2. KAPITEL
"Und nun schauen Sie sich den Krug an. George, sehen Sie, wie er das Herzstück des gesamten Arrangements bildet? Mit den beiden anderen Stücken im Hintergrund, sodass das Ganze eine geometrische Figur bildet? Wenn Sie den Krug ein wenig kleiner machen, kommen wir der Sache schon sehr nahe."
Zum x-ten Mal ertappte Delilah sich dabei, wie ihr Blick zur Tür wanderte, in der Erwartung, Daniel dort zu sehen.
Vorbei war es mit der Ruhe, die sie auf ihrem kurzen Ausflug aus der grauen Realität so genossen hatte. Die Begegnung mit ihm hatte sie vollkommen aus der Bahn geworfen. Und es war nicht nur sein Aussehen, das sie so fesselte. Ihn umgab eine Aura von Wachsamkeit, die sie seltsamerweise unglaublich anziehend fand.
Sie betrachtete ihn durch die Augen eines Künstlers - zumindest redete sie sich das immer und immer wieder ein. Er war vollkommen anders als jeder andere Mann, dem sie bisher begegnet war. Alles an ihm strahlte Autorität und Macht aus. Dabei, so sagte sie zu sich selbst, ist er vermutlich nur ein Rucksacktourist.
Ein Reisender.
Und dennoch schaute sie in regelmäßigen Abständen immer wieder zur Tür. Und als diese sich eine halbe Stunde nach Workshop-Beginn tatsächlich öffnete, atmete sie scharf ein.
"Alle mal kurz herhören", rief sie, und sämtliche Teilnehmer des Workshops blickten auf. "Ich möchte euch gern ein neues Mitglied unseres Kurses vorstellen. Sein Name ist Daniel, und er ist ein aufstrebender Künstler. Bitte heißt ihn herzlich willkommen und helft ihm, wenn ich gerade anderweitig beschäftigt sein sollte." Sie wandte sich an Daniel. "Ich habe einen Platz mit einer Staffelei für Sie vorbereitet. Sie haben mir nie gesagt, auf welcher Stufe ich Sie einordnen darf ."
Daniel glaubte nicht, dass es für seine Fähigkeiten eine eigene Stufe gab. "Anfänger." Sein Lächeln schloss jede einzelne Person im Raum mit ein und wurde von allen Seiten erwidert, ehe sich die anderen Teilnehmer wieder ihren eigenen Kunstwerken zuwandten.
"In dem Fall schlage ich vor, dass Sie mit dem Bleistift anfangen. Suchen Sie sich eine Härte aus, mit der Sie sich wohlfühlen, und versuchen Sie einfach mal, das Arrangement auf dem Tisch zu zeichnen."
Sie war unglaublich ermutigend. Für jeden Kursteilnehmer fand sie ein paar warme, freundliche Worte, selbst wenn die meisten Arbeiten unglaublich amateurhaft aussahen. Sie nahm sich die Zeit, Fragen zu beantworten und Hilfestellungen zu geben, wo immer welche benötigt wurden. Wäre sie damals in der Schule seine Kunstlehrerin gewesen, hätte er vermutlich mehr Interesse für das Fach aufgebracht.
Er schaffte es, etwas zu zeichnen, das vage an eins der Objekte auf dem Tisch erinnerte, als der Unterricht sich dem Ende zuneigte. Doch anstatt mit den anderen den Raum zu verlassen, blieb er an seinem Platz.
Delilah spürte seine Blicke, während sie die Utensilien zusammenräumte, die ihre Schüler benutzt hatten. Den gesamten Unterricht über war sie sich seiner Anwesenheit im hinteren Bereich des Raumes mehr als deutlich bewusst gewesen. Wie er dort saß, lässig im Stuhl zurückgelehnt, und anscheinend rein gar nichts tat. Sie war kaum in der Lage gewesen, sich auf irgendetwas zu konzentrieren.
Jetzt wandte sie sich zu ihm um, ein höfliches Lächeln auf den Lippen. "Wollen Sie nicht mit den anderen zu Mittag essen?"
Daniel verschränkte die Hände hinter dem Kopf. "Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht ein paar Tipps bezüglich meiner heutigen Bemühungen geben." Er drehte die Leinwand, sodass sie sie sehen konnte.
Langsam ging Delilah darauf zu. "Es ging eigentlich um eine eher realistische Reproduktion der Krüge. Gerade zum Anfang einer Künstlerkarriere ist es wichtig, zu versuchen, eine möglichst wirklichkeitsgetreue ."
"Ich glaube kaum, dass ich eine Karriere als Künstler anstreben werde", fiel er ihr ins Wort.
"Dann ist es für Sie also nur ein Hobby? Auch gut. Wenn Sie erst einmal etwas vertrauter im Umgang mit dem Bleistift sind, werden Sie feststellen, dass Zeichnen eine unglaublich entspannende Sache ist."
"Das tun Sie also, um sich zu entspannen?", fragte er.
"Hören Sie, ich muss jetzt wirklich hier aufräumen und ."
"Haben Sie heute keine Nachmittagsklasse?"
"Die Nachmittage sind grundsätzlich frei. Die meisten Passagiere halten sich dann gern an Deck auf."
"Und was tun Sie in der Zeit?"
"Ich? Nun, ich male . oder setze mich an den Pool und lese."
