Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Das Alter eines Gegenstands steckt in seiner Beschaffenheit. Geheimnisse verbergen sich im Fingerabdruck gesprungenen Porzellans und in der Blüte von Rost auf Metall. Man braucht ein staubiges Artefakt bloß in die Hand zu nehmen und sich darauf zu konzentrieren. Mit ein wenig Übung breiten sich die schwindelerregenden Abgründe der Zeit wie ein Sternenhimmel vor dem geistigen Auge aus.
Ich habe diese Kunst nicht in einem Schulzimmer gelernt. Kein Wissenschaftler hat das.
Mein Großvater, mein deduschka . Er hat mich die Ehrfurcht vor dem vergessenen Gestern gelehrt.
Als ich sechzehn war, hat Wassili Stefanow mich in seinem Werkzeugschuppen erwischt, als ich heimlich in seinen Kriegsandenken wühlte und das Vorhängeschloss einer ramponierten grünen Munitionskiste mit einem Schraubenzieher zu öffnen versuchte. Er stieß einen leisen Pfiff aus, wie ein Kuckuck. Auf diese Weise erregte er jedes Mal meine Aufmerksamkeit, seit ich ein kleines Mädchen war. Und auch jetzt erstarrte ich vor Schreck.
Statt mich zu bestrafen, erzählte er mir eine Geschichte.
»Du bist so neugierig«, meinte er mit seinem starken russischen Akzent, den er aus einem anderen Leben in die Vereinigten Staaten mitgebracht hatte. »Wonach suchst du?«
»Es tut mir leid, deduschka«, stammelte ich. »Nichts. Ich wollte bloß .«
Mit seiner schwieligen Hand machte er eine abwehrende Geste. »Ist schon gut. Neugierige Menschen wollen etwas lernen.«
Damit nahm mein Großvater mir die Munitionskiste ab und stellte sie klappernd auf seine Werkbank. Er öffnete das Messingschloss und hob den verbeulten Deckel an. Ein paar vergilbte Fotografien, eine alte Taschenuhr und einige Orden kamen zum Vorschein. Dann holte er einen offenbar schweren Gegenstand heraus, der in ein öliges Tuch eingewickelt war, und warf mir das Bündel wortlos in die Hände.
Unter dem Tuch fand ich etwas Metallisches und Festes, etwas so Komplexes und Fremdartiges, dass mir der Atem stockte. In ein muschelgroßes Stück Metall von der Form eines Halbmonds war ein verschlungenes Linienmuster geätzt - wie eine Sprache aus bizarren Winkeln.
»Dieses Ding«, sagte er. »Dieses unglaubliche Ding . Ich wollte es immer mit jemandem teilen, verstehst du? Aber die Jahre fliegen nur so dahin.«
»Es ist schwer«, stellte ich fest.
»Es ist ein Relikt aus dem Krieg. Und es hat eine Geschichte, die ich nie jemandem erzählt habe.«
Noch heute sehe ich sein Gesicht deutlich vor mir, mit all diesen Falten, die einem Angst machen konnten, bis der alte Mann lächelte und man ihren Ursprung erkannte.
»Glaubst du an Engel, June?«, fragte er mich.
»Ich weiß nicht«, gab ich zur Antwort. »Nein.«
»Vielleicht solltest du aber.«
Großvater räusperte sich, lehnte sich gegen die ächzende Werkbank. »Ich war fast noch ein Kind, genau wie du jetzt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Meine Familie wohnte in einem Dorf im Ural. Als die Deutschen in Russland einfielen, wurde beschlossen, dass ich alt genug war, um an die Front zu gehen. Alle Jungen im Dorf wurden losgeschickt. Wir waren aufgeregt. So aufgeregt.«
Er schüttelte gedankenschwer den Kopf.
»Stalingrad. Es war Winter«, fuhr er fort. »Noch am Anfang der Schlacht, aber wir hungerten schon. Waren halb erfroren. Die Deutschen hatten eine Million sowjetischer Soldaten fast bis an die Ufer der Wolga gedrängt. Die Frauen und Kinder und Verwundeten, die in der Stadt zurückgeblieben waren . die versuchten schließlich, über den eisigen schwarzen Fluss zu entkommen. Wir hatten alle Hoffnung aufgegeben. Es ging nur noch ums Überleben.
Die Wolga war völlig verstopft: große grüne Militärtanker, schmutzige Fischerboote, private Jachten - und Menschen, Tausende, ja, eine . eine Masse von Menschen, die sich an allem festhielt, was schwamm. Und in den tiefen grauen Wolken über dem Fluss schrien die Kampfflugzeuge der Nazis. Aus dem Himmel fielen feurige Tränen auf die Rücken dieser Frauen und Kinder. Öl und Benzin waren ins Wasser geflossen. Der ganze Fluss stand in Flammen.
Ich und die anderen Späher, wir hielten uns nahe am Ufer auf und deckten den Rückzug. Stalingrad selbst war bereits völlig zerbombt. Du kannst dir das gar nicht vorstellen . Es war die reinste Mondlandschaft. Wie eine andere Welt. Eine Welt aus zerschmetterten Steinen und Holz. Zerfallene, halb versunkene Wände auf Flächen, die einmal Wohnviertel gewesen waren, leere Fenster wie offene Münder, die Staub ausspuckten. Die Gefallenen blieben einfach liegen und wurden von Eis bedeckt. Niemand begrub sie.
