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Sevilla – Donnerstag, 14. September 2006, 19.30 Uhr
Der eiskalte Wodka rann durch Wasili Lukjanovs Kehle, während der Verkehr auf der neuen Autobahn von Algeciras nach Jerez de la Frontera an dem Parkplatz vorbeidonnerte. In der Hitze hatten sich sofort Schweißperlen in seinem dunklen Haar gebildet, als er neben dem offenen Kofferraum des Range Rover Sport stand. Er wartete auf die einbrechende Dunkelheit, weil er das letzte Stück bis Sevilla nicht bei Tageslicht fahren wollte. Er trank, rauchte, aß und dachte an die vergangene Nacht mit Rita. Die Erinnerung an ihren unglaublichen Mund erregte ihn sofort wieder. Mein Gott, sie wusste, wie sie es ihm zu besorgen hatte. Es tat ihm leid, sie zurückzulassen. Sie war perfekt abgerichtet.
Das Blut pulsierte heftig durch seine Halsschlagader, als er zu dem schwarzen Samsonite-Koffer blickte, der aufrecht neben der offenen Kühlbox mit den Champagner- und Wodka-Flaschen stand. Er nahm einen weiteren Bissen von seinem bocadillo, riss den Schinken genussvoll mit den Zähnen ab und schwenkte seinen eiskalten Wodka. Eine weitere sinnliche Impression der vergangenen Nacht mit Rita blitzte vor seinen Augen auf. Ihre celloartige Taille, die karamellfarbene Haut, weich wie ein Sahnebonbon unter seinen knetenden Fingern. Ein Krümel des Brötchens rutschte ihm in die Luftröhre. Er schnappte nach Luft, seine Augen traten hervor, bis er zuletzt würgend hustete. Ein zerkauter Klumpen Schinken und Brot segelte über das Dach des Range Rover. Ganz sachte, dachte er. Jetzt bloß nicht auf einem Autobahnparkplatz neben vorbeidonnernden LKWs ersticken, wo seine ganze Zukunft doch vor ihm lag.
Pepe Navajas hatte gerade die Stahlstangen, die zwanzig Säcke Zement und die Holzbretter für den Bau der verstärkten Betonsäulen verladen, die er neben dem Klempnerwerkzeug, der Sanitärkeramik und den Wand- und Bodenfliesen gestapelt hatte. Er würde für seine Tochter und seinen Schwiegersohn einen Anbau errichten, weil sie gerade Zwillinge bekommen hatten und in ihrem kleinen Haus in Sanlúcar de Barrameda mehr Platz brauchten. Außerdem hatten sie kein Geld. Also hatte Pepe das gesamte Material so billig wie möglich gekauft und erledigte, weil sein Schwiegersohn handwerklich völlig unbegabt war, an Wochenenden auch die Arbeiten selber.
Pepe parkte den schwer beladenen Laster vor einem Restaurant in Dos Hermanas, ein paar Kilometer vor dem Anfang der neuen Autobahn nach Jerez de la Frontera. Er hatte ein oder zwei Bier mit den Jungs vom Baumarkt getrunken. Jetzt wollte er früh zu Abend essen und auf die Dämmerung warten, weil er sich vormachte, dass die Guardia Civil zwischen Dämmerung und Dunkelheit weniger aufmerksam war und erst später mit ihren Fahrzeugkontrollen begann, wenn wahrscheinlich mehr Leute betrunken am Steuer saßen.
Kurz nach 23 Uhr schaltete Wasili zum ersten Mal an diesem Tag sein Handy an. Er hatte der Versuchung widerstanden, bis er die Mautstelle auf dem letzten Stück Autobahn nach Sevilla passiert hatte, weil er wusste, was kam. Es war schon eine Weile her, seit er zum letzten Mal einen ganzen Tag für sich verbracht hatte, und er platzte förmlich vor Mitteilungsbedürfnis. Der erste Anruf ging nur Sekunden später ein und kam wie erwartet von seinem alten Waffenbruder Alexej.
»Bist du allein, Wasja?«, fragte Alexej.
»Ja«, sagte Wasili mit vom Wodka schwerer Zunge.
»Ich will dich nicht beunruhigen«, sagte Alexej. »Sonst fährst du noch in den Graben.«
»Rufst du an, um mich zu beunruhigen?«, fragte Wasili.
»Wie wär’s damit?«, erwiderte Alexej. »Leonid ist aus Moskau zurück.«
Schweigen.
»Hast du mich gehört, Wasja? Ich breche nicht zusammen oder irgendwas. Aber Leonid Revnik ist in Marbella.«
»Er sollte doch erst nächste Woche wieder hier sein.«
»Er ist früher zurückgekommen.«
Wasili öffnete das Fenster einen Spalt und schnupperte die warme Abendluft. Es war stockfinster, flache Felder zu beiden Seiten der Straße, in der Ferne nur Rücklichter, kein Gegenverkehr.
»Was hatte Leonid denn zu sagen?«, fragte er.
»Er wollte wissen, wo du bist. Ich hab ihm gesagt, du wärst im Club, aber von da kamen sie gerade«, berichtete Alexej. »Sie haben dein Büro verschlossen und Kostja bewusstlos auf dem Boden gefunden.«
»Bist du im Augenblick allein?«, fragte Wasili argwöhnisch.
»Leonid weiß schon, dass du zu Juri Donstov übergelaufen bist.«
»Und was soll dann der Anruf? Eine Warnung?«
»Ich wollte mich selbst vergewissern, dass Leonid nicht lügt.«
»Etwas aus deinem Büro fehlt«, sagte Alexej. »Das hat er mir auch erzählt.«
Wasili schloss das Fenster wieder und seufzte. »Es tut mir leid, Aljoscha.«
»Rita hat schwer Prügel für dich bezogen. Ich habe sie nicht gesehen, aber Leonid hatte das Tier bei sich – du weißt schon, der Typ, mit dem nicht mal die moldawischen Mädchen mitgehen.«
Wasili schlug fünf Mal auf das Lenkrad. Die Hupe plärrte laut in die Nacht.