Sie errötete, und Daniel konnte gar nicht genug davon bekommen. Er bekam dergleichen nicht oft zu sehen. Die Frauen, mit denen er ausging, waren schon längst nicht mehr so leicht aus der Ruhe zu bringen.
"Warum gehen wir dann nicht wieder gemeinsam etwas trinken und eine Kleinigkeit essen?", schlug er vor. "Wie Sie sehen können, sind meine Fähigkeiten, was Kunst betrifft, eher bescheiden."
"Aller Anfang ist schwer. Und vergessen Sie nicht, dass Schönheit stets im Auge des Betrachters liegt."
"Wie lange werden Sie an Bord dieses Schiffes bleiben?"
"Wie bitte?"
"Sind Sie noch ." Er zog die zerknitterte Kreuzfahrt-Broschüre aus seiner Hosentasche hervor und drehte und wendete sie ein paar Mal, ehe er fand, wonach er suchte. "Die restliche Kreuzfahrt dauert vier Wochen - sind Sie also noch einen ganzen Monat an Bord?"
"Ich verstehe nicht, inwiefern das für den Kurs relevant sein soll, Mr. . ähm . Daniel."
"Wenn Sie den Kurs noch für den Rest der Kreuzfahrt betreuen, könnte ich eventuell länger als eine Woche an Bord bleiben."
Das war gelogen - aber etwas an ihr faszinierte ihn. Bei ihrem Anblick regte sich seine Libido, die er eigentlich für die Dauer der Schiffsreise hatte ruhen lassen wollen. Unwillkürlich fragte er sich, was sich wohl unter diesen weiten, unattraktiven Klamotten verbergen mochte.
Normalerweise mochte er große, volle Brüste, doch die hatte sie nicht, das war offensichtlich. Während er kleine und kurvige Frauen bevorzugte, war sie hochgewachsen und schlank. Blond und blauäugig war sein Typ, sie hingegen hatte kupferfarbenes Haar und braune Augen.
Vielleicht war es der Reiz des Unbekannten .
Nun, was auch immer der Grund für diese seltsame Anziehungskraft sein mochte, er ließ sich nur zu gern von der Strömung mitreißen. Immerhin war diese Frau hier auch in der Lage, ihm die Informationen zu geben, die er benötigte.
"Stehen Ihre Reisepläne denn noch nicht fest?" Es irritierte Delilah, dass ihr Herz bei der Aussicht, er könnte länger an Bord bleiben, heftiger zu klopfen begann.
"Ich versuche, mich nicht von langfristigen Plänen einschränken zu lassen", entgegnete er. "Ich nehme an, das haben wir gemeinsam."
Sie verzog das Gesicht. "Ich wünschte, das wäre so", sagte sie, ohne nachzudenken. "Leider könnten Sie kaum weiter von der Wahrheit entfernt liegen." Hastig wandte sie sich ab, als sie spürte, dass sie errötete - wie so oft in seiner Gegenwart. "Aber es wäre natürlich schön, wenn Sie noch ein wenig länger blieben. Ich bin sicher, dass aus Ihnen ein fähiger Künstler werden könnte, wenn Sie sich voll und ganz darauf konzentrieren."
Sie wusste, dass das Kreuzfahrtschiff tiefrote Zahlen schrieb. Jedes Crewmitglied wusste darüber Bescheid. Gerry und Christine hatten daraus keinen Hehl gemacht. Gleich am ersten Tag hatte eine Versammlung stattgefunden, bei dem das Eigner-Ehepaar sich dafür entschuldigte, keine höheren Löhne zahlen zu können. Gleichzeitig hatten die Ockleys darum gebeten, Passagiere davon zu überzeugen, ihre Kreuzfahrt zu verlängern. Jedes kleine bisschen konnte dabei helfen, sie noch ein wenig länger über Wasser zu halten - in mehr als einem Sinne.
"Ich gebe Ihnen an der Bar die Gelegenheit, mich zu überreden", schlug Daniel vor. Es war eine echte Herausforderung, sie zum Einlenken zu bewegen. "Es sei denn, natürlich, Sie empfinden meine Gesellschaft als unangenehm ."
"Natürlich nicht. Allerdings ."
"Ja?"
"Gestern habe ich mich nur mit Ihnen getroffen, weil Sie an Informationen über den Workshop interessiert waren." Delilah tat ihr Möglichstes, um Erinnerungen an die Katastrophe mit Michael heraufzubeschwören. Sie war immer noch dabei, sich von einem gebrochenen Herzen zu erholen. Es wäre vernünftiger, sich von Männern fernzuhalten.
"Und? Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Wir haben uns über den Workshop unterhalten, und nun möchte ich herausfinden, ob Sie mich für einen geeigneten Kandidaten halten, um daran teilzunehmen. Es liegt mir schließlich fern, Ihre wertvolle Zeit zu verschwenden. Warum also zögern Sie?"
"Nun gut, vielleicht einen schnellen Happen", willigte sie ein - für Gerry und Christine.
Daniel lächelte. "Schade, dass die Auswahl an Speisen so beschränkt ist", sagte er und stand langsam auf. "Und dass sie qualitativ minderwertig sind."
"Wie bitte?" Delilah war gerade dabei, sich die Hände zu waschen. Nun drehte sie sich um und runzelte die Stirn. "Was meinen Sie?"
"Nun, was ich bisher gekostet habe, war nicht unbedingt eine kulinarische Meisterleistung." Er ging zur Tür und...