Schweitzer Fachinformationen
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Über den Tag verteilt wenden wir Frauen unbewusst viele subtile Strategien an, um uns zu schützen. Vor Schatten und unsichtbaren Räubern. Vor abschreckenden Beispielen und modernen Mythen. So subtil sogar, dass es uns selbst kaum bewusst ist.
Wir machen vor Einbruch der Dunkelheit Feierabend. Drücken mit einer Hand die Handtasche an die Brust und halten mit der anderen die Schlüssel wie eine Waffe, während wir zu unserem Auto gehen, das wir strategisch günstig unter einer Straßenlaterne geparkt haben für den Fall, dass wir es doch nicht schaffen, Feierabend zu machen, bevor es dunkel wird. Am Auto angekommen, sehen wir zuerst auf den Rücksitz, bevor wir die Fahrertür entriegeln. Wir halten das Telefon fest in der Hand, den Zeigefinger nur ein Wischen vom Notruf entfernt. Steigen ein. Verriegeln die Türen wieder. Trödeln nicht herum. Fahren zügig los.
Ich verlasse den Parkplatz neben meinem Praxisgebäude und fahre stadtauswärts. Als ich an einer roten Ampel halten muss, werfe ich einen Blick in den Rückspiegel - aus Gewohnheit vermutlich - und zucke zusammen. Ich sehe mitgenommen aus. Es ist schwül draußen, so schwül, dass ein dünner Film meine Haut überzieht und mein normalerweise glattes braunes Haar sich an den Spitzen ein wenig gelockt hat, auf eine Art, wie es nur der Sommer in Louisiana fertigbringt.
Sommer in Louisiana.
Wie emotional aufgeladen diese Worte sind. Ich bin hier aufgewachsen. Nun ja, nicht direkt hier. Nicht in Baton Rouge. Aber in Louisiana. In einer kleinen Stadt namens Breaux Bridge - der Flusskrebshauptstadt der Welt. Auf diese Auszeichnung sind wir aus irgendeinem Grund stolz. Genauso wie Cawker City, Kansas, bestimmt stolz auf sein über zwei Tonnen schweres Garnknäuel ist. So etwas verleiht einem ansonsten unbedeutenden Ort eine oberflächliche Bedeutung.
Breaux Bridge hat außerdem nicht einmal zehntausend Einwohner, was bedeutet, dass jeder jeden kennt. Und insbesondere kennt jeder mich.
Als ich jung war, lebte ich nur für den Sommer. Ich habe so viele Erinnerungen, die mit den Sümpfen verknüpft sind: Alligatoren suchen im Lake Martin und kreischen, wenn ich ihre wachsamen Augen in einem Algenteppich lauern sah. Das Lachen meines Bruders, wenn wir wegrannten und dabei schrien: «See ya later, alligator!» Perücken aus dem Louisianamoos basteln, das in unserem riesigen Garten hing, und danach tagelang die Herbstmilben aus meinem Haar pflücken und klaren Nagellack auf die juckenden roten Quaddeln auf der Haut streichen. Mit einer Drehung den Schwanz eines frisch gekochten Krebses abziehen und den Kopf aussaugen.
Aber die Erinnerungen an den Sommer bringen auch Erinnerungen an Angst mit sich.
Ich war zwölf, als die Mädchen verschwanden. Mädchen, die kaum älter waren als ich. Das war im Juli 1999, und anfangs zeichnete sich nur ein weiterer heißer, schwüler Sommer in Louisiana ab.
Bis er das eines Tages nicht mehr war.
Ich weiß noch, wie ich frühmorgens in die Küche kam und mir den Schlaf aus den Augen rieb. Meine mintgrüne Decke schleifte hinter mir über den Linoleumboden. Mit dieser Decke hatte ich schon als Baby geschlafen. Als ich meine Eltern dicht nebeneinander vor dem Fernseher sitzen und besorgt miteinander flüstern sah, zwirbelte ich den Stoff zwischen den Fingern, ein nervöser Tic von mir; die Kanten der Decke waren schon ganz ausgefranst.
«Was ist denn los?»
Sie drehten sich um und rissen die Augen auf, als sie mich sahen. Dann schalteten sie den Fernseher aus, ehe ich etwas sehen konnte.
Dachten sie jedenfalls.
«Ach, Liebes», sagte mein Vater, kam zu mir und umarmte mich fester als sonst. «Nichts ist los, Liebling.»
Aber es war nicht nichts. Schon da wusste ich, dass es nicht nichts war. Die ungewöhnlich feste Umarmung meines Vaters, die bebende Unterlippe meiner Mutter, als sie sich zum Fenster umdrehte - genauso wie Laceys Lippe heute Nachmittag bebte, als sie sich zwang, sich einzugestehen, was sie längst gewusst hatte. Was sie zu verdrängen, zu leugnen versucht hatte. Ich hatte einen kurzen Blick auf die leuchtend rote Schlagzeile am unteren Bildschirmrand erhascht, und sie hatte sich mir bereits ins Gedächtnis gebrannt, eine Ansammlung von Worten, die das Leben, wie ich es bisher gekannt hatte, für immer verändern sollte.
Mädchen aus Breaux Bridge verschwunden
Wenn man zwölf ist, hat MÄDCHEN VERSCHWUNDEN nicht die gleiche unheilvolle Bedeutung, die es hat, wenn man älter ist. Man denkt nicht automatisch an das Allerschlimmste: Entführung, Vergewaltigung, Mord. Ich weiß noch, dass ich dachte: Wo denn verschwunden? Vielleicht hatte sie sich ja verirrt. Das Haus meiner Familie stand auf einem über vier Hektar großen Grundstück; ich hatte mich schon oft verirrt, wenn ich im Sumpf auf Krötenfang ging oder die unerforschten Waldstücke erkundete, meinen Namen in irgendeinen Baumstamm ritzte oder aus moosbewachsenen Stöcken Festungen baute. Einmal war ich sogar in einer kleinen Höhle stecken geblieben, dem Bau irgendeines Tiers, dessen unregelmäßiger Eingang zugleich furchteinflößend und verlockend war. Ich weiß noch, wie mein Bruder mir ein altes Seil um den Knöchel band, während ich flach auf dem Bauch lag und mich dann in die kalte, dunkle Leere hineinwand, zwischen den Lippen eine Schlüsselanhänger-Taschenlampe; wie ich mich ganz verschlingen ließ von der Dunkelheit, immer tiefer hineinkroch - und schließlich blankes Entsetzen, als ich merkte, dass ich feststeckte. Als ich im Fernsehen die Bilder von der Suchmannschaft sah, die dichtes Unterholz durchkämmte und durch die Sümpfe watete, fragte ich mich daher unwillkürlich, was passieren würde, falls ich jemals «verschwinden» würde. Ob die Leute nach mir genauso suchen würden wie jetzt nach diesem Mädchen.
Die taucht schon wieder auf, dachte ich. Und dann ist es ihr bestimmt peinlich, dass man ihretwegen so einen Aufstand gemacht hat.
Doch sie tauchte nicht wieder auf. Und drei Wochen später verschwand ein weiteres Mädchen.
Vier Wochen danach noch eines.
Am Ende des Sommers waren sechs Mädchen verschwunden. Am einen Tag waren sie noch da, und am nächsten - weg. Spurlos verschwunden.
Nun sind sechs verschwundene Mädchen immer sechs zu viel, aber Breaux Bridge ist so klein, dass eine auffällige Lücke im Klassenzimmer entsteht, wenn nur ein Kind die Schule verlässt, oder es merklich stiller in einem Wohnviertel wird, wenn eine einzige Familie wegzieht. Für eine so kleine Stadt waren sechs vermisste Mädchen eine fast unerträgliche Zerreißprobe. Ihre Abwesenheit war unmöglich zu ignorieren; sie war etwas Böses, das am Himmel über uns hing wie ein aufziehendes Unwetter, das man in den Knochen spürt. Man konnte es spüren, schmecken, in den Augen jedes Menschen lesen, dem man begegnete. Tiefes Misstrauen herrschte in unserer sonst so vertrauensseligen Stadt, ein Argwohn, der sich nicht mehr abschütteln ließ. Uns alle beschäftigte dieselbe unausgesprochene Frage.
Wer ist die Nächste?
Ausgangssperren wurden verhängt; Geschäfte und Restaurants schlossen bei Einbruch der Dunkelheit. Wie allen anderen Mädchen in der Stadt war es auch mir verboten, im Dunkeln draußen zu sein. Sogar tagsüber spürte ich das Böse hinter jeder Ecke lauern. Das beklemmende Vorgefühl, dass ich es sein würde - dass ich die Nächste sein würde -, war immer da, immer präsent.
«Dir passiert schon nichts, Chloe. Du hast keinen Grund, dir Sorgen zu machen.»
Ich weiß noch, wie mein Bruder an diesem Morgen seinen Rucksack aufsetzte und sich für das Ferienlager fertig machte; ich weinte wieder, ich hatte Angst, das Haus zu verlassen.
«Sie hat sehr wohl Grund, sich Sorgen zu machen, Cooper. Das ist eine ernste Sache.»
«Chloe ist zu jung. Sie ist erst zwölf. Er mag Teenager, schon vergessen?»
«Cooper, bitte.»
Meine Mutter ging in die Hocke, sah mir in die Augen und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr.
«Es ist eine ernste Sache, Schatz, aber sei einfach vorsichtig. Sei wachsam.»
«Steig nicht zu Fremden ins Auto», sagte Cooper und seufzte. «Geh nicht allein durch dunkle Gassen. Es ist alles ziemlich logisch, Chlo. Stell dich einfach nicht dumm an.»
«Diese Mädchen haben sich nicht dumm angestellt», fuhr meine Mutter ihn an, leise, aber in scharfem Ton. «Sie hatten Pech. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort.»
Jetzt biege ich auf den Parkplatz der Apotheke ein und halte am Autoschalter. Hinter dem Schiebefenster steht ein Mann und verpackt verschiedene Fläschchen in Papiertüten. Er schiebt das Fenster auf, blickt aber nicht hoch.
«Name?»
«Daniel Briggs.»
Jetzt sieht er mich an: eindeutig kein Daniel. Er tippt etwas auf seiner Computertastatur und fragt dann: «Geburtsdatum?»
«2. Mai 1982.»
Er wendet sich ab und durchsucht den B-Korb. Ich verfolge, wie er eine Papiertüte herauszieht und sich damit wieder zu mir umdreht, und ich umklammere das Steuer, damit er nicht sieht, wie meine Hände zittern. Er hält den Scanner über den Barcode, und ich höre einen Piepton.
«Haben Sie Fragen zu diesem Medikament?»
«Nein.» Ich lächle ihn an. «Alles klar.»
Er reicht mir die Tüte durchs Fenster....
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