PROLOG
Die letzte Jagd
Der Geruch trifft mich zuerst - so wie immer. Fünf Kilometer windabwärts grast ein Wapitibulle in der Nähe des Baches, völlig ahnungslos, dass der Tod ihn durch den Morgennebel verfolgt. Meine nackten Füße machen kein Geräusch auf dem Waldboden, während ich durch die dichte Wildnis Colorados laufe, jeder Muskel angespannt vor Raubtierlust.
Dafür lebe ich. Für die Jagd. Für die Verfolgung. Für den Moment, in dem die Zivilisation verschwindet und ich zu dem werde, wozu ich geboren wurde - ein Spitzenprädator, ungezähmt und frei.
Mein Wolf regt sich unter meiner Haut und will unbedingt losgelassen werden, aber ich zwinge ihn, sich zu beruhigen. Noch nicht. Die menschliche Seite muss noch etwas die Kontrolle behalten. Ich habe auf die harte Tour gelernt, dass es alles ruiniert, wenn man ihn zu früh die Zügel übernehmen lässt. Geduld. Strategie. So überlebt man, wenn man allein jagt.
Und ich bin immer allein.
Der Elch bewegt sich, sein gewaltiges Geweih fängt die ersten Sonnenstrahlen ein, die durch das Blätterdach der Kiefern fallen. Ein wunderschöner Kerl. Wenn ich es richtig mache, wird er mich wochenlang ernähren. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an frisches, noch lebendiges Fleisch denke. Nichts von dem verarbeiteten Mist aus der Stadt, der nach Pappe und Reue schmeckt.
Ich gehe tiefer und nutze umgestürzte Baumstämme und Unterholz als Deckung. Jede Bewegung ist wohlüberlegt. Jeder Atemzug kontrolliert. Nur dann wird mein Geist zur Ruhe kommen - wenn die Jagd alles andere in den Hintergrund drängt. Keine Albträume. Keine Erinnerungen an Dinge, die ich nicht ändern kann. Keine erdrückende Einsamkeit, die mir wie ein Schatten folgt.
Nur Raubtier und Beute.
Fünfzig Meter. Vierzig. Dreißig.
Der Kopf des Elchs schnellt hoch.
"Scheiße."
Aber er sieht mich nicht an. Seine Nasenflügel blähen sich, als würden sie die Luft nach etwas ganz anderem absuchen. Etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Noch ein Schalthebel.
Der Duft trifft mich wie ein Schlag - wild, maskulin und völlig fremd. Kiefer und Leder und etwas Dunkleres, Gefährlicheres. Er gehört nicht hierher. Nichts mit dieser Kraft sollte sich auch nur in die Nähe meines Territoriums begeben.
Mein Wolf dreht völlig durch.
Sie kratzt an meinem Inneren und verlangt, losgelassen zu werden, wegzulaufen, sich zu verstecken oder zu kämpfen - sie kann sich nicht entscheiden. Der innere Kampf bringt mich zum Stolpern, und ein Ast bricht unter meinem Gewicht. Der Elch stürmt los und kracht wie Donner durch das Unterholz.
Da ist das Frühstück. Und das Mittagessen. Und wahrscheinlich auch das Abendessen.
"Scheiße, Scheiße, Scheiße!" Die Worte brechen mir aus der Kehle, während Panik in mir hochsteigt. Ich drücke mich mit dem Rücken gegen den nächsten Baum und suche den Wald nach jeder Bewegung ab. Mein Herz hämmert so heftig gegen meine Rippen, dass es wahrscheinlich durch die ganze Bergkette hallt.
"Du bist die Letzte, Kaia. Die Allerletzte. Wenn sie dich finden ."
Die Stimme meines Vaters, rau vor Rauch und Verzweiflung, schneidet durch fünfzehn Jahre, als wäre es gestern gewesen. Ich kann immer noch das brennende Holz riechen, immer noch die Schreie meiner Mutter hören, immer noch seine Hände spüren, die mich zum Fenster drückten, als unsere Hütte in Flammen aufging.
"Lauf, kleiner Wolf. Lauf und schau nie zurück."
Die Erinnerung trifft mich so heftig, dass ich mich unabsichtlich verändere und meine menschliche Gestalt in einer Woge aus Hitze und Kraft zerfließe. Mein Wolf bricht los, mit silbernem Fell und wilden Instinkten, bereit zur Flucht, wie wir es seit über einem Jahrzehnt tun.
Doch dann ändert die Witterung ihre Richtung, entfernt sich von mir, und mein Wolf beruhigt sich ein wenig. Wer auch immer es ist, er jagt mich nicht. Zumindest nicht im Moment.
Ich rutsche zurück, meine Haut kribbelt in der kühlen Morgenluft. Meine Hände zittern, als ich die Klamotten anziehe, die ich hinter einem Felsbrocken versteckt hatte. Sport-BH, Cargohose, Stiefel, die für lautloses Laufen gemacht sind. Die Uniform von jemandem, der immer bereit ist zu rennen.
"Reiß dich zusammen, Kaia."
Ich zwinge mich zu atmen. Durch die Nase ein, durch den Mund aus. Zähle bis zehn. Zwanzig. Dreißig. Die Technik, die Dr. Phillips mir in den paar Monaten beigebracht hat, in denen ich in Denver eine Therapie ausprobiert habe. Bevor mir klar wurde, dass kein menschlicher Therapeut verstehen kann, wie es ist, der einzige Überlebende eines Massakers zu sein.