Wir Jungen schlugen uns durch, kletterten wie die Ratten durch die Überbleibsel eingestürzter Keller und aufgegebener Schützengräben. Oberirdisch war nichts mehr übrig. Diesen Albtraum machten wir monatelang mit . Monate, die sich wie eine Ewigkeit hinzogen. Frostbeulen und Durst und Scharfschützen. Anfangs brachten wir unseren Hunden noch bei, mit Sprengstoff unter die deutschen Panzer zu rennen. Später aßen wir sie. Und ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, wnutschka . aber mit der Zeit . in dieser seltsam kalten Welt zerfiel die Erinnerung an mein altes Leben zu Asche.
Törichterweise begann ich zu glauben, dass nichts mir mehr Angst einjagen konnte.«
Großvater blinzelte, starrte die Munitionskiste und das herabbaumelnde Messingschloss an. Verloren in der Erinnerung sah er mich nicht an, als er weitersprach.
»Ein Naziflugzeug muss unsere Position verraten haben. Im einen Moment lagen die anderen Jungen und ich noch nebeneinander in unseren Wintermänteln und luden unsere Gewehre nach, unser Munitionsvorrat ausgebreitet auf einem Schotterhaufen. >Nicht ein Schritt zurück<, das war die Devise. Wer floh, wurde erschossen. Wenn Gestalten aus dem Rauch auftauchten, zogen wir den Abzug und hielten die Stellung. Egal, wie viele deutsche Helme da kamen . wir waren bereit, das Opfer zu bringen.
Und dann brach das Chaos auf unserem Hang aus. Ein deutscher Panzer hatte sich auf uns eingeschossen. Es war, als rammte ein Riese seine Faust in den Hügel. Wir wurden fortgeschleudert, sodass es uns die Helme wegriss; wie Stoffpuppen wurden wir in den Himmel geworfen. Ein gelb und grau bemalter Panzer kroch aus dem Nebel, wie ein kranker Tiger, und suchte uns mit dem schwarzen Auge seines Geschützes. Ich lag auf dem Bauch, atmete Staub, konnte nichts klar erkennen . Die Rufe der Deutschen aber, die hörte ich. Wie Dämonen aus Rauch und Staub, die aus der Hölle riefen.
Bitte versteh mich recht, June - was als Nächstes passierte . das ist schrecklich. Doch du musst es erfahren. Eines Tages hilft es dir vielleicht, zu begreifen, was du da in deinen Händen hältst.«
Meine Augen wanderten von seinem Gesicht zu dem Stück Metall in meinen Fingern. Ich konnte die Symbole auf seiner Oberfläche nicht deuten. Sie wirkten wie verzerrte Buchstaben, mit geometrischen Formen, Linien und Punkten durchsetzt. Das Metall fühlte sich eigenartig warm an, die fein verzierten Ränder verloren sich in fraktalen Strukturen. In jeder der beiden Halbmondspitzen war ein kleines Loch, als ob das Artefakt einst Teil von etwas Größerem gewesen wäre.
»Nachdem das Geschütz uns getroffen hatte, waren all die anderen Jungen weg - einfach ausgelöscht. Meine Seite war taub, von Steinen und Splittern aufgerissen. Ich konnte mich aber noch bewegen. Mit einem Pfeifen in den Ohren drehte ich mich auf den Rücken. Und durch eine Fügung des Schicksals war ich am Leben, um das Folgende mit anzusehen.
Ein großer Mann mit Mantel und Mütze der sowjetischen Armee kam den verwüsteten Hügel hinabgestolpert. Seine Züge waren starr, seine Bewegungen wie automatisch. Doch er hatte die Deutschen schneller entdeckt als sie ihn. Er warf sich nach vorn, griff nach der gezogenen Waffe in der Hand des Soldaten und schoss ihm damit in den Leib, bis er keine Kugeln mehr hatte. Mit dem nächsten Schritt hatte er zwei weitere Soldaten gepackt. Er schlug ihre Köpfe zusammen, sodass es ihnen die Helme zerbrach. Die Männer fielen tot zu Boden. Und schließlich drehte der Russe sich zu mir um. Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen.
Wir hatten Ratten gegessen, June. Wir waren schwach. Dieser Mann hingegen war stark - er kam mir wie ein Heiliger vor. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als mir klar wurde, dass er ein Racheengel war, der mit gerechtem Zorn den Schlachtenrauch durchschritt.
Und ich erinnere mich, dass ich gelächelt habe, obwohl meine aufgeplatzten Lippen bluteten. Ich hatte das Gefühl, dass ich in gewisser Weise Zeuge der Wahrheit, ja der Verkörperung von Gerechtigkeit wurde.
Eine Luke des Panzers ging auf, der Nazikommandant kam zum Vorschein und schoss mit seiner Maschinenpistole. Die Kugeln schlugen nur so in den Rücken des Engels ein. Er stolperte und fiel wie ein gewöhnlicher Mann, lag verkrümmt zwischen den Leichen meiner Freunde.
Argwöhnisch kletterte der Kommandant aus dem Panzer. Bemühte sich, in jede Richtung gleichzeitig zu schauen. Dieser Mann hatte die wütende Rache Gottes gesehen und wusste, dass man über ihn gerichtet hatte. Ich blieb ganz still liegen, atmete flach, lugte unter meiner schiefen Uschanka-Mütze hervor und versuchte, nicht vor Furcht zu zittern.
Der Todgeweihte beugte sich vor, um die Leiche zu inspizieren. Ich weiß nicht, was er erblickte, aber ich werde nie vergessen, was für ein Gesicht er dabei machte. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. Mit wehendem Mantel wirbelte er herum und schrie dem Fahrer seines Panzers einen Befehl zu. Dabei wandte er sich...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.