Schweitzer Fachinformationen
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Die Tür ging auf, die Sonne schien hinein, und Lieutenant Aaron Rauser schlenderte herein und stieß beinahe mit Charlie zusammen.
«Charlie, wie geht's?», fragte Rauser und hob eine Hand.
Charlie lachte laut auf und schlug Rausers Hand ein. «Muss arbeiten gehen, Mr. Mann. Hey, Keye kann kochen», meinte er und verschwand ohne weitere Erklärung.
«Oookay», sagte Rauser und fügte dann halb flüsternd hinzu: «Kaum zu glauben, dass er mal Biochemiker war oder so. Armer Kerl.»
«Ich habe gehört, er war Ingenieur, aber ich glaub's nicht», sagte Neil und spähte hinaus, um sich zu vergewissern, dass Charlie weg war. «Meiner Meinung nach ist er einfach zurückgeblieben.»
Rauser kicherte, und ich sagte: «Das ist unglaublich unsensibel, selbst für eure Verhältnisse.»
«Was soll's», meinte Neil und kehrte mit seinem Kaffeebecher an den Schreibtisch zurück.
Rauser ging in die Küche, wo es fast immer frischen Kaffee gab. Neil scheint von nichts anderem zu leben. Und manchmal, wenn er besonders großzügig ist, macht er Rauser und mir Cappuccino. Morgens bevorzugt er seinen Kaffee schwarz und stark, nachmittags im Winter trinkt er gerne einen Jamaican Blue und im Sommer kubanischen Eiskaffee mit Sahne und Zucker. Wenn meine Beine zu zittern anfangen, schenkt er mir keinen mehr ein.
Aber heute war Rauser nicht wegen des Kaffees gekommen. Er hatte etwas auf dem Herzen. Ich sah, wie er an seiner Unterlippe nagte, als er sich einen Becher einschenkte. Ohne Jackett, mit dem Schulterholster über einem schwarzen T-Shirt, unter dem sich sein Bizeps abzeichnete, und den grauen Hosen sah er nicht übel aus. Ich betrachtete ihn mit Wohlgefallen, solange er mich nicht anschaute. Rauser war kein glatter, aber ein ziemlich gutaussehender und männlicher Typ, der sich jeden Morgen bis zum Schlüsselbein hinunter rasieren musste. Eher Tommy Lee Jones als Richard Gere.
Als Rauser die übriggebliebenen Feigen entdeckte, sah er mich fragend an und aß sie dann alle auf. Die Lust auf Süßes war nur eine Eigenschaft, die wir teilten.
Er holte sich noch einen Kaffee aus der Küche, die im Grunde nur eine Ecke des umgebauten Lagerhauses war, eine Nische mit den nötigen Geräten, einer Spüle und roten Marmorplatten. In dem weiten, offenen Raum direkt dahinter waren große, bauschige Sitzelemente aus Leder strategisch angeordnet, dazu Lederwürfel in Rot, Lila und Minzgrün. Die Wände waren in einem hellen Salbeiton gestrichen, die längste und freistehende Wand war jedoch dunkelgrün und in der Mitte mit einer grellhellgrünen Linie verziert, einer Mischung aus Blitz und EKG-Kurve. Ich hatte die Gestaltung einer Innenarchitektin mit gutem Ruf anvertraut, eine fragwürdige Entscheidung, wie ich später dachte.
«Fehlt nur noch ein rosaroter Dinosaurier!», lautete meine erste Reaktion, als ich unser fertiges Loft zum ersten Mal sah. Die Innenarchitektin stand, eine Hand in die Hüfte gestemmt, vor ihren ehrfurchtsvoll aufgereihten Untergebenen und erklärte mir alles sehr ausführlich und mit zusammengebissenen Zähnen, so als wäre ich unfähig zu erkennen, wie modern und aufregend ihre Gestaltung war. Gut. Meinetwegen. Ich mag es modern und aufregend. Hey, ich hatte eine Menge Geld ausgegeben, um von ihr ins 21. Jahrhundert katapultiert zu werden, und, bei Gott, ich würde es zu schätzen wissen. Ein breiter Flachbildfernseher, der sich bei Bedarf aus seiner Halterung heruntersenkte, war mein Highlight. Er begeistert mich immer wieder. Neil, Rauser, ich, Diane und manchmal auch Charlie haben hier schon einige Abende verbracht und Spiele oder Filme geschaut. Oder Kicker gespielt an einem Tisch, den Neil extra bestellt hatte. Allerdings musste er dann jemanden zum Zusammenbauen engagieren. Wir waren uns bei dem Versuch zweimal in die Haare geraten, ehe uns klarwurde, dass uns schlicht das Werkzeug dazu fehlte. Das verfluchte Ding war in bestimmt fünfhundert Einzelteilen geliefert worden.
Rauser kam zu uns zurück, blies den Dampf von seinem Kaffee und beobachtete uns mit hochgezogenen Augenbrauen. Neil und ich alberten gerade herum, und das schien ihn zu ärgern.
«Ja», sagte er, laut genug, um uns zu unterbrechen. «Die intellektuelle Stimulation hier, genau deswegen komme ich so gerne her.»
«Warum bist du sonst hier?», fragte Neil grinsend.
«Um zu sehen, ob du genauso gut Schwanz lutschen kannst wie Kaffee kochen», entgegnete Rauser.
«Das hättest du wohl gern», meinte Neil, ohne Rauser anzuschauen. Er war auf seinen Bildschirm konzentriert, auf dem ein Durcheinander aus Buchstaben, Zahlen und Zeichen zu sehen war. Vielleicht hackte er sich gerade bei der CIA ein, jedenfalls hatte er das schon einmal getan und dabei das Wort Intelligence in ihrem Logo durch ein anderes ersetzt, das ihm besser gefiel.
Er drehte seinen Stuhl herum, verschränkte die Arme und musterte Rauser einen Moment. «Ich habe heute Morgen übrigens ein leichtes Halluzinogen in den Kaffee getan.»
Neil und Rauser schienen sich ständig in einer Art Wettstreit zu befinden. Da meine Anwesenheit das nur zu verschlimmern schien, drehte ich mich zu meinem Büro um, bevor die beiden aufeinander losgingen. Ich hatte Arbeit zu erledigen, aber Rauser war mir sofort auf den Fersen.
Er folgte mir in die linke hintere Ecke des Lagerhauses, die mein Büro ist. Es hat weder Wände noch sonst irgendwelche Abgrenzungen, hinter denen man seine Ruhe hätte. O nein, das wäre zu einfach gewesen. Stattdessen hatte die Innenarchitektin einen riesigen Drahtzaun aufstellen lassen. Er ist ungefähr drei Meter hoch und wird von dunkelblauem Licht angestrahlt, sodass man sich an Ostberlin zu Zeiten des Kalten Krieges erinnert fühlt. Wirklich etwas Besonderes und, das muss ich zugeben, auf eine abstruse Art schön.
Rauser knallte seinen alten Aktenkoffer auf meinen Schreibtisch, mühte sich kurz mit einem der Schnappschlösser ab und klappte ihn auf. Ich musste grinsen. Die unteren Ecken waren völlig abgewetzt und das Leder so ausgeblichen, dass man nicht mehr erkennen konnte, welche Farbe der Koffer ursprünglich gehabt hatte. Der Anblick amüsierte mich, er war typisch für Rauser. Die Polizei hatte ihm einen neuen Wagen angeboten, aber ihm gefiel sein alter Crown Vic. Rauser, hatte ich gesagt, der Wagen ist ein Oldtimer. Was denkst du dir dabei? Er hatte mit den Achseln gezuckt und etwas gebrummt wie dass er keine Lust hätte, das Handschuhfach und die Türfächer und überhaupt alle irgendwo hingestopften Notizen und Landkarten und Zeitungen und Zigaretten und Abfälle aufzuräumen.
Er zog einen Stapel Fotos aus dem Koffer und ließ ihn vor mir auf den Schreibtisch fallen. Ohne Vorwarnung wurden mir Tatortfotografien vorgeknallt. Der Tod auf meinem Schreibtisch. Mein Lächeln und meine gute Laune verblassten schnell.
«Eine Hausfrau», sagte Rauser, als ich ein Foto in die Hand nahm und die Luft durch die Zähne einsog. «Eine ganz normale Frau. Weißt du, was ich meine?» Er setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl. Mir wurde plötzlich flau im Magen.
Ich drehte das erste Foto um und las die Daten. Lei Koto, Asiatin, dreiunddreißig Jahre alt. Auf dem Bauch in einer Blutlache in einer Küche liegend. In der oberen rechten Ecke konnte man den Rand eines Herds erkennen. Ihre Beine waren gespreizt, Hintern und Oberschenkel nackt und blutig, es gab eine Menge Stich- und Bisswunden. So wie sie dalag, sah sie furchtbar klein und allein aus, dachte ich. Und mir kam einmal mehr in den Sinn, was für eine einsame Sache der Tod ist und wie krass, unwirklich, entstellend und gleichzeitig verräterisch Fotografien vom Ort einer Gewalttat sind. Schon auf den ersten Blick, noch bevor man Einzelheiten erfährt, erkennt man an den Farben, den durch die grellen Scheinwerfer der Spurensicherung hervorgehobenen Furchen und Schwellungen, am Blut und dem verfilzten Haar und der unnatürlichen Körperhaltung, dass es sich um eine Mordszene handelt. Solche Bilder vergisst man nie.
«Wer hat sie gefunden?», fragte ich.
«Ihr zehnjähriger Sohn», antwortete Rauser. Ich schaute von den Fotos auf. «Tim», fügte er hinzu.
Das wird ihn prägen, dachte ich, seine Sichtweise auf die Welt ändern. Seinen Blick auf einen Fremden, einen Blutfleck, ein leeres Haus. Es wird diesen kleinen Jungen genauso verändern, wie es mich verändert hat. In gewisser Weise sind wir alle verunstaltet durch den scheußlichen Schmerz, den ein Mord auslöst. Ich wollte nicht über dieses Kind nachdenken oder darüber, was es empfand oder empfinden würde. Wenn man sich damit auseinandersetzt, lässt man die Finsternis in sein Leben sickern. Und obwohl mir das bewusst war, litt ich mit dem Jungen, ein Teil von mir wollte ihm helfen, ihn vor den Albträumen bewahren, vor dem Herumgeschobenwerden, das kommen würde. Denn im Grunde weiß niemand, was man mit einem Kind anfangen soll, das durch ein Gewaltverbrechen heimatlos geworden ist. Nehmen Verwandte ihn auf? Die Polizei wird die Frage laut stellen, gedankenlos und in bester Absicht. Die Erwachsenen werden hinter seinem Rücken tuscheln und sich Sorgen machen und ihm bekümmerte Blicke zuwerfen und damit seine Furcht nur vergrößern. Ein Fremder vom Jugendamt wird bei ihm sitzen, während nach den nächsten Angehörigen gesucht wird. Doch keine Beruhigung, keine Freundlichkeit kann den Riss in seinem Leben heilen. Das wird Jahre brauchen.
Die Fotos zitterten in meinen Händen.
«Warum zeigst du mir die?»
Er reichte mir einen Brief, der an Lieutenant Rauser/Morddezernat adressiert und ordentlich getippt war, aber keine Unterschrift aufwies. Ich blickte einen Moment lang darauf, ehe ich zu lesen begann. Rauser...
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