Der Wald um mich herum ist still geworden - diese unnatürliche Stille, die sich einstellt, wenn etwas Gefährliches vorbeikommt. Sogar die Vögel haben aufgehört zu singen. Was auch immer da draußen war, es war mächtig genug, ein ganzes Ökosystem zum Schweigen zu bringen.
Und es roch auf eine Art vertraut, die mir Angst macht.
Ich mache mich auf den Rückweg zu meiner Hütte. Schnell, aber vorsichtig. Alle paar Schritte halte ich inne, lausche, rieche die Luft und vergewissere mich, dass ich wirklich wieder allein bin. Nach fünfzehn Jahren Einsamkeit ist mir die Routine in Fleisch und Blut übergegangen. Vertraue nichts. Gehe davon aus, dass alles eine Bedrohung ist. Überleben geht immer vor.
Meine Hütte liegt auf einer Lichtung, etwa drei Kilometer vom Hauptwanderweg entfernt - nah genug an der Zivilisation, um mich bei Bedarf mit Vorräten zu versorgen, und weit genug entfernt, dass mich niemand stört. Ich habe sie selbst aus Altmaterialien und purer Sturheit gebaut. Sie ist nicht besonders schön, aber sie gehört mir. Das Einzige auf dieser Welt, das mir und nur mir gehört.
Ich halte an der Baumgrenze inne und suche nach Anzeichen einer Störung. Alles sieht normal aus. Solarzellen glänzen auf dem Dach. Der Garten wächst wild und frei. Der alte Toyota-Truck, den ich mit purer Willenskraft am Laufen halte, steht dort, wo ich ihn abgestellt habe.
Zuhause. Sicher.
Doch als ich die Lichtung überquere, regt sich mein Wolf erneut. Unruhig. Auf der Hut.
"Etwas stimmt nicht."
Ich kann nicht genau sagen, was. Alles sieht gleich aus. Es riecht gleich. Aber in der Luft liegt eine Energie, die nicht da war, als ich im Morgengrauen aufbrach. Als ob der Wald selbst den Atem anhält.
Ich hole meine Schlüssel aus der Tasche, schließe die Haustür auf und betrete die vertraute Dunkelheit meines Refugiums. Ein Raum dient als Küche, Wohnzimmer und Büro. Eine Leiter führt zum Schlafboden. Einfach. Funktional. Bei Bedarf leicht zu verlassen.
Denn es besteht immer die Möglichkeit, dass ich noch einmal laufen muss.
Ich nehme mir eine Flasche Wasser aus dem Minikühlschrank und trinke sie auf einmal zur Hälfte aus, um den anhaltenden Beigeschmack der Panik wegzuspülen. Mein Laptop steht aufgeklappt auf dem Küchentisch und zeigt das Portfolio meiner Tierfotografie, mit dem ich meine Rechnungen bezahle. Fernarbeit ist perfekt für jemanden, der es nicht erträgt, längere Zeit mit anderen Menschen zusammen zu sein.
Die Leute stellen zu viele Fragen. Sie möchten wissen, woher Sie kommen, wer Ihre Familie ist und warum Sie wie eine Art Einsiedler allein mitten im Nirgendwo leben.
Ich habe darauf keine guten Antworten.
"Konzentrier dich, Kaia. Du bist in Sicherheit. Wer auch immer da draußen war, ist weg."
Doch auch wenn ich versuche, mich selbst davon zu überzeugen, werde ich das Gefühl nicht los, dass sich gerade alles geändert hat. Dass das vorsichtige, isolierte Leben, das ich mir aufgebaut habe, mir bald um die Ohren fliegen wird.
Wieder.
Ich gehe zum Fenster und ziehe die schweren Vorhänge gerade so weit zurück, dass ich hinausschauen kann. Im zunehmenden Tageslicht wirkt der Wald friedlich. Die Vögel fangen wieder an zu singen. Ein Eichhörnchen huscht über meine Veranda und zwitschert etwas an, das ich nicht sehen kann.
Normal. Alles ist völlig normal.
Warum also rennt mein Wolf ständig unter meiner Haut auf und ab wie ein eingesperrtes Tier?
"Weil wir nicht mehr allein sind."
Der Gedanke kommt aus einer tiefen, ursprünglichen Welt, aus dem Teil von mir, der sich daran erinnert, wie es vor dem Feuer war, vor dem Rennen, vor der endlosen, erdrückenden Einsamkeit. Der Teil, der sich an die Rudelbindung und die Familienessen erinnert und an das Gefühl, irgendwo auf dieser Welt dazuzugehören.
Ich verdränge diesen Teil. Es ist gefährlich, so zu denken. Hoffnung ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann.
Ich bin der Letzte meiner Art. Der einzige Überlebende einer Blutlinie, die Tausende von Jahren zurückreicht. Und wenn ich am Leben bleiben will, muss ich mich verstecken.
Egal, wie sehr mein Wolf es sich anders wünschen würde.
Doch während ich mich in meine Morgenroutine einfinde - Kaffee, E-Mail, Bearbeiten der Fotos vom gestrigen Shooting -, kann ich mich der nagenden Gewissheit nicht entziehen, dass meine Tage des Versteckens gezählt sind.
Da kommt etwas auf mich zu.
Und ich habe keine Ahnung, ob ich stark genug bin, dem allein gegenüberzutreten.
KAPITEL 1
Der Duft des Waldbrands
Drei Tage. Drei verdammte Tage lang hing dieser Geruch auf meinem Grundstück herum wie Rauch, den ich nicht aus meinen Lungen spülen kann.
Ich klappe meinen Laptop fester zu als nötig. Die Tierfotos, die ich in den letzten vier Stunden bearbeitet habe, verschwimmen zu...