»Ganz ruhig, Wasja.«
»Es tut mir leid, Aljoscha, verdammt leid. Was kann ich sonst noch sagen?«
»Na, das ist immerhin etwas.«
»So sollte es nicht ablaufen. Leonid sollte erst nächste Woche zurückkommen. Ich wollte mit Juri reden und seine Erlaubnis einholen, dich mit an Bord zu holen. Du solltest dabei sein. Das weißt du doch. Ich musste bloß …«
»Das ist ja gerade der Punkt, Wasja. Ich wusste es nicht.«
»Ich konnte es dir nicht erzählen. Du bist zu dicht dran, Aljoscha«, sagte Wasili. »Juri hat mir ein Angebot gemacht, das Leonid mir in einer Million Jahren nicht gemacht hätte.«
»Aber ohne mich. Du wolltest nicht, dass ich dir den Rücken freihalte … aber das ist jetzt auch scheißegal«, fügte Alexej noch hinzu und schwieg dann. »Was war das, Wasja?«
»Nichts.«
»Ich hab es gehört. Du heulst.«
»Na Scheiße, schönen Dank auch«, sagte Alexej. »Wenigstens bist du verdammt noch mal traurig, Wasja.«
Pepe war ein wenig später als geplant und mit ein paar mehr Drinks intus als beabsichtigt wieder auf der Straße, alles bloß wegen dem Fußball: Der FC Sevilla hatte ein UEFA-Cup-Spiel in Athen gewonnen, und er hatte sich von der Euphorie nach dem Spiel anstecken lassen und sein Abendessen mit Wein und einem Weinbrand zum Abschluss genossen. Jetzt hatte er das Autoradio voll aufgedreht und sang laut mit, als sein Lieblingsflamencosänger El Camarón de la Isla aus den Boxen dröhnte. Was für eine Stimme. Sie machte ihn wehmütig.
Vielleicht fuhr er ein wenig zu schnell, aber es herrschte kaum Verkehr, und die Spuren der Autobahn wirkten so breit und hell erleuchtet wie die Rollbahn eines Flughafens. Die Musik übertönte das Geklapper der Stahlstangen. Er war glücklich, hüpfte auf seinem gefederten Sitz auf und ab und freute sich, seine Tochter und die Babys wiederzusehen. Seine Wangen waren tränenfeucht.
Und genau in diesem Augenblick, auf dem Gipfel seiner Glückseligkeit, platzte ein Reifen. Das Geräusch war so laut, dass es die Fahrerkabine durchdrang. Ein gedämpftes Rumpeln wie von fernem Geschützfeuer, gefolgt von dem eigentlichen Riss, mit dem sich der Reifen von der Felge löste und um den Radkranz schlug. Pepes Magen sackte mit dem Wagen, der nach links ausscherte. In einer Pause der Musik hörte er, wie Reifenfetzen gegen die Seite des Lasters schlugen und blankes Metall auf dem Asphalt kreischte. Der Strahl seiner Scheinwerfer, der stetig zwischen den Spuren ausgerichtet gewesen war, schlingerte über den weißen Streifen, und obwohl sich alles zu verlangsamen schien, sodass seinen weit aufgerissenen Augen kein Detail entging, sagte ihm sein Instinkt, dass er bedrohlich schnell in einem Fahrerhäuschen mit sehr schwerer Last auf der Ladefläche unterwegs war.
Ein Gefühl der Angst bohrte sich in seine Eingeweide, doch mit dem Alkohol im Blut war er gerade noch geistesgegenwärtig genug, das Lenkrad zu packen, das eigene Kräfte entwickelte. El Camarón fing gerade wieder an zu singen, als Pepes Laster in die Leitplanke des Mittelstreifens krachte. Erst mit diesem abrupten Stopp wurde ihm das volle Ausmaß seiner Geschwindigkeit bewusst, als er durch die Windschutzscheibe in die warme Abendluft katapultiert wurde. Über der klagenden Stimme von El Camarón hörte er das letzte Geräusch, das sein verwirrter Verstand noch zu verarbeiten in der Lage war: Stahlträger, die sich gelöst hatten und wie eine Batterie Speere in einen Tunnel herannahenden Lichts geschleudert wurden.
Wasili weinte, weil er gerade das außergewöhnliche menschliche Geschenk erlebt hatte, ein ganzes Leben in einem einzigen emotionalen Augenblick zu komprimieren. In sechs Jahren Dienst in Afghanistan hatte Alexej ihm sieben Mal die Haut gerettet. Und nachdem er jahrelang alle Kämpfe gegen die Paschtunen überlebt hatte, würde Alexej jetzt in einem Waldstück an der Costa del Sol von seinen eigenen Leuten mit einem Schuss in den Hinterkopf erledigt werden, nur weil er Wasili Lukjanovs beschissener bester Freund war.
»Sag Leonid …«, setzte er an, als er irgendetwas Blitzendes wahrnahm, das auf ihn zusauste, eine eigenartige Unruhe in der Luft. »Was zum Henker …?«
Die Stahlstangen schossen mit erwartungsvoll zitternden Enden wie von seinem Scheitelpunkt angezogen in den Lichtkegel.
Und schlugen mit explosiver Wucht ein.
Reifen schmierten Gummispuren auf die dunkle Straße und stießen auf ein unsichtbares Hindernis. Der Range Rover hob...
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