "Oje, dann bist du wohl ausgerissen", sagte sie und nahm den Welpen in die Arme.
Der Mann kam näher. "Von wo ausgerissen?"
"Von einem der Zuchtbetriebe in der Umgebung. Der Kleine ist noch nicht gechippt, also wurde er noch nicht verkauft." Sie hob den Welpen hoch und sah ihn an. "Allerdings sieht er nicht gerade nach einer reinrassigen Züchtung aus."
Der Fremde betrachtete ihn. "Vielleicht ein Collie-Mischling?"
Aurora blinzelte überrascht. "Sie sind doch ein neuer Vertretungsarzt, oder? Aber woher haben Sie die Schlüssel?"
"Sie gehören mir." Er wollte ihr den Hund abnehmen. "Ich sehe ihn mir mal an."
In Bezug auf Tiere hatte Aurora einen sehr ausgeprägten Beschützerinstinkt. Sie hielt seine Hand fest. "Erst wenn ich Ihre Identität und Qualifikation kenne."
Überrascht sah er sie an. "Dass ein Wildfremder hier auftaucht, stört Sie nicht, aber wehe, er will einen streunenden Hund untersuchen?"
Sie musterte ihn eindringlich. "Mit Ihnen kann ich es aufnehmen. Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, auf mich aufzupassen. Aber auf gar keinen Fall überlasse ich Ihnen den kleinen Hund, bis Sie sich ausgewiesen haben."
Einen Moment lang sahen sie einander starr an. Dann nickte der Mann, ging ihr voraus in den Flur und wies auf ein Bild, das an der Wand hing.
Aurora war schon Tausende Male daran vorbeigegangen. Das Foto zeigte David Ferguson, dem die Praxis gehört hatte, mit seinem Kollegen und seinem Sohn.
Endlich fiel der Groschen.
"Das sind Sie?", fragte sie ungläubig.
Der schlaksige Junge in T-Shirt und schlecht sitzender Jeans wirkte so ganz anders als der einen Meter achtzig große, schlanke Mann mit dem sexy Dreitagebart und den blauen Augen. Wieder betrachtete sie das Foto und dann ihn.
"Der Haaransatz ist ähnlich", sagte sie schließlich.
Er schnaubte empört. "Ich bin Elijah Ferguson. David Ferguson war mein Vater. Ich bin nur hier, bis Matt wieder fit ist und wir gemeinsam einen neuen Tierarzt ausbilden können."
Dass er Matt beim Namen kannte, ließ darauf schließen, dass er wirklich Elijah Ferguson war und nicht vorhatte, Medikamente oder Welpen zu stehlen.
"Wo wohnen Sie denn?"
"Direkt nebenan. Aber das Haus werde ich dem neuen Tierarzt zur Verfügung stellen." Er wies mit dem Kinn nach oben. "Ich kann in einem der Zimmer oben schlafen, während ich ihn einarbeite."
"Oder sie."
"Ja, oder sie." Er lächelte und wandte sich dem Welpen zu. "Darf ich den Kleinen jetzt untersuchen?"
"Na gut."
Er ging sofort in einen der Behandlungsräume. Kein Wunder, dass er sich in der Praxis auskannte. Augenscheinlich war er wirklich der Sohn des verstorbenen Tierarztes. Trotzdem war es merkwürdig, dass er einfach so hier auftauchte. Als Mitarbeiterin hätte er sie doch wirklich informieren können.
Aurora war zwar erst seit vier Jahren tiermedizinische Fachangestellte, doch sie erkannte genau, ob jemand kompetent war oder nicht. Der Mann horchte den Welpen ab, sah sich Maul, Augen und Ohren an. Dann tastete er Bauch und Rippen ab, stellte den Kleinen auf die Hinterbeine und setzte ihn schließlich noch behutsam auf die Waage.
Am liebsten hätte sie den jungen Hund an sich gerissen und ihn selbst untersucht. Elijah Ferguson machte seine Sache zwar gut, doch sie kannte ihn einfach nicht. Und warum hatte er nicht mit seinem Vater zusammengearbeitet? Hatte er dessen Ansprüchen als Tierarzt nicht genügt?
All dies ging ihr durch den Kopf, während sie warmes Wasser in das tiefe Waschbecken einließ.
"Der Kleine ist ziemlich dünn", hörte sie seine tiefe Stimme.
Das hatte sie schon aus vierzig Metern Entfernung bemerkt.
"Er hat ein Herzgeräusch."
Oh nein! "Ein starkes?"
Den Blick auf den kleinen Hund gerichtet, schüttelte er den Kopf. "Nein. Ich würde das regelmäßig überprüfen, aber es kann gut sein, dass es verschwindet, wenn er größer wird."
Sie streckte die Arme nach dem Welpen aus. "Ich werde ihn jetzt baden und füttern."
"Was für Futter haben wir denn?"
Der kleine Hund ließ sich widerstandslos baden und mit einem weichen Lappen den Schmutz von den Pfoten und aus dem Fell waschen. Aurora nannte die beiden Futtersorten, die sie auf Vorrat hatten.
Elijah Ferguson runzelte die Stirn. "Hm, das finde ich nicht so gut. Ich fahre eben in die Stadt und kaufe Futter und noch ein paar andere Sachen. Füttern Sie ihn nicht, bevor ich wieder da bin."
Sie nickte. Über Hundefutter gab es immer wieder Diskussionen. Manche Praxen hatten Verträge mit Herstellern und führten nur deren Futter. Auf Onlineforen wurde lebhaft darüber diskutiert, was für die Hunde am besten war: Trockenfutter, Dosenfutter, Rohfutter, welche Marke .
Hier in der Praxis hatten sie aber auch eine Tiefkühltruhe mit Huhn und Fisch. Das bekamen kranke Hunde bei ihnen oft, zusammen mit Reis oder Süßkartoffeln. Und wenn der mürrische Dr. Ferguson - wie sie ihn insgeheim getauft hatte - nicht bald von seinem Einkauf zurück war, würde sie dem kleinen Welpen etwas davon zubereiten.
Kurz darauf fuhr ein knallroter Sportwagen aus der Garage, den sie von einem der Fotos kannte. Er musste seinem Vater gehört haben.
Aurora trocknete den kleinen Hund ab und setzte ihn in der Beobachtungsstation in ein mit einer Decke ausgelegtes Körbchen. Er war von der ganzen Aufregung erschöpft und schlief schon fast.
An diesem Vormittag standen ein paar Routinetermine an. Sie musste Tiere wiegen, Krallen schneiden, Augentropfen verabreichen und die Haut eines West Highland Terriers behandeln. Außerdem waren Untersuchungsergebnisse von Proben zu prüfen, die Matt in der Vorwoche genommen hatte. Da Elijah Ferguson ihr nicht mitgeteilt hatte, was genau er hier tun würde, arbeitete Aurora einfach wie gewohnt.
Dass sie diese Praxis in der Nähe von Edinburgh gefunden hatte, war großes Glück gewesen. Aurora war achtundzwanzig Jahre alt, und tiermedizinische Fachangestellte war nicht ihr erster Beruf. Als Kind hatte sie Schauspielerin werden wollen und war auf eine Schauspielschule gegangen. Nach ein paar kleineren Auftritten im Fernsehen hatte sie eine größere Rolle in einer Serie über eine Familie, die nach Afrika gegangen war, bekommen. Die Hauptfigur...