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Kapitel 1
In alten Zeiten wurden am Altar Opfer gebracht -
eine Praxis, die bis heute fortgeführt wird.
HELEN ROWLAND
THERESA
Long Island, New York, am zweiten Tag des Jahres 1922
IN DER NACHT TRÄUME ICH, dass mein Ehemann unerwartet aus Manhattan eintrifft, umhüllt von einer stickigen Abgaswolke seines Buick Battistini Speedster, und lassen Sie mich Ihnen sagen, dass mir sein plötzliches Auftauchen mehr als ungelegen kommt.
Allerdings erscheint mir diese Möglichkeit jenseits meiner fieberhaften Träume als ausgesprochen unwahrscheinlich. Ohne Zweifel liegt der echte Mr. Marshall in dem Moment, in dem mein Traum-Ehemann mit den Rädern seines Buick draußen den Traum-Kies aufwühlt, in walähnlichem Schlummer auf dem Bett in dem schmucken Apartment am Sutton Place, das er für seine Geliebte gekauft hat. Die zweite Nacht des neuen Jahres ist als fester Termin für außereheliche Beschäftigungen im Kalender eingetragen. Auf alle Fälle zählt der echte Mr. Marshall nicht zu der Sorte Mann, die bei Tagesanbruch einen vereisten Highway entlangrasen, um seine Ehefrau aufzuschrecken. Mr. Marshalls Manieren sind untadelig.
Trotzdem genügt mein Traum, um mich aus dem Schlaf hochschrecken zu lassen, erregt und atemlos, herausgerissen aus dem Zustand selbstvergessener Ruhe. Der Raum ist erfüllt von jenem dunkelgrauen Licht, das kurz vor Anbruch der Morgendämmerung herrscht, und da es sich um eine kleine, ungeheizte, ungestrichene Kammer über einer alten Remise mit den verstaubten Überresten zweier Kutschen darin handelt, die dank der Erfindung von Mr. Ford ausgedient haben, weiß ich zunächst nicht genau, wo ich bin, abgesehen davon, dass mir der Ort vertraut erscheint.
Die Matratze gibt unter meiner Hüfte nach, das Flanelllaken riecht modrig wie die Laken in einer Hütte in den Adirondacks. Ich werde niedergedrückt von dem Gewicht von tausend Wolldecken; jemand raucht eine Zigarette.
Ich drehe mich auf die Seite. »Boyo?«
Der Junge steht am Fenster, farblich abgestimmt auf den Rauch, der sich von der Zigarette in seiner Hand in die Höhe kräuselt. Seine Schultern haben exakt die Breite des Schiebefensters und bilden mit dem Rahmen eine Linie. Ich habe vergessen, worum genau es in meinem Traum ging, auch, warum er mich erschreckt hat; mein Atem normalisiert sich wieder bei diesem unleugbaren Beweis männlicher Gesellschaft. Ohne sich umzudrehen, ohne das leiseste Zucken - er ist wahrhaftig der stillste Mann, den ich je kennengelernt habe - sagt er: »Ich frage mich, ob du mich auch noch so nennst, wenn ich sechzig bin.«
Ja, der Raum ist dunkel und kalt, und die Decken sind schwer, und unter diesen Decken bin ich so nackt wie ein unschuldiges Baby, obwohl die Ähnlichkeit zwischen Babys und Unschuld dort auch schon endet. Ich setze mich auf und strecke meine Arme aus. »Du wirst immer mein Boyo sein. Mein herzallerliebster Junge.«
Er tritt ans Bett und lässt sich auf die Kante sinken, um sich gehorsam meiner Umarmung zu fügen. Seine Haut ist eiskalt, das Fleisch darunter glühend heiß. »Da draußen ist ein Wagen«, bemerkt er beiläufig, nachdem er mich geküsst hat, als falle diese Information nicht weiter ins Gewicht.
Ich stutze. Die Arme des Jungen, die rechts und links auf meiner Hüfte liegen, halten mich davon ab, allzu heftig zusammenzuschrecken.
»Ein Wagen?«
»Ja.«
»Welches Fabrikat?«
»Das kann ich nicht sagen. Es ist zu dunkel.« Er hebt meinen Arm und küsst die Haut an der Innenseite meines Ellbogens.
»Limousine oder Coupé?«
»Coupé. Halt doch still!
Mit Mühe löse ich meinen Arm von seinen Lippen, was er nicht zulassen will. »Um Gottes willen, Boyo, bist du verrückt geworden? Wo sind meine Sachen?«
»Warum? Er steigt nicht aus.«
Ich fluche. Der Junge, dem es nicht gefällt, wenn ich den Namen seines Herrn missbrauche, legt seinen Daumen auf meine Lippen. Ich öffne den Mund und beiße ihn.
»Autsch!«
»Das ist Sylvo. Das muss Sylvo sein.«
»Na und?«
»Na und? Was soll die Frage? Mein Mann steht vor der Tür!«
»Er steht nicht vor der Tür, Theresa. Er sitzt im Wagen. Raucht eine Zigarette. Vermutlich angetrunken.«
»Aber irgendwann wird er ja aussteigen.«
»Vielleicht.« Der Junge zuckt die Achseln. »Kein Grund, ihn zur Eile anzutreiben.«
Es hat wenig Sinn, den Jungen aufzustacheln, wenn er sich doch nicht aufstacheln lässt. Seine Kaltblütigkeit hat ihn Frankreich überleben lassen, und ich nehme an, dass das jetzt nicht anders sein wird. Es ist Sylvester, um den ich mir Sorgen mache. Ich sinke zurück in die Kissen. Der Junge folgt mir ins Bett. »Du musst dich im Schrank verstecken, wenn er doch raufkommt«, sage ich zu ihm.
