Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Biruté Galdikas im Dschungel Borneos
Nur Überfliegen reicht nicht.
Zurück bleiben die Industrien von Balikpapan, die Werften der großen Ölstadt an der Ostküste, die Rauchfahnen über den Schloten, die im tropischen Dunst rasch rostenden Installationen der Raffinerien.
Die Straßen enden in Flüssen, und die Flüsse wieder in Flüssen. Sie bestimmen das unregelmäßige Muster aus den Reststücken eines sechzig Millionen Jahre alten Urwalds und den frei gerodeten Flächen, auf denen die neuen Siedler ihre bunt gestrichenen Baracken abgestellt haben. Abseits erkennt man noch die Haufendörfer der Alteingesessenen, vereinzelt ein paar traditionelle Langhäuser, und über allem lasten die Rauchwolken schwelender und offener Feuer.
Früher drangen holländische Kolonialbeamte, philippinische Seeräuber und Missionare, chinesische und malaysische Kaufleute von den Flussmündungen aus in dieses Dickicht, den zweitgrößten Dschungel der Welt. Heute kommen selten Weiße nach Zentralkalimantan oder Borneo, aber im Hafen der südlichen Metropole Banjarmasin und auf dem Flughafen von Palangkaraya, der Hauptstadt von Zentralkalimantan, landen Javanesen, Balinesen, Maduresen in Klein- und Großfamilien, Tausende jeden Monat.
Schon seit Jahrhunderten ballt sich die Bevölkerung Indonesiens auf Java, der Insel mit dem fruchtbarsten Boden und folgerichtig mit der dichtesten Besiedlung der Welt. Zwei Drittel aller Indonesier leben auf Java, der vorgelagerten Insel Madura und der benachbarten Insel Bali. Die Bevölkerungsdichte auf der größten dieser drei Inseln ist mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland.
Schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts begannen die holländischen Kolonialherren mit der Umsiedlung der Javanesen auf die wildere Insel Sumatra. Etwa zweihunderttausend Menschen hatten bis zum Zweiten Weltkrieg Java verlassen. Bis heute sind es, glaubt man der indonesischen Regierung, etwa vier Millionen Menschen, die im Zuge des größten Umsiedlungsprojekts der Welt, der so genannten »Transmigration«, Java verlassen haben. Vor allem im Dschungel von Kalimantan, dem indonesischen Teil der Insel Borneo, sollen sie eine neue Existenz finden.
Die Ankömmlinge auf den dortigen Flughäfen tragen noch die Trachten ihrer Kultur: Verschleierungen, mit gestickten Borten besetzte Tücher die wohlhabenden Javanesen, Verwaltungsbeamte, Mediziner oder Juristen, Sarongs die Balinesen, auch Shorts, auch Batikhemden und T-Shirts. Die hier auf dem Flughafen stehen, strapaziert und voll müder Erwartung, können sich untereinander kaum verständigen. Das Indonesische ist eine spät entwickelte synthetische Amtssprache, die gut zweihundertfünfzig regionale Sprachen und ebenso viele Dialekte ersetzen soll.
Die Ankömmlinge teilen die Erwartung, sonst nichts, und statt einer geeigneten Vorbereitung erhalten sie ein Versprechen. Das alles sollt Ihr haben: ein Haus, Land, Saatgut und ein Präsidentenfoto. Darüber hinaus erhalten sie noch ein wenig Unterricht in Ackerbau und in Hygiene. Aber das kennen sie: Schließlich hat auch auf Java jeder größere Ort ein Familienplanungsdenkmal, Sinnbild der glücklichen Kleinfamilie, und auf den Dörfern gibt es wenigstens das entsprechende Verkehrsschild: Eine Hand mit zwei gereckten Fingern, »dua anak cukup«, »zwei Kinder sind genug!«
Im Waschraum des Flughafens erläutert eine Zeichnung die Benutzung der westlichen Toilette: Hocke Dich nicht mit den Füßen auf den Rand, schöpfe kein Wasser aus dem Loch und stecke auch deinen Kopf nicht hinein! Neben dem Spiegel die Regeln der Körperhygiene: Vergiss auch die Ohren nicht, nicht die Nase und nicht einmal die Spitzen Deiner Ellenbogen! An den Wänden der Halle bleichen die Tafeln mit Tieren und Pflanzen des Waldes, daneben die altmodisch strahlenden Gesichter der Lifebuoy-Reklamen, die monochromen Werbungen für ABC-Drinks und Ultra Milk. Andere Bilder sieht man nicht.
Die Dörfer aber, in denen die Ankömmlinge verschwinden werden, besitzen manchmal ein Fernsehgerät auf einem hölzernen Podest, vor dem man abends dem einzigen Programm folgt: Nachrichten, Bilder von Paraden, Ordensverleihungen und rituelle Tänze. Mal rodet jemand ein Gebüsch, mal zieht er eine Fahne hoch oder macht ein Boot klar, und zwischendurch erklärt Lorne Greene, immer noch in der weiß wattierten »Pa-Bonanza«-Jacke, den Seefuchs oder andere Tiere, die es auf Borneo nicht gibt, wo so viele Arten verbreitet oder sogar endemisch sind. Aber schließlich lebt ja selbst Lorne Green inzwischen nicht mehr.
Die Fernsehwerbung wurde von der Regierung hier schon vor Jahren abgeschafft, um »keine falschen Bedürfnisse« zu wecken. In den Läden ihrer Dörfer finden die Siedler vor allem Früchte, Hühner- und grüne Gänseeier, Dörrfisch, Gewürztütchen, in den Vitrinen das prachtvolle Rot-Gold der Nelkenzigaretten und an den Wänden einzelne Kalenderblätter mit Ansichten von Teneriffa oder Garmisch-Partenkirchen.
In Palangkaraya aber, der erst 1957 gegründeten Hauptstadt, kann man fotokopieren, Fotos entwickeln lassen und technische Apparate kaufen. Hier gibt es vier Kinos, aber Straßenbeleuchtung noch nicht lange. Es gibt ein großes Krankenhaus, aber nur einen Chirurgen für alle, die tagelang in ihren Einbäumen wegen einer Blinddarmoperation oder der Behandlung einer Schnittverletzung hierher unterwegs sind. Es gibt Banken, aber keine, die Schecks oder Dollar akzeptiert. Es gibt Computerspezialisten und korrespondierende Mitglieder wissenschaftlicher Zeitschriften, aber nicht selten solche, deren Glaubenspraxis Animismen, rituelle Schlachtungen und Trance-Tänze einschließt.
Der letzte Gouverneur der Region, immerhin im Rang eines Ministerpräsidenten, verfügte testamentarisch, sein Sarg solle aus dem Holz eines so genannten »Herzbaums« gefertigt werden, eines Baums also, bei dessen Pflanzung in der Wurzel ein menschliches Herz eingesetzt wurde. Die Einheimischen merken sich im Urwald solche Bäume, und es war, als ich nach Palangkaraya kam, kaum ein Jahr her, dass der Bitte des großen Staatsmannes entsprochen worden war.
Auch Anthropophagen, also kannibalistische Stämme mit der Neigung, zum Schutz gegen Dämonen einen menschlichen Skalp an der Außenwand des Hauses anzubringen, soll es bis vor nicht allzu langer Zeit auf Borneo gegeben haben. Der letzte glaubwürdig rapportierte Fall aber stammt aus den fünfziger Jahren.
Eine Anthropologin, die sich jüngst aus keinem anderen Grund in den Urwald aufgemacht hatte, um die Spur dieser »Menschenfresser« aufzunehmen, wurde eines Abends bei vollem Bewusstsein, allerdings nackt, in der Hütte eines Einheimischen gefunden, wo sie sich, völlig verängstigt, in eine Gardine eingerollt hatte. Sie blieb verwirrt. Von Kannibalen konnte sie nicht berichten.
Seit die Regierung die Lebensform der Dayaks für »unzeitgemäß« erklärt hat, sind auch die Kopfjäger von der Bildfläche verschwunden. Zwar haben viele Einheimische bis in die siebziger Jahre hinein die Friedhöfe geheim gehalten, aus Angst, Jäger könnten die Verblichenen ausgraben und ihre Schädel davontragen, in jüngerer Zeit aber soll man sich schon verschiedentlich mit Tierschädeln geholfen haben, immer in der Hoffnung, dass die schlafenden Geister den Betrug nicht merken. Schädel jedenfalls, unter den vier Grundpfosten eines Hauses angebracht, sollen bei der Brautwahl helfen und die Geister repräsentieren, die dem Verstorbenen in der Oberwelt zu Diensten stehen.
Auch ein Schweizer Geistlicher war vor einiger Zeit ausgezogen, Asien im Allgemeinen und Borneo im Besonderen dem richtigen Glauben zu unterwerfen. Nachdem er zu Hause die chinesische Sprache gut genug gelernt hatte, um - wie er glaubte - in ihr radebrechen zu können, bestieg er irgendwo auf dem weiten chinesischen Lande eine improvisierte Kanzel und predigte in einem Idiom, in dem das Schweizerdeutsche mit dem Chinesischen eine Mesalliance eingegangen war. Jedenfalls predigte er etwa eineinhalb Stunden und schritt nach dem Segen erhobenen Hauptes von dannen, bis ein paar Zuhörer, die geduldig angenommen hatten, er erzähle aus seinem eigenen Leben, hinter ihm hergelaufen kamen und riefen: »Herr Jesus, du hast deinen Hut vergessen!«
Anschließend war er enttäuscht ausgezogen, um nun die Buschmenschen Borneos zu evangelisieren. Unglücklicherweise verirrte er sich im Dschungel, erreichte nach Tagen ausgezehrt und bärtig den Fluss und winkte hilferufend den vorbeitreibenden Booten. Die Einheimischen hielten ihn, verwahrlost wie er war, von weißer Haut und in der schwarzen Soutane, für ein Gespenst, wagten nicht, sich ihm zu nähern, und der liebe Gott ließ ihn bei einem Gesträuch am Ufer endlich verhungern.
Der Urwald Borneos brennt in jedem Augenblick an vielen Stellen. Schwer hängen die Schwaden zwischen den Bergen oder gelbgrau über Joseph Conrads melancholischen Flüssen. Manchmal können die kleineren Verkehrsmaschinen wegen des Rauchs über mehrere Wochen nicht fliegen. Aber wer schon vier Tage lang mit dem Boot zum Flughafen unterwegs war, der kehrt nicht gleich um, sondern campiert lieber an Ort und Stelle.
Die Siedler brennen die Gebüsche gleich neben ihrer Hütte ebenso nieder wie hektargroße Parzellen zu Seiten ihrer Felder. Heute gilt: Alles, was die Anwohner eigenhändig gerodet haben, gehört ihnen selbst, und wer beobachtet hat, wie viele Tage es braucht, mit einer Steinaxt einen hundertjährigen Urwaldriesen zu fällen, der versteht die Dankbarkeit, mit der die neuen, noch unerfahrenen Siedler in die Schneisen der Abholzungsfirmen eindringen, um dort durch Brandrodung Land zu gewinnen. Sie fühlen sich durch die hohe Luftfeuchtigkeit vor Funkenflug, durch den sumpfigen Boden vor einer Ausbreitung der Brände...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.