»Ich werde mich in keinem Schrank verstecken.«
»Doch, wirst du. Ich möchte keine Szene, Boyo.«
Der Junge raucht seine Zigarette in aller Seelenruhe zu Ende, atmet den Rauch von seinem Mund direkt in meinen und drückt die Kippe in der Sardinenbüchse auf dem Fußboden neben dem Bett aus. (Der Junge ist ungeheuer einfallsreich, was das Improvisieren von Aschenbechern angeht.) Er kennt sein Ziel genau, und er wendet während dieser kleinen Operation den Blick nicht von meinem Gesicht ab. Ich denke, das ist eine der kleinen Eigenheiten, die mich vor all den Monaten zu ihm hingezogen haben: seine Konzentration. Seine Weigerung, sich zur Eile antreiben zu lassen. »Es gibt nur einen Grund, warum dein Mann hier ist«, sagt er, »er weiß, dass ich da bin. Es macht also keinen Sinn, sich in irgendwelchen Schränken zu verstecken, vorausgesetzt, wir hätten einen Schrank und ich wäre gewillt, darin zu verschwinden. Was ich nicht bin.«
»Warum machst du es mir so schwer?«
»Warum machst du es mir so schwer?« Er nimmt eine Strähne meines Haars, reibt sie sanft zwischen Daumen und Zeigefinger und streicht sie mir dann ordentlich hinters Ohr. »Ich spiele nach deinen Regeln, oder etwa nicht? Ich tue, was du willst.«
»Meistens.«
»Also gut. Dann lass mich die Sache diesmal in die Hand nehmen.«
Er senkt den Kopf auf meinen Hals. Ich lege ihm beide Hände auf die Schultern und drücke - ohne großen Erfolg. »Wie kannst du mich in einem solchen Moment küssen?«
»Weil ich dein Junge bin, oder etwa nicht? Du bist mein Baby. Dich zu küssen ist das, was ich nach einem harten Arbeitstag tue. Deshalb funktioniere ich. So bin ich.«
Der Junge ist wie ein Schilfrohr oder vielmehr wie ein Seil - ja, das ist es -, ein Seil, zu einem festen Knoten geschlungen, starr, unverbrüchlich. Wenn er hier sitzen und mich küssen will, werde ich ihn nicht aufhalten, zumindest nicht gewaltsam. Man kann den Jungen zu nichts zwingen, dazu müsste man zunächst den Knoten lösen. Nur seine Lippen sind weich und nachgiebig.
So bin ich, sagt er. Aber wer bist du, Boyo? Dieses Rätsel beschäftigt mich seit eineinhalb Jahren, und unter diesen Umständen wird es das wohl ewig tun.
Also lasse ich mir etwas einfallen. »Ich bin kein Baby«, sage ich. »Wenn du sechzig bist, bin ich zweiundachtzig.«
»Nun ja, ich sehe das so: Solange ich dein Junge bin, bist du mein Baby.«
Solange er mein Junge ist. Aber stellt sich dann nicht die Frage, wer ich bin, Boyo? Wieso zerbreche ich mir hier über dich den Kopf? Wie bin ich - Mrs. Theresa Marshall aus der Fifth Avenue in Manhattan - zu einer Hälfte von Du-und-ich geworden?
Ich glaube nicht, dass ich die Antwort kenne. Irgendetwas ist mir abhandengekommen. Etwas in diesem Du-und-ich, und ich nehme an, dass ich es bin.
Er ist zweiundzwanzig, mein Junge, und daher in den Augen des Allmächtigen und des Gesetzes ein Mann. Er sieht aus wie ein Mann, jetzt noch mehr als damals, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Das war im Sommer 1920, vor anderthalb Jahren, und er war ein Mann im Körper eines Jungen, eines Jungen mit perfekt rosa Wangen, jungen Lippen und alten Augen. Wie er seinen Blick auf mich heftete! Es war berauschend, müssen Sie wissen. Es war Sommer, eine spätabendliche Party zum Vierten Juli auf Long Island, warm und träge und synkopisch, dunkel und traumähnlich. Die schwüle Luft ließ den Beschlag von den Longdrink-Gläsern in die Handflächen der Gäste rinnen. Jemand erzählte mir, er sei Kampfpilot in Frankreich gewesen und gerade erst zurückgekehrt, der einzige Überlebende aus seiner Schwadron, aber behaupten sie das nicht immer? Der einzige Mann aus seiner Schwadron, der lebend nach Hause zurückgekehrt ist! Es sind niemals drei Überlebende oder zehn, immer nur einer. All die anderen armen Schweine müssen sterben, um das Cocktailparty-Geplauder ein bisschen aufregender zu machen, atemloser, den mittsommerlichen Ennui weniger erdrückend.
Er stand neben dem Swimmingpool. Ich fand, er sei viel zu jung für mich, aber vielleicht weckte gerade das meine Neugier. Als ich in seine Richtung schlenderte, bemerkte ich seinen durchdringenden Blick und die kleinen Wellen der Wasseroberfläche, deren Schatten auf seinem Gesicht tanzten und von Form und Größe her an die Flecken eines Leoparden erinnerten. Dieser erste Eindruck - der Junge als Raubkatze - war der Auslöser für mein Interesse an ihm, und es dauerte nicht lange, bis mir bewusst wurde, wie sehr ich mich getäuscht hatte.
Aber da war es natürlich schon viel zu spät.
Er hat eine ganz bestimmte Art, mich Dinge vergessen zu lassen,